FRONTPAGE

«Die Lamellen stehen offen» Gedichte von Klaus Merz 1963-1991»

Von Ingrid Isermann

Der erste Band der Werkausgabe umspannt den lyrischen Bogen von den Anfängen der Sechziger- bis in die frühen Neunzigerjahre. Zahlreiche Gedichte aus dem Frühwerk von Klaus Merz, die zum grössten Teil noch vor seinem Buch-Debüt 1967 entstanden, werden hier erstmals veröffentlicht. Ebenso enthält der Band ein bislang unveröffentlichtes, in den 1980er Jahren entstandenes Lyrik-Manuskript aus dem Schweizerischen Literaturarchiv.

 

Subtile Wegmarken sind es, die die Gedichte von Klaus Merz kennzeichnen, keine lauten Stimmen, eher verhaltene Töne zwischen den Zeilen, von leiser Melancholie getragen.

Skizzen aus dem gewöhnlichen Alltag, Zwischen-

menschliches, das in die eine oder andere Richtung kippt, Beobachtungen, die mitunter auch nichts an Schärfe vermissen lassen, dann wieder fatalistische Bemerkungen über Situationen und das Leben, dass es eben so sei, das Leben…

In diesen Gedichten lassen sich Stimmungen und Atmosphären wiederfinden, die jedem schon begegnet sind, in Worte gefasst behalten sie ihren Aktualitätswert.

 

 

 

September

 

 

Ich sammle die Pupillen

fremder Menschen ein

und spiele Marmel

auf den Spiegeln weiter Säle.

Es rollen braun und blau die Augen

entlang der groben Festlichkeit.

Erdalt fiel vorhin schon mein Herz

aus allen Spiegeln in die Einsamkeit.

Nacht

Die Lamellen stehen offen.

Die Stadt wirft Lichtgirlanden herein

legt Scheinkronen auf

vergoldet den Tüll.

Das Glück wird sichtbar

durch einen Spalt.

Der Atem, der dich anfliegt

zieht uns hindurch.

Distanzen

Von Auge zu Auge

vom Aug zum Mund

von Mund zu Mund

vom Mund zur Hand

von Hand zu Hand:

Das unübersetzbare Mass

von Distanzen

es misst uns aus.

Wider-Sehen

Im Wegschauen sehen.

Im Weghören hören.

Wahrnehmen, was

durch Vorzeigen nicht

sichtbar wird.

 

 

August

 

 

Die Felder entlang

werden wieder die Gerüchte

des Klatsch-Mohns vernehmbar

lassen mich nachts

nicht mehr schlafen.

In den Mäulern der Grossmütter

die Dreschflegel von neuem erwachen

während ich

ohne Erinnerung bin

ohne Sprache.

Sommer um Sommer

muss ich mich neu

übersetzen.

 

 

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Unterkulm. Er debütierte Mitte der Sechzigerjahre mit Gedichten, seither sind über dreissig Veröffentlichungen hinzugekommen: Gedichtbände, Kurzprosa und Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke, Novellen und kurze Romane, Bildbetrachtungen und essayistische Arbeiten.

Klaus Merz wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis der Stadt Karlsruhe (1997) und dem Gottfried-Keller-Preis (2004) für das gesamte Werk. Seine Texte wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

 

Band I der vorliegenden Werkausgabe versammelt die frühe Lyrik von Klaus Merz, Gedichte aus den Jahren 1963-1991 sowie bisher unpublizierte Gedichte unter dem Titel „Weisse Gedanken“, die noch vor seinem Debütband „Mit gesammelter Blindheit“ erschienen sind.

Merz betreute auch die Herausgabe der Gedichte seines früh verstorbenen Bruders Martin Merz (Zwischenland, Haymon 2003). 1997 schaffte Klaus Merz mit „Jakob schläft. Eigentlich ein Roman“ den internationalen Durchbruch. Die Novelle „Der Argentinier“ stand 2009 mehrere Wochen an der Spitze der Schweizer Bestsellerlisten.

 

Merz gilt als „Meister der Lakonie“, der das Pulsieren der Zeilen, den Zündstoff der Gedanken in wenigen Worten unmittelbar  aufscheinen lässt.

Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung 1979, 1997 und 2005, dem Aargauer Literatur- und dem Kulturpreis 1992/2005, dem Solothurner Literaturpreis 1996, dem Prix littéraire Lipp 1999.

2007 Ausstellung „Der gestillte Blick. Der Schriftsteller Klaus Merz“ im Strauhof Zürich.

 

 

 

Klaus Merz

Die Lamellen stehen offen

Frühe Lyrik 1963-1991

Werkausgabe Band 1,

herausgegeben von Markus Bundi.

ISBN 978-3-85218-654-2

240 S., Hardcover mit Schutzumschlag

CHF 35.90. 24.90 Euro.

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