«Levin Westermann: Die Flughöhe der Gedichte – was kommt vor dem Fall?»
Von Ingrid Isermann
Der neue Gedichtband «bezüglich der Schatten» von Levin Westermann führt durch die Dämmerung der Welt. Wir folgen einem Fuchs in Klimazonen latenter Bedrohung. Gedichte von der Schwerkraft. Vom freien Fall. Und von Engeln. Dazwischen liegt die Ewigkeit.
Levin Westermanns Gedichte bewegen sich metaphorisch durch Räume, in denen die Meere steigen, Küsten verschwinden und wo Erinnerungen verschwimmen. Visionäres wie auch Notizen aus dem Alltag vermischen sich in vier Zyklen mit surrealen Bildern, unterstützt von einer Typografie, die die Texte auch optisch zum Klingen bringt.
Gedichte sind still und langsam, die Entschleunigung ist ihr Vermögen. Die Hektik ist ein Unvermögen unserer Zeit. Das Paradoxon, dass am meisten bei sich ist, wer sich selbst vergisst, versuchen diese Zeilen poetisch zu bekräftigen, wenn auch Reflexionen über Zeit, Erschrecken, Verschwinden, Sterben und Tod den Ton angeben.
Westermann unternimmt auch Streifzüge zur Antike, fasziniert vom Drama Alkestis von Euripides, mit Einschüben und Übersetzungen der kanadischen Poetin Anne Carson und Roland Barthes aus seinem Tagebuch der Trauer.
Ein Sarkophag senkt sich auf das Haus des Admetos und wer trägt jetzt die Schuld? Denn auf Verlust folgt immer: die Schuld. Was hätte sein können? Und was kam vor dem Fall?
Das fehlende Herz, der tote
Fuchs, der Wind in den Bäumen,
Licht, das bricht, auf einem See
und Ohnmacht, Schwerkraft, Reh…
du legst die hände
flach auf den tisch.
du sitzt ganz still und langsam
wird es hell.
Über Nacht
haben sie den Wald
mit Wald ersetzt,
die Vögel
mit Vögeln, den Fuchs
mit einem Fuchs.
Und draussen
in der Dämmerung
fällt Schnee, ein Autowrack
wird weiss
an einem See, im Garten
weder Bienen noch
Libellen noch
ein Kind –
Wir brechen auf.
Der Letzte
löscht das Feuer.
Die Kerze, die erlischt,
ist eine Sonne,
die stirbt.
Anfangs hiess es
Störfall, später
Invasion, und als die Städte
brannten, rannten
wir davon, flohen
wie die Schatten
vor dem Licht –
Bewegung bei den Bäumen
es folgt uns nun
seit Tagen schon
ein Fuchs.
Der Wind zieht an,
Wolkenberge, masslos
plastisch, die Reste
eines Flugzeugs
verstreut
um einen See.
Unweit, zwischen
Felsen, ragen Hände
aus dem Schnee,
streken die Finger
wie Blüten
aus Fleisch.
Die Grenzen unsrer Sprache
sind die Grenzen
unsrer Welt.
Das Schlimmste
ist vorüber. Das Schlimmste
steht noch aus.
Wladislaw ist wach.
Er steht auf der Veranda,
mitten in der Nacht
und raucht. Die Glut
der Zigarette
ist ein kleiner roter Punkt
vor seinem Mund,
der Parka ist geschlossen
bis zum Hals.
Und vor ihm steht
ein Engel. Ein Engel
steht im Schnee
und starrt ihn an.
Die Augen
blau wie Porzellan,
der Schädel
eine Maske
ganz in weiss. Der Engel
starrt
und schweigt,
dann geht er in die Knie,
öffnet seine Flügel weit
und schwingt sich
in die Dunkelheit davon.
Sein Schrei ist eine Klage
in der Nacht.
Wladislaw raucht fertig
und geht rein.
Er weiss: die Engel
sind verzweifelt,
haben Angst. Sie fliegen
und fallen, fliegen
und fallen,
prallen
unausweichlich
immer wieder
auf das Eis.
Impuls
und Geschwindigkeit,
Aufprall,
Rückprall,
der Körper,
sein Gewicht –
Wladislaw ist wach.
Er sitzt vor seinem Ofen,
mitten in der Nacht,
und schreibt. Draussen
vor dem Fenster
heult der Wind.
You have to abandon the idea
of falling
to fall correctly.
Fall clever!
Peinliche Stille.
Die Kaffeekanne
dampft. Bialetti,
stovetop, «Moka
Crèm». Anyway, you’re
looking good, sagt
Gott. Räuspert sich.
Dann giesst er ein.
Zucker? fragt er
Wladislaw. Danke,
Vater, – nein.
III.
zeit – sie bringt uns
einzig
neuen schmerz,
damit wir einen alten riss
(nach möglichkeit) vergessen
und uns sagen: es ist gut.
erste zeit: die zeit
der entstehung. zweite zeit:
die des zerfalls. dazwischen
liegt die ewigkeit,
spanne eines augenblicks,
randgefüllt
mit leben –
leer gegreint die augen
tief im kopf. und nimmer
willst du schlafen
(willst du), nimmer
willst du ruhen.
bist seltsam in der welt.
tastend in den fugen
(bist du), tastend
in den nischen
quer zum land.
(Auszug)
Levin Westermann, *1980 in Meerbusch/D, studierte Philosophie und Soziologie in Frankfurt am Main, 2009 bis 2012 am Schweizerischen Literaturinstitut Biel sowie an der Hochschule der Künste Bern. Er lebt als freier Schriftsteller in Biel. 2012 erschien sein Debütband «unbekannt verzogen», der 2014 mit dem Wiesbadener Lyrikpreis Orphil ausgezeichnet wurde. Für seinen Lyrikband «bezüglich der schatten» erhielt er den Clemens-Brentano-Preis. 2020 wurde Westermann zu den (virtuellen) 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur eingeladen und erreichte die Shortlist des Ingeborg-Bachmann-Preises.
Levin Westermann
bezüglich der schatten
Matthes & Seitz Berlin, 2020
Reihe: Dichtung
158 Seiten, geb.
CHF 26.90. € 20.
ISBN 978-3-95757-781-8