FRONTPAGE

«Warsan Shire: Haus Feuer Körper. Bless the Daughter Raised By a Voice in Her Head».

Von Ingrid Isermann

 

Die somalisch-britische Dichterin Warsan Shire ist im englischsprachigen Raum bereits ein Star, seit ihre Texte von Beyoncé auf ihrem Album «Lemonade» und in der «New York Times» zitiert wurden. Ihre Gedichte fanden weltweit Millionen von Leserinnen und Lesern. Nun ist der fulminante Gedichtband «Haus Feuer Körper» englisch-deutsch erschienen.

 

Die Gedichte von Warsan Shire in ihrem Gedichtband «Haus Feuer Körper» überraschen mit einer lyrischen präzisen Beobachtungsgabe, die sensitiv und ausdrucksstark die Abgründe unserer Welt erkunden. Sie erzählen von Vertreibung, Gewalt und Diskriminierung. Der eigene Körper wird zum Instrument einer sinnlichen, poetisch direkten Sprache, die in ihrer Schönheit und seltener Eindringlichkeit unter die Haut geht.

 

Warsan Shire ist eine neue Generation junger Lyrikerinnen und Lyriker, die durch die Veröffentlichung ihrer Gedichte im Internet bekannt wurden. Nachdem sie mit 15 Jahren an ihrem ersten Lyrik-Workshop teilgenommen hatte, wurde man auf sie aufmerksam und Shire von Schriftstellerinnen wie Bernadine Evaristo gefördert und begleitet.

Nii-Ayikwei Parkes, der Gründer und Herausgeber des unabhängigen Verlags flipped eye publishing, veröffentlichte ihr erstes Chapbook «Teaching My Mother How to Give Birth», als Shire gerade mal 23 Jahre alt war.

2013 wurde sie zum ersten Young Poet Laureate for London und erhielt in England den African Poetry Prize der Brunel-University. 2017 sprach Beyoncé für ihr visualisiertes Album «Lemonade» Verse von Shire zwischen den Songs ein, die sie schlagartig bekannt machten.

 

Eine furiose Melodie für den Schmerz

In ihren Gedichten stehen die Kämpfe, Sehnsüchte und Lebensumstände der Menschen im Mittelpunkt, deren Perspektiven und Zuhause zerstört wurden und die auf der Flucht sind, um sich mühsam eine neue Existenz aufzubauen.

In einem Aufruf zur Solidarität mit den Menschen, die vor dem Krieg in Syrien flüchteten, zitierte der britische Schauspieler Benedict Cumberbatch die Verse von Warsan Shire:

«Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn Zuhause ist das Maul eines Haifischs».

Das Zitat ist auch gegenwärtig höchst aktuell, denkt man an den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.

 

Von Somalia nach London ins Exil

Warsan Shire wurde 1988 in Kenia geboren, als Tochter somalischer Eltern, die vor politischen Repressionen in Somalia geflohen waren. Die Familie liess sich 1989 in London nieder und bekam noch ein Kind, einen Sohn. Kurz darauf brach in Somalia der Bürgerkrieg aus und innert vier Monaten wurden in der Hauptstadt Mogadischu etwa 25 000 Menschen getötet, mehr als zwei Millionen wurden obdachlos und weitere anderthalb Millionen verliessen Somalia, darunter ein Grossteil von Shires Familie.

Viele ihrer Texte beruhen auf den Erfahrungen ihrer Verwandtschaft. Sie schildert in knappen Sätzen erschütternde Ereignisse der nicht allzu fernen Vergangenheit, es geht um Folter, Vergewaltigung, um sexuelle Gewalt und Kindesmissbrauch.

 

Ihre Mutter kommt in mehreren Gedichten vor, ihre Gedichte sind eine Annäherung, ein Versuch trotz aller Widrigkeiten die eigene Mutter zu verstehen. Shire schreibt über spezifische weibliche Erfahrungen, da sie früh die Verantwortung für ihre Geschwister übernehmen musste. Nach der Scheidung ihrer Eltern und einer zweijährigen Phase der Obdachlosigkeit, in der Shire und ihr Bruder eine Zeitlang aufhörten, die Schule zu besuchen, heiratete ihre Mutter erneut und bekam drei weitere Kinder.

 

Shire erwähnte, dass ihre Mutter sich auf sie als «shift mother» (Schichtmutter) verlassen habe. Sie zog ihre Geschwister auf, kümmerte sich um die traumatisierten Familienmitglieder, die dem Krieg in Somalia entkommen waren, besuchte die Schule und schrieb nebenbei Gedichte: «Wenn ich schreiben wollte, musste ich inmitten von drei schreienden Kindern schreiben, inmitten von Kochen, Putzen und Aufgaben für die Schule».

Ihre Sprachbilder von einer zarten atemberaubenden poetischen Kraft verleihen dem Unaussprechlichen eine authentische Stimme.

 

«Gedichte so unmittelbar, so eindringlich, als sässe eine Schwester neben mir».
Sharon Dodua Otoo
 
 
Anpassung
 
Wir packten unsere Koffer nie ganz aus,
träumten in der falschen Sprache,
trugen die Ängste unserer Mütter in unseren Füssen –
wenn er seine Stimme erhebt, fliehen wir
   wenn er gelangweilt aussieht, packen wir unsere Taschen
unfähig, die Erfahrung der Flucht aus unseren Herzen zu
verbannen, unfähig, nachts durchzuschlafen.
 
Das Herz der Geflüchteten hat sechs Kammern.
In der ersten befindet sich der ungepepackte Koffer deiner Mutter.
In der zweiten schluchzt dein Vater in seine Hände.
Der dritte Raum ist eine Einwanderungsbehörde,
deine abgetrennten Beine befinden sich in der vierten,
in der fünften, eine Gebärmutter – deine?
Die sechste öffnet sich mit den richtigen Papieren.
 
Ich kriege die Flucht nicht aus meinem Körper,
ich versperre meinen Körper immer, wenn ich kann.
Wie viele Tabletten braucht es, um einzuschlafen?
Und wie viele, um bei den Toten zu sein?
 
Um das Herz der Geflüchteten bildet sich oft
eine äussere Schicht. Eine Anpassung.
Sie umhüllt das Organ. Wer diese Extrahaut nicht bilden kann,
stirbt innerhalb der ersten sechs Monate im Aufnahmeland.
 
Grenzübergang für Grenzübergang werden Geflüchtete gefragt.
bist du Mensch?

 

Flüchtling ist sich sicher, noch Mensch zu sein, doch fürchtet,
die Klassifikation könnte über Nacht, während es schlief,
geändert haben.

 

 
Extreme Mädchenzeit

 

Ein Kreislauf, ein Mädchen geboren,
in jede Familie,
Vorspiel des Leidens.

 

Segne das kleine Mädchen,
Fruchthülle des Unmuts,
Schutzpatronin des
Niemals-Genug.

 

Bist du da, Gott?
Ich bin’s, Warsan.
Tagträume, fehlangepasst,
obsessiv, dissoziativ.

 

Geboren zu einem Wiegenlied,
einem Klagelied über das Melanin,
die Ohren des Neugeborenen auf erste Anzeichen
des Hauttons geprüft.

 

At first I was afraid, I was petrified.

 

Jeden Abend liest das Kind Suren,
um es vor Il zu verbergen,
um Körper und Heim
vor Eindringlingen zu schützen.

 

Erschrocken wacht sie auf,
jemand durchtrennt die Schnur,
etwas kriecht
tief in sie hinein.

 

Bist du da, Gott?
Ich bin’s, die Hässliche.

 

Gesegnet sei das Kind mit Haartyp 4,
die Kopfhaut mit der Milch
der Grausamkeit massiert, der Schädel verflucht,
eingequetscht zwischen Erwachsenenknien,
getränkt in Pink Lotion.

 

Alles, was du mir angetan hast,
erinnere ich.

 

Mama, ich habe es lebend
aus deinem Haus
geschafft, grossgezogen
von den Stimmen
in meinem Kopf.

 

(Übersetzung Mirjam Nuenning)

 

 

Mein Vater, der Astronaut

 

Wenn Europa der Mond war, dann war mein Vater ein Astronaut,
   der auf dem Weg zum Mond starb.
Mein Vater, der gescheiterte Mondtänzer, geblendet vom Weltall.
   Mein Vater, der Schwarze Kosmonaut, wahnsinnig
vor Durst. Mein Vater, der die Stimme Gottes hörte, so klar, wie den
   Ruf zum Gebet, schwebend in dieser dunklen Wüste.
Mein Vater, dessen Raumanzug von Sehnsucht aufgeschlitzt wurde,
   schleuderte der gewaltigen Leere entgegen.
In einer Nacht, wenn die Engel ihre Flügel zurückgefahren haben,
   könntest du einen Blick auf meinen Vater erhaschen,
wie er durch den Weltraum wirbelt, sein Körper getragen von der
  ausgesetzten Schwerkraft, Blut sammelt sich in seinem Kopf,
seine Tränen pinke, gallertartige Gerinnsel, die nicht fallen wollen.

 

(Übersetzung Mirjam Nuenning)

 

 

Zuhause
 

I

Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn Zuhause ist das Maul eines Haifischs. Du rennst nur Richtung Grenze, wenn du die ganze Stadt rennen siehst. Der Junge mit dem du zur Schule gingst, der dich hinter der alten Dosenfabrik schwindelig geküsst hat, hält ein Gewehr in der Hand, das grösser ist als er selbst. Du verlässt dein Zuhause nur, wenn Zuhause dich nicht bleiben lässt.
 
Niemand würde sein Zuhause verlassen, es sei denn Zuhause jagt dich davon. Du hast nie daran gedacht, es zu tun, als du es dennoch tust, trägst du die Hymne in deinen Atemzügen, und wartest bis zur Flughafentoilette, um den Pass zu zerreissen und hinunter zu schlucken, und jeder traurige Bissen macht dir bewusst, dass du nicht zurückkehren wirst.
 
Niemand setzt seine Kinder in ein Boot, es sei denn das Wasser ist sicherer als das Land. Niemand würde freiwillig Tage und Nächte im Bauch eines Lastwagens verbringen, es sei denn die zurückgelegten Meilen bedeuten mehr als nur eine Reise.
 
Niemand würde freiwillig unter Zäunen hindurchkriechen, geprügelt, bis dein Schatten dich verlässt vergewaltigt, vom Boot gezwungen, weil du dunkler bist, ertränkt, verkauft, verhungert, an der Grenze erschossen wie ein krankes Tier, bemitleidet. Niemand würde freiweillig ein Geflüchtetenlager zum Zuhause machen, nicht für ein Jahr oder zwei oder zehn, entblösst und durchsucht, die Welt überall ein Gefängnis. Und falls du überleben solltest, würdest du auf der anderen Seite begrüsst werden mit – Geht dorthin zurück, wo ihr herkommt, ihr Schwarzen, ihr dreckigen Flüchtlinge, ihr saugt unser Land aus, dunkel, mit ausgestreckten Händen, seltsam riechend, primitiv, schauen Sie sich doch an, was sie mit ihren eigenen Ländern gemacht haben, was werden sie dann erst mit unseren tun?
 
Es ist leichter, die Beleidigungen zu schlucken, als den Körper deines Kindes unter dem Schutt zu finden.

 

Ich möchte zurück nach Hause, doch Zuhause ist das Maul eines Haifischs. Zuhause ist der Lauf eines Gewehres. Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn Zuhause jagt dich an die Küste. Niemand verlässt sein Zuhause bis Zuhause eine Stimme in deinem Ohr ist, die sagt – geh, renn, jetzt. Ich weiss nicht, was aus mir geworden ist.
II
Ich weiss nicht, wohin ich gehe. Wo ich herkomme, verschwindet. Ich bin nicht vollkommen. Meine Schönheit ist hier keine. Schönheit. Mein Körper brennt vor Scham, nicht dazuzugehören, mein Körper sehnt sich. Ich bin die Sünde der Erinnerung und die Abwesenheit von Erinnerung. Ich schaue die Nachrichten und mein Mund wird ein Waschbecken von Blut. Die Warteschlangen, Formulare, Menschen hinter Schreibtischen, Telefonkarten, Einwanderungsbeamten, die Blicke auf den Strassen, die Kälte, die sich tief in meinen Knochen festsetzt, die Englischkurse am Abend, die Entfernung von zu Hause. Alhamdulillah, all das ist besser als der Geruch einer lodernd brennenden Frau, einer Wagenladung voller Männer, die wie mein Vater aussehen – und mir die Zähne und Nägel ausreissen. All diese Männer zwischen meinen Beinen, ein Gewehr, ein Versprechen, eine Lüge, sein Name, seine Flagge, seine Sprache, sein Geschlecht in meinem Mund.
 
(Übersetzung Mirjam Nuenning)
Muna AnNisa ist Sozialwissenschaftlerin und Autorin des 2020 erschienenen Romans «Die Haut meiner Seele».
 
Mirjam Nuenning ist Spezialistin für die Übersetzung afrodiasporischer Literatur und übertrug neben Sharon Dodua Otoo Bücher von Octavia Butler und Audre Lorde.
 
Hans-Jürgen Balmes ist Lektor und Mitherausgeber der «Neuen Rundschau», in der 2017 Gedichte von Warsan Shire erschienen.
 

 

 

Warsan Shire
Haus Feuer Körper
Bless the Daughter Raisend by a Voice in Her Head
Gedichte
S. Fischer Verlag, 2022
Zweisprachige Ausgabe Englisch-Deutsch
Aus dem Englischen von Muna AnNisa Aikins,
Mirjam Nuenning und Hans-Jürgen Balmes
Mit einem Nachwort von Sharon Dodua Otoo
Geb., 153 S., CHF 34.90
ISBN 978-3-10-397106-4

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