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Lyrik: Am Steilhang mit Rolf Hermann»

Von Ingrid Isemann

 

Lyrik zu schreiben ist die eine Sache, sie zu vermitteln, eine andere. Und gerade das gelingt Rolf Hermann an seinen Lesungen – von daheim, seiner Heimat, dem eher unzugänglichen Wallis erzählt er, skurrile Steilvorlagen, die seinem Gedichtband «Das Leben ist ein Steilhang» die Würze geben. Eine köstliche, kuriose und kurzweilige Lektüre.

Von allen Dialekten in der mundartreichen Schweiz ist wohl das ‚Walliserdeutsch‘ der unbekannteste, im Gegensatz zur gut dotierten Berner Dialektszene. Im Gedächtnis blieb es mir nach einer Lesung von Rolf Hermann am Aargauer Literaturhaus-Lyrik-Festival «Neon-Fische» (2015). Natürlich liest er an einer gemeinsamen Lesung unter anderem auch ein Gedicht auf «Wallisärtiitsch». Man spitzt die Ohren, um den Text verstehen zu können und es ist vor allem die Sprachmelodie, die fesselt. Auch an den Solothurner Literaturtagen 2019, wo Hermann aus seinem ersten Prosaband «Flüchtiges Zuhause» liest, springt sogleich der Funke zum Publikum über.
Seine Protagonisten, knorrige, bodenständige Typen, von denen die Texte im Band «Das Leben ist ein Steilhang» handeln, konstatieren mit stoischer Gelassenheit, was alles an den steilen Felshängen der Walliser Täler passiert und geschehen kann; die Geschichten über ein enges Tal, seine eigene Familie, eine Sippe, die vor 200 Jahren ihr Brot in diesem Tal hart verdienen musste, faszinieren. Rolf Hermanns Urahne, zugezogen aus dem «Üsserwallis», versuchte sich als Fremder zu integrieren. Fünfzig Jahre lang bat er vergeblich um die Einbürgerung, die er erst mit 72 Jahren erhielt, da man annahm, er würde es wohl nicht mehr lange machen. Doch neun Monate später gab es einen Nachfahren in einem langen Fächer einer Sippe, die Rolf Hermann zum Einheimischen machte.

 

Rolf Hermanns Texte drehen sich ums Fremdsein, um sein Zuhause, um schrullige Alte, die mit träfen Texten humorvoll, amüsant und liebevoll, mit profundem Berg-Hintergrund, gezeichnet werden, eben am Steilhang. Eine Herausforderung sind sie schon, diese in Walliser Dialekt geschriebenen Texte, eine Sprache, von der man kaum ein Wort versteht, wenn sich zwei Einheimische unterhalten. Soll man sich das antun? Sure, denn es ist ein besonderer Sound, eine Art Musik, der urige Walliser Groove:

 

 

Ä bsundri Gaab
Där Maa va miinär Groostanta, där Schüül, isch mit du Jaaru immär gliichgültigär cho. Am Ässtisch zum Biischpil hätt är schich jädäd Maal hinnär därä grppssu Zitig värschanzt und alläs schtillschwiigund gässu, waa mu miini Groosstanta vorgsäzzt hätt. Äsoo cha das nit wiitärgaa, hätt miini Groosstanta gideicht und dum Schüül nummu no Chazzufüettär üffgitischt. Abär nit ämaal das hätt där Schüül gmärkt. Är hätt eifach wiitärgässu, und zwar äsoo lang, bis miini Groosstanata iru Schüül niimä va irär Chazz hätt chännu unnärscheidu. Und will miini Groosstanta schoo immär di bsundri GAab hätt ka, übärall nummu ds Güeta z gsee, hätt schi schich vor allum gfreibt, dass schi jäzz äsoo nä blizzgschiidi Chazz hätt.

 

Eine besondere Gabe
Jules, der Mann meiner Grosstante, wurde mit den Jahren immer gleichgültiger. Am Esstisch zum Beispiel verschanzte er sich jedes Mal hinter einer grossen Zeitung und ass stillschweigend alles, was ihm meine Grosstante vorsetzte. So kann das nicht weitergehen, , dachte meine Grosstante und tischte Jules nur noch Katzenfutter auf. Aber auch das merkte Jules nicht. Er ass einfach weiter, und zwar so lange, bis meine Grosstante ihren Jules nicht mehr von ihrer Katze unterscheiden konnte. Und weil meine Grosstante schon immer die Gabe hatte, überall nur das Gute zu sehen, freute sie sich vor allem darüber, dass sie jetzt eine so blitzgescheite Katze hatte.

 

In seinem Spoken-Script-Band versammelt Rolf Hermann neben pointenreichen Kürzestgeschichten auch neu definierte Liebesgedichte der verschiedensten Kategorien, auf katholische, psychohygienische, metamorphosische, meteorologische, biologische, utopische, pharmazeutische und  gynäkologische Art. Und er spart auch nicht mit einem Liebesgedicht als Zugabe.

Hommagen an Ernst Eggimann und Ernst Jandl stehen neben einer Reihe von Familienporträts, die abstruser kaum sein könnten. Mit schelmischem Humor widmet sich Rolf Hermann dem alltäglichen Wahnsinn. Die sprachlichen Steilhänge in diesem Band können gleich zweimal erklommen werden: uff Wallisärtiitsch und auf Hochdeutsch.

 

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo «Die Gebirgspoeten». Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, u.a. mit dem Literaturpreis des Kantons Bern (2015), Kulturpreis der Stadt Biel (2017).

 

 

Rolf Hermann
Das Leben ist ein Steilhang
Sprechtexte / Spoken Word
Hochdeutsche Übersetzung von Ursina Greuel und Rolf Hermann.
Der gesunde Menschenversand, 2017
Taschenbuch, 216 Seiten
CHF 23
Auch als E-Book erhältlich
ISBN 978-3-03853-035-0

 

 

«Die Kartographie des Schnees»

Die Landkarte, die Rolf Hermann entwirft, reicht von Novosibirsk bis nach Süddeutschland, von der Mündung der Rhone über Paris bis nach Chicago. Vor allem aber bringt sie uns das nahe, was im weitläufigen Gelände der Erfahrung oftmals übersehen wird, dass wir im Anderswo immer hier sind (siehe nach wort). Strassennamen, Museumsbesuche, Youtube-Videos sind Anlass zu überraschenden Beobachtungen, Erinnerungen und Reflexionen. Kleine, kostbare Preziosen tiefgründiger Leichtigkeit.

 

nach wort

 

ob ich hier bin oder ob ich nicht hier bin

ob ich anderswo bin oder ob ich nicht anderswo bin

ob ich sowohl hier als auch anderswo bin

ob ich sowohl anderswo als auch hier bin

ich bin hier und ich bin anderswo

ich bin anderswo und ich bin hier

ich bin weder hier noch bin ich anderswo

ich bin weder anderswo noch bin ich hier

ob ich im anderswo auch hier bin

ob ich im hier auch anderswo bin

oder ob ich hier nicht auch anderswo bin

oder ob ich anderswo nicht auch hier bin

 

 

 

Rolf Hermann
Kartographie des Schnees
Der gesunde Menschenversand, 2014
80 Seiten CHF 26.30
978-3-905825-91-6

 

 

 

«Flüchtiges Zuhause»

Im abgelegenen Bergdorf, wo die Gassen so eng sind, dass die Kinder quer über die Dächer laufen, lebt einzig noch die Grossmutter, die immer von einem anderen Leben träumte und nachts Gedichte schrieb. Die Zeiten, da man die Waren über Leitern am steilen Berg transportierte, sind längst vorbei. Heute geht es samstags mit dem Subaru zum Einkauf ins Placette. Als eines Tages der Grossvater den Jungen bittet, ihn zum Winterschnitt in die Reben zu begleiten, wissen beide, dass nicht nur deren Tage gezählt sind.
Mit seinem ersten Erzählband betritt Rolf Hermann literarisches Neuland. Er blickt auf Kindheits- und Jugendjahre in einem Tal zurück, um das himmelhoch die Berge stehen. Mit Wärme und Feingespür, in einer bildstarken, präzisen Sprache entfaltet er die Lebenswelt dreier Generationen im Wandel der Zeit. Er erzählt mit sanfter Melancholie von stillen Sehnsüchten und leisen Abschieden. Und von der oft rettenden Tätigkeit, die den Dingen und Menschen, die man liebt, Dauer verleiht, dem Schreiben: Mit dem präzisen Blick der Zärtlichkeit.

 

Leseprobe, Auszug:

Wir blickten auf die Schienenstränge

Die Zeit hatte eine Stimme, die nie verstummte, auch dann nicht, wenn alles stillstand: Sie blieb da und summte. Manchmal verzog sich das Summen in den Hintergrund, wurde übertönt vom Knacken in den Lautsprechern, der Ankündigung ferner Destinationen oder der Durchsage einer Verspätung. Und sogleich stellte sich der Summton wieder ein, bis er abermals überstimmt wurde, vom schrillen Schrei einer Lokomotive, vom ohrenbetäubenden Quietschen der Bremsklötze auf blankem Metall, vom Keuchen der zum Stillstand kommenden Wagenkolonne und vom Zischen abrupt aufklappbarer Türen. Gemurmelte Undeutlichkeit legte sich übers Bahnhofgelände von Leuk und begleitete die rasch ein- und aussteigenden Passagiere, worauf die Choreografie mit einem Pfiff ihr Ende fand. Der scharfe Stoss in die Trillerpfeife signalisierte dem Zugführer die Abfahrt. Der Stahltross setzte sich wieder in Bewegung, quietschend und schnaubend, keuchend und ratternd, in vorgegebener Richtung, entweder talein- oder talauswärts, als gäbe es auch in unseren Leben bloss ein Entweder-oder. 

 

 

Rolf Hermann
Flüchtiges Zuhause
Erzählungen
Rotpunkt Verlag, Edition Blau, 2018
128 S., geb. CHF 26.
ISBN 978-3-85869-794-3
auch als E-Book erhältlich

 

 

 

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