FRONTPAGE

«Jan Wagner: Die überbordende Natur im poetischen Visier»

Von Ingrid Isermann

 

Wissen Sie, was ein Giersch ist? Jan Wagner hat diesem alles überwuchernden Gewächs
ein vieldeutiges, gedankentrunkenes Gedicht gewidmet, das Haus und Hof einlullt, so wie die Natur überhand nimmt, wenn der Mensch sie lässt oder nicht mehr da ist, so phantastisch wie unheimlich, dieses Gewächs, das die Gier im Namen trägt. Jan Wagner wurde für seine virtuosen «Regentonnenvariationen» mit dem Leipziger Buchpreis 2015, als erster Lyriker notabene, ausgezeichnet.

 

Ehrlich gesagt, wer hat heute noch eine Regentonne im Garten oder sonstwo stehen? Und wer von den Jungspunden weiss überhaupt noch, was das ist? So langsam, langsam, tastet sich die Natur vor, und zwar kontinuierlich und stetig und lässt nicht nach, wie eben diese Verse von Jan Wagner. Wenn’s auch keinen interessiert, sie stehen trotzdem da. Und genau das ist es, was nun interessiert. Ist es Botanik, ist es die Ehrfurcht vor der Natur? Goethe war ja auch ein vielseitiger Suchender auf den Spuren der Natur, in allen Himmelsrichtungen. Und irgendwann zahlt sich das auch aus, auch wenn wir nie alles wissen werden. Das ist die Crux. Aber jede Generation entdeckt das wieder von neuem, und dabei lässt sie die Technik aussen vor. Die sich das natürlich nicht gefallen lässt, deshalb schreitet sie stetig voran, wie die Natur. Wer macht das Wettrennen? Oder ist die Technik die Natur? Kommt sie ihr am nächsten? Spannende Fragen, die wohl nur Lyriker beantworten können … Jan Wagner lässt uns in eloquenten Sprachzügen, die trotz ihrer langsam scheinenden Attitüde pfeilschnell ins Bewusstsein dringen, an den schwebenden Geheimnissen der Natur teilhaben.

Hier sind einige Beispiele für Sie:

 

 

giersch

nicht zu unterschätzen: der giersch
mit dem begehren schon im namen – darum
die blüten, die so schwebend weiss sind, keusch
wie ein tyrannentraum.

 

kehrt stets zurück wie eine alte schuld,
schickt seine kassiber
durchs dunkel unterm rasen, unterm feld,
bis irgendwo erneut ein weisses wider-

 

standsnest emporschiesst, hinter der garage,
beim knirschenden kies, der kirsche: giersch
als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch

 

geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch
schier überall spriesst, im ganzen garten giersch
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.

 

 

 

eule

«Schwebe ohne Eile, Eule,
Durchs Dunkel, deine Aula, Eule,
Für dich und mich, uns alle, Eule…»

 

 

still wie eine urne – bis die rufe
hoch über den köpfen
uns stocken lassen, sonderbar, als rufe
etwas durch sie hindurch, im braunen oder kupfern-

en federkleid zwischen den zweigen sitzend,
mit einem weissen schleier, zart wie mehltau
und brüsseler spitze,
verstreut sie die grazilen amulette

 

ihrer gewölle,
kaum mehr zu sehen, eher noch zu spüren;
der schlussstein in dem grossen laubgewölle;

 

ein gelber spalt und noch ein gelber spalt,
zwei augen hinter den tapetentüren
aus borke, dann der wald. der wald. der wald.

 

 

 

 

koalas

 

so viel schlaf in nur einem baum,
so viele kugeln aus fell
in all den astgabeln, eine boheme
der trägheit, die sich in den wipfeln hält und hält

 

 

und hält mit ein paar klettereisen
als krallen, nie gerühmte erstbesteiger
über den flötenden terrassen
von regenwald, zerstauste stoiker,

 

 

verlauste buddhas, zäher als das gift,
das in den blättern wächst, mit ihren watte-
ohren gegen lockungen gefeit,
in einem winkelchen von welt: kein water-

 

 

loo für sie, kein gang nach canossa.
betrachte, präge sie dir ein, bevor es
zu spät ist – dieses sanfte knauser-
gesicht, die miene eines radrennfahrers

 

 

kurz vorm etappensieg, dem grund entrückt,
und doch zum greifen nah ihr abgelebtes
grau -, bevor ein jeder wieder gähnt, sich streckt,
versinkt in einem traum aus eukalyptus.

 

 

 

Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, lebt in Berlin.
2001 erschien sein erster Gedichtband «Probebohrung im Himmel».
Für seine Lyrik wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit
dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Hölderlin-Preis
der Stadt Tübingen.

 

 

 

Jan Wagner
Regentonnenvariationen
Gedichte
Hanser Verlag Berlin 2014
97 S., Hardcover
CHF 22.90
ISBN 978-3-446-24646-1

NACH OBEN

Lyrik