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«Kaiserin Michiko: Nur eine kleine Maulbeere…»

Von Ingrid Isermann

 

Wundervolle Gedichte aus der Feder der japanischen Kaiserin Michiko. Dieser Gedichtband ist eine Trouvaille: «Nur eine kleine Maulbeere. Aber sie wog schwer» enthält die schönsten Gedichte der japanischen Kaiserin Michiko, Ehefrau des Tennō (Kaisers) Akihito und Mutter des Kronprinzen Naruhito.

Die edle Originalausgabe schlägt eine literarische Brücke zwischen Ost und West und bringt uns die jahrhundertealte Tradition der japanischen Waka-Dichtkunst näher. Die 50 exklusiv ausgewählten Gedichte der Kaiserin (*1934 in Tokio) sind in japanischer Kalligrafie mit deutscher Übersetzung gedruckt. Zu vielen Texten gibt es Kommentare und Anmerkungen, das Vorwort ist von Manuel Herder verfasst. Mit diesem Gedichtband taucht man ein in die Welt des japanischen Kaiserhofs. Die Gedichte stehen in der über 1000-jährigen Tradition der Waka-Dichtung und sind thematisch höchst verschieden. Der Bogen reicht von Natureindrücken über Reisen im eigenen Land und in ferne Länder bis zu staatstragenden, gesellschaftlichen oder privaten Ereignissen. In ihnen kommt eine Zartheit des Empfindens und des Mitgefühls zum Ausdruck, eine Anmut, die hier zur Sprache wird.

Dass die Kaiserin in einer der grössten Kulturnationen der Welt sich im 21. Jahrhundert für ein friedliches und freiheitliches Miteinander aller Menschen einsetzt, ist keineswegs selbstverständlich, hat doch die spätere Kaiserin als Kind in den 40er Jahren auf dramatische Weise miterleben müssen, wie auch viele Millionen Menschen ihrer Generation in Japan, Deutschland und in europäischen Ländern, schreibt Verleger Manuel Herder.

 

 

Einblick in eine fremde Welt
Michiko wurde 1934 in Tokio als älteste Tochter von Hidesaburo Shōda und Fumiko Soejima geboren. Sie wurde nach traditionell japanischer als auch nach westlicher Art erzogen und lernte Englisch, Klavier zu spielen und wurde in die Kunst des Malens, des Kochens und des Kōdōs eingeweiht. Sie war die Nichte von mehreren Wissenschaftlern, darunter auch des Mathematikers Kenjirō Shōda, der von 1954 bis 1960 als Rektor der Universität Ōsaka diente.
Michiko besuchte die Futaba-Grundschule in Tokio, die sie während der 4. Klasse öfters wegen der anhaltenden Bombardierungen Japans während des Zweiten Weltkriegs durch die Vereinigten Staaten verlassen musste. Anschliessend besuchte sie Schulen in den Präfekturen Kanagawa, Gunma und Nagano, und nach der Niederlage Japans die Seishin Sekundarschule in Tokio bis 1953, danach die Seishin-Mädchenuniversität (University of the Sacred Heart) in Tokio, wo sie 1957 den Bachelor of Arts in Englischer Literatur erwarb. Zudem besuchte sie sowohl die Harvard University als auch die University of Oxford.
In ihrer Kindheit wurde sie von ihrer Familie in Anspielung auf den amerikanischen Kinderfilmstar Shirley Temple «Temple-chan» genannt, wegen Michikos lockigen und rötlichen Haaren, die für japanische Mädchen eher ungewöhnlich waren. Nach ihrem Studium bekam sie den Spitznamen «Michi». Obwohl sie aus einer christlichen Familie stammt und christliche Privatschulen besuchte, wurde sie nicht getauft. Da sie einer wohlhabenden Familie angehört, waren ihre Eltern in Bezug auf einen zukünftigen Ehemann sehr wählerisch. Laut Biographen des berühmten Autors Yukio Mishima war dieser einer von vielen Interessenten und soll ihr auch vorgestellt worden sein.

 

 

Berlin

Diesen Morgen im Herbst
werden wir immer
in Erinnerung behalten.
Über das Brandenburger Tor
breitete ein neuer Tag sein Licht.

 

 

Weg

Damals, als ich mich
an der Weggabelung befand
und die eine Richtung wählte,
wohin hat wohl jener Weg geführt,
den ich nicht beschritten habe?

 

 

Gestalt

„Lebendig sah sie aus
die blaue Erde,
deutlich abgegrenz vom dunklen All“,
so nahm sie der Weltraumfahrer wahr,
wieder glücklich heimgekehrt.

 

 

Blau

Auf Schneehängen
wie auf Eisflächen
gibt jeder sein Äusserstes
mit der Kraft der Jugend.
Tief bewegt schlägt mein Herz für Euch.

 

 

Licht

Gemeinsam schreiten wir
den langen Weg.
Der Tag geht zur Neige,
noch schimmert von Ferne am Himmel
ein sanftes Abendlicht.

 

 

Hiroshima
Fünfzig Jahre nach der Bombe
fallen auf den Boden von Hiroshima
still und sanft
Regentropfen nieder.
Heute aber erfüllt des Regens Duft den Ort.

 

 

 

Michiko
Kaiserin von Japan
Nur eine kleine Maulbeere.
Aber sie wog schwer.
Verlag Herder, Freiburg, Basel, Wien
1. Auflage 2017
Aus dem Japanischen von Peter Pantzer.
Vorwort von Verleger Manuel Herder
Mit einem Nachwort von Hara Toru.
144 Seiten, € 28
ISBN: 978-3-451-31220-5

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