FRONTPAGE

«Gedicht / Gesicht» Strauhof Zürich: Zsuzsanna Gahse. Kurt Aebli»

Von Rudolf Bussmann

 

Im Rahmen der Ausstellung «Gedicht / Gesicht» fand im Strauhof eine Lesung mit den beiden Lyrikern Zsuzsanna Gahse und Kurt Aebli statt. Gahses Texte lassen sich nicht und liessen sich nie auf ein vorbestimmtes Genre festlegen. Im Dazwischen sind sie zu finden, dort, wo die Kategorisierungen aufhören.

In Zsuzsanna Gahses jüngstem Buch «77 Geschwister» (Edition Korrespondenzen 2017) stehen Prosa und Lyrik in schöner Durchmischung nebeneinander wie zwei Geschwister, deren Verwandtschaft offenkundig zu Tage tritt. Das Thema Geschwister und Verwandtschaft zieht sich nicht nur thematisch durch das Buch, sie hinterlässt auch Spuren in dessen Struktur. Die Kapitelüberschriften – um ein Beispiel herauszugreifen – bestehen aus einer Kombination der vier Grossbuchstaben A, T, G und C. Die Kombination ist der Genetik entlehnt. Sie folgt der Anordnung der vier Grundbestandteile in der menschlichen DNA. Hinter den Buchstaben A, T, G und C verstecken sich die organischen Basen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin.

 

So wie die Verteilung der Gene innerhalb der DNA durch Zufall bestimmt wird, folgt auch die Reihenfolge der Texte in Zsuzsanna Gahses Buch dem Zufall – genau gesagt: ahmt die Reihenfolge der Texte den Zufall nach (denn der Schein trügt, das zeigen die wiederkehrenden Motive, die internen Textverweise und Bezüge). Und wie im natürlichen Original steht für dieses Spiel eine begrenzte Auswahl von Bausteinen zur Verfügung. Die Bausteine liefern zu dieser speziellen DNA der Literatur die menschliche Kulturgeschichte und die Tierwelt, in Kombination mit den Grundthemen Familie, Abstammung, Vererbung. Die Autorin wirbelt in einem waghalsigen Rhythmus durch Zeiten und Räume. Sie hüpft von Tristan und Isolde zu Elvis Presley, von einem Proust-Zitat zu den frisch geschlüpften Seeschildkröten, von diesen zu einer luziden Digression über Sprachen, ihre Abstammung, ihre Verwandtschaft.

 

Was die Gesetze der Vererbung, was Kultur und Erziehung in einem Individuum an Spuren hinterlassen, zeigt sich nicht zuletzt im Gesicht. Es fehlt im Buch nicht an Stellen, die sich mit den Besonderheiten des menschlichen Antlitzes beschäftigen – mit Nasenformen, Lippenbewegungen, mit der Stimme, dem Sehen, dem Geruchsinn, dem Lachen. Und wir begegnen, wenn wir uns lesend durch die DNA der literarischen Welt Zsuzsanna Gahses bewegen, für Momente dem eigenen Spiegelbild.

 

 

Wolfsgeschwister sind wir,

meine drei schlaksigen, gut

gewachsenen Brüder und ich.

Die Ruhe selbst sind wir, ruhige

Wölfe, so schauen wir einander

in die Augen, kreuz und quer in

die Augen. Der älteste Bruder

lässt sich schon mal ins Gras

fallen und lacht, während die

anderen beiden tanzen, als

kämen sie aus einer südlichen

Gegend, vom Mittelmeer, sie

sind die Mitte der Welt, meine

eingebildeten Brüder, ich bilde

sie mir ein, die drei, und während

wir die neusten Pläne aushecken,

spotten wir gerne über andere,

holen damit Kraft, sagt der Älteste,

der junge Mann mit dem schönen

Nacken, dem vollen Mund voller

Zähne. Langsam geht er durch den

Garten, und sobald ich allein bin,

ahme ich seinen Gang nach.

 

1.
Ein Gesicht hat absolut jeder, so wie jeder einen Kopf hat, und wenn er keinen mehr hat, ist es aus mit ihm. Auf der Vorderseite des Kopfes sitzt das Gesicht, das ist ein gelungenes Wort auf Deutsch, weil es von der Sicht spricht, von dem, was der Kopf vorne zu sehen bekommt, eine Sammlung von Sehensmöglichkeiten, von vielen Sichten. Jeder hat nicht nur eine Sicht, sondern viele, und niemand behauptet, dass man auf der vorderen Kopfseite nur in eine Richtung schauen könnte. Jeder hat viele Sichtmöglichkeiten, ein Ge-Sicht. Ge-Fieder sind viele Federn, Ge-Birge hat mit mehreren Bergen zu tun, Ge-Schwister sind mehrere Schwestern oder Brüder.

 

Gesicht ist kein altes Wort, früher sagte man Antlitz, was auf die Schnelle an einen Schlitz im Visier erinnern mag, an die Kimme. Zwischendurch gab es die Visage, als französisches Wort geachtet, heute hat sich diese Achtung verloren, mittlerweile darf man in die Visage ohne Reue reinhauen, da das Wort mit einer Fremdheit überzogen wurde. Die Visage ist eine Maske, eine Larve, und es hilft nicht, dass die Visage ebenfalls Sehen bedeutet, das Sehen vorne im Gesicht.

 

 

Face ist das englische Gesicht,
facebook ist das Gesichtsbuch.

Bevor jemand vergisst, was er
mit dem Gesicht gesehen hat,
schreibt er ein book, facebook.

Ein facebook ist eine Sammlung,
um nichts zu vergessen.
Buchführung gegen das Vergessen.

Bitte merken, steht im Facebook, heute zweihundert Einträge, bitte merken.

 

 

Die Kommunikation scheint zu klappen, face to face, und kleine romantische Funken springen über, face to face ist beinahe wie cheek to cheek. Die irreversible Macht des Englischen: when we are togeather dancing cheek to cheek. An dieser Stelle darf man weitersingen.

Face sagt eigentlich cheek to cheek.

Geschichten krauchen unter dem Teppich hervor. Im Facebook hängen sie Wange an Wange.

 

Bin ein Mann, habe
einen Bruder, einen
Halbbruder, der
Halbbruder bin ich,
mein Bruder ist ganz.
Wir sitzen im
Nussbaum auf zwei
Ästen. Sein Ast bricht.
Was nun?

Alle erdenklichen Leute
sind erzogen, mitunter
schlecht erzogen, so
auch ich. Am besten
wäre es, die Erziehung
abzutrennen, abzuschälen,
wie man Früchte schält,
Mandeln die Haut abzieht.

 

 

Die Geschichte der siamesischen
Zwillingsmädchen ist noch brisanter,
erschütternder, und eines der
beiden bin ich, ich bin die linke
abgetrennte Hälfte und wurde kurz
nach der Operation adoptiert,
so kam ich als Kleinkind nach Wien.

 

 

Mit vier Jahren habe ich gelernt,
dass ich ein Kind sei, ein nettes
unfertiges Ding. So, so! Daher
war ich gefälligst ein Kind.

 

Beinahe hätten sie mich im Zoo
ausgestellt. Kind mit Kulleraugen,
dargeboten wie ein Affenbaby,
neben mir Welpen, Goldlinge,
Herzchen, zum Küssen süß
die Kleine, ersehnenswert,
milchtrunken, nichts ahnend.

 

Am Anfang war, noch
vor dem Urknall, das
Ei oder sogar zwei Eier,
Eines warf das andere
aus dem Nest, aber wo
sich jetzt das gefallene
Ei befindet, ist unklar.

 

 

Mein versteckter Zwilling ist ein komischer Kauz.

 

Am Ende gab es
anfangs eine oder
mehrere Reihen vom
verliebten Knallgelb.

 

Vorstellbar wäre als Modell, dass in den Zwillingen, innerhalb von in ihnen, weitere Zwillinge mitspielen, sogar Hundertlinge, die dann in zwei klaren Gestalten auf die Welt kommen.

 

Die Zwillingsschwestern sind nun
fünfundneunzig geworden.
Noch heute haben sie ähnliche
Mundbewegungen, wenn sie
nachdenken, ihre Gedanken
haben sie schweigend im Mund
mit einem schönen, stillen Lächeln.

 

Jene Ana, von der schon die
Rede war, ist recht groß. Leider
finde ich kein Foto von ihr, von
ihren dunklen Augen und dem
hübsch geratenen kleinen Mund.
Sie hat keine Geschwister, schon
daher ist ihr Mund einmalig.

Heute habe ich mich
im Spiegel nicht erkannt.
Alle intelligenten Tiere
erkennen sich im Spiegel,
heißt die bekannte Devise.

Jetzt sind wir am
Aussterben. Ich
weiß nicht, ob uns
das aufgefallen wäre,
wenn es uns niemand
gesagt hätte.

 

 

Selbstporträt unterwegs

Als ich vom Zugfenster aus
die ersten Schafe sah, lief mir
das Wasser im Mund zusammen,
und bald darauf, auf derselben
Bahnstrecke, bei der nächsten
Schafherde, stieg mir der saftige
Geruch von gegrillten Koteletten,
von chuletas de cordero, in die
Nase, Olivenöl, Knoblauch und
etwas Weißbrot dazu. Vor dem
Zugfenster die Schafe, und
ich hatte einen solchen Hunger,
kann denn Liebe Sünde sein.

 

 

 

Zsuzsanna Gahse, * 1946 in Budapest,  lebt in Müllheim/TG. Ihre literarische Arbeit liegt zwischen Prosa und Lyrik, zwischen erzählerischen, essayistischen und szenischen Texten. Zuletzt erschienen: «Siebenundsiebzig Geschwister», Edition Korrspondenzen, Wien 2017. 2018 wurde sie mit dem Grand Prix Literatur der Schweizer Literaturpreise ausgezeichnet.

 

 

«Kurt Aebli: Das Ich ist ein passionierter Flaneur»

 

Seit je hat sich das Ich in Kurt Aeblis Gedichten einer unerbittlichen Selbstbefragung und Selbstanalyse unterzogen. Getrieben von Neugier, einer gehörigen Portion Skepsis und eine an Heroismus grenzende Portion Mut unternimmt es in immer neuen Anläufen den Versuch, sich ungeschminkt, ohne Illusionen, ohne Ausreden zu begegnen und von dem, was es von sich wahrnimmt, in nüchterner Gewissenhaftigkeit Bericht zu geben.

 

Das Gedicht etwa, das Aebli zum Fotoband «Das Gedicht und sein Double» (edition Azur, Dresden 2018) beigesteuert hat, beginnt mit den Zeilen «Ich sitze in meinem Leben / und blicke ins / Leere». Das klingt nicht eben ermutigend. Aber was hier festgehalten ist, braucht nicht zwingend ein Endzustand zu sein, es kann auch die Beschreibung eines Anfangs sein. Der Blick vertraut erst einmal der Leere, um sich neu zu formieren, um die Automatismen, die sich noch und noch einstellen, zu erkennen und auszuschalten.

 

Die Bewegung in Aeblis Gedichtsammlungen ist die einer unablässigen Rückkehr zum Punkt Null, an dem es keine Gewissheiten gibt. Das Ich begegnet sich wie zum ersten Mal, es kann an keine Erfolge anknüpfen, sich auf keine Erinnerung stützen, es ist dem ausgeliefert, was gerade abläuft. Viele Gedichte sind eine Art Protokoll dessen, was im Moment zu sehen, zu beobachten ist.

 

Das Ich in Aeblis Gedichten ist ein passionierter Flaneur. Auf seinen Gängen ausser Haus erholt es sich von sich selbst. Seine Aufmerksamkeit zoomt auf die Szenerie, die sich ihm unterwegs eröffnet, auf den Wald, auf eine Vorstadtlandschaft, fliegende Schwäne, einen Specht. Es registriert die Folgen der Landschaftszerstörung, die Auswüchse der Konsumgesellschaft. Sein Selbstzweifel wächst sich aus zum Zweifel am menschlichen Tun schlechthin. Als gemässe Antwort auf das, was es wahrnimmt, erscheint ihm das Schweigen. Dennoch notiert es seine Eindrücke mit der ihm eigenen Lakonie und Unbestechlichkeit weiterhin in sein Büchlein. So schwankt es zwischen Reden und Verstummen. Dieses Schwanken hält das Aebli-Ich in Bewegung. Es ist dessen innerer Motor. Und vielleicht ist es überhaupt der tiefere Sinn seines Tuns.

 

 

Spiegel

Immer an alles
eine einzige Frage gestellt.

Nie
in Archiven gestöbert.

Kaum Objekte
gebraucht,
mit dem erstbesten mich
zufrieden gegeben.

Erstbestes Objekt: ich selbst.

Die Gewißheit beim Schreiben,
daß ich mich selbst
beschreibe.

Abgelöst allmählich durch
das Gefühl, leise
verstörend,
die dargestellte Person so
gut zu kennen wie mich selbst.

 

(aus: Tropfen, Edition Korrespondenzen, Wien 2014)

 

 

 

Novemberminiatur

Heute ist nur das Rascheln der Blätter
unter meinen Schritten
von mir.

 

Nicht von mir
ist der Gedanke, daß etwas
von mir sein könnte.

 

Aus so vielem von mir ist
nichts
geworden, und wär es nicht
nichts geworden, so wär es
nicht viel.

 

Das Rascheln der Blätter
unter meinen Schritten ist nicht
viel.

 

Aber es ist
von mir.

 

(aus: Königliche Fahrt, Wolfbach Verlag, Zürich 2017)

 

 

 

Längst weggespült

Ich baue kein Buch in der Art
wie man eine Kirche baut oder ein
Fußballstadion.

 

Das Geschriebene baut
mich,
wie Kinderhände eine Burg
türmen aus Sand
am Meer.

 

Am nächsten Tag kommen sie wieder,
formen, was längst weggespült,
mühelos neu.

 

(aus: Königliche Fahrt, Wolfbach Verlag, Zürich 2017)

 

 

Januarmorgen

Ein Reh, das nach ein paar
Sprüngen
stehenbleibt,
sich umschaut, unsicher,
ob der Spaziergänger mit
Händen in den Hosentaschen
hinreichender Grund
sei zur Flucht:
hat auch dich
für einen Augenblick
zum Stehen gebracht.

 

In der Gewissheit,
notiert zu haben
leicht zu Beschreibendes,
das jeder vor sich sieht,
steckst du die Hände
in die Taschen zurück.

 

Im Dickicht
verschwunden
längst das Reh.

 

(aus: En passant, Wolfbach Verlag, Zürich 2019)

 

 

 

Selbstgespräch im Nebel

Du kannst nichts machen, das ist
dein Leben, im Fall eines andern
Verlaufs wärst du
ein Anderer,
einer, der anderes
bereut,
einer von denen,
die dir noch rätselhafter
vorkommen als du dir selbst.

 

(aus: En passant, Wolfbach Verlag, Zürich 2019)

 

 

Am Boden

Was macht der Bussard da
auf dem Feld?

Lauert er der Maus jetzt
am Boden auf?

So wie er es bei der Katze
sah?

Doch dafür trägt er den Kopf
viel zu hoch.

Zu selbstsicher,
der Anfänger:

viel zu stolz.

 

(aus: En passant, Wolfbach Verlag, Zürich 2019)

 

 

 

Etwas fehlt

Sitze in meinem Leben
und blicke ins
Leere,
(in meinem Leben, das nur gemietet ist)
lasse die Gedanken schweifen,
erwägend Mängel, diesen, jenen:
nein, das ist es nicht,
das ist es nicht,
da wird mir klar wie aus dem Nichts,
die beruhigende Stimme
fehlt:
die bloß
Stimme ist, sonst
nichts.

 

(aus: En passant, Wolfbach Verlag, Zürich 2019)

 

 

 

Aus den Augen

Auf dem Asphalt
mein Schatten
fährt Rad,
ich schau bloß zu,
Beine bewegend,
spielerisch,
ihn nachahmend,
da oder dort ein wenig
nachhelfend
bergauf.

 

Talwärts
fliegt er,
ich bleib oben, verlier
ihn aus den Augen,
mich fragend:
wessen Schatten
bin ich.

 

(aus: En passant, Wolfbach Verlag, Zürich 2019)

 

 

Blick übers Dorf

Wie lang hatte ich gesessen
auf der Bank
mit Blick übers Dorf
und bis zum fernen
Hohentwiel?

 

Die Schnecke hatte die Zeit
genutzt,
das Hochplateau
erstiegen
des linken Schuhs.

 

(aus: En passant, Wolfbach Verlag, Zürich 2019)

 

 

 

Reflex

Reh, Hase,
Fuchs: blicken uns
an, bis
ihnen einfällt,
daß das Staunen
ihr Ende bedeuten kann.

Ohne zu begreifen da oder dort, was
unserm Blick
sich zeigt,
am Ende
irgendwie kapieren
wir,
daß länger stehenbleiben
Wahnsinn wär,
letzte Form des Staunens,
verschlungen vom Traum.

 

(aus: En passant, Wolfbach Verlag, Zürich 2019)

 

 

 

Kurt Aebli, *1955, ist im Kanton Zürich geboren und aufgewachsen. Nach der Matura studierte er an der Universität Basel Germanistik, Geschichte und Ethnologie. Er ist Verfasser von Kurzprosa und Lyrik. 1991 und 1996 nahm er an den Klagenfurter Tagen der deutschsprachigen Literatur teil. Nach längeren Aufenthalten in Wien und Paris lebt er heute in der Nähe von Zürich. Zuletzt erschienen: «En passant», Wolfbach Verlag, Zürich 2019.

 

Die sehenswerte Ausstellung «Gedicht / Gesicht» im Strauhof Zürich dauert noch bis 15. September 2019. Die gleichnamige Publikation enthält Gedichte und Porträts von 99 AutorInnen. www.strauhof.ch

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