FRONTPAGE

«Lyrik-Preis: 1. Platz für Jacqueline Crevoisier»

Von Ingrid Isermann

Das sind die drei Haupt-Gewinner des ersten Zürcher Lyrik-Preises Literatur&Kunst:

1. Jacqueline Crevoisier:
«Abendgebet der Spassgesellschaft»

2. Raphael Urweider:
«Baum»

3. Hugo Ramnek:
«Himmel und Hölle»

 

Jacqueline Crevoisier, *1942 in Zürich, wird für ihr Zeit- und Sittenbild einer fulminanten Medien- und Gesellschaftskritik ausgezeichnet.

Raphael Urweider, *1974 in Bern, verzaubert mit seinem poetisch-tiefgründigen Gedichtzyklus «Baum».

Hugo Ramnek, *1960 in Klagenfurt/A, berührt mit seinem Generationen-Gedicht «Himmel und Hölle».

Eine Premiere vor mehr als Hunderttausend ZuschauerInnen! Wir gratulieren den PreisträgerInnen herzlich und wünschen Ihnen ein so spannendes wie nachdenkliches Lesevergnügen.

 

Rund 60 bekannte und weniger bekannte LyrikerInnen haben beim ersten Zürcher Lyrik-Preis-Wettbewerb mitgemacht. Wir danken allen für die Teilnahme und das erfreuliche Echo auf die Ausschreibung. Hier publizieren wir die Gedichte der ersten drei Preisträger sowie die Laudationes. Literatur&Kunst möchte mit dem Lyrik-Preis auf die Randsparte Lyrik in den Medien aufmerksam machen und ihren bedeutenden Stellenwert für Kultur und Kunst dokumentieren.

 

Erster Zürcher Lyrik-Preis: Laudatio für Jacqueline Crevoisier.
Von Charles Linsmayer

Wir stehen in einem Laden voller Bücher, und doch sei die ketzerische Frage erlaubt, welche literarische Formen jenen Kahlschlag überleben werden, den die Elektronik und die von ihr geschaffenen Möglichkeiten früher oder später bei all dem anrichten wird, was heute noch, in grotesk überbordender Weise, auf Papier gedruckt in den Handel kommt. Dass es angesichts von Youtube und den damit popularisierten millionenfach reproduzierten Jekami-Szenerien nicht das Theater sein wird, scheint mir klar. Aber es wird auch nicht der Roman sein, der angesichts der Bebilderungs- und Aktivierungsmöglichkeiten des Internets als hoffnungslos veraltete, sterile rein textmässige Datenmenge weder den Rezeptionsgewohnheiten künftiger Generationen entsprechen, noch die eines Tages unabdingbar notwendig werdende quantitative Einschränkung der Serverbelegung überleben wird.
Bleiben wird, da bin ich mir sicher, das Gedicht als kleinste, aber raffinierteste literarische Form. Die Königsdisziplin, die mit 8 Zeilen einen ganzen Roman oder ein ganzes Drama vor uns hinzustellen vermag – «Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde,/ es war getan, fast eh gedacht, /der Abend wiegte schon die Erde, /und an den Bergen hing die Nacht… …«Schläft ein Lied in allen Dingen, /die da träumen fort und fort/ und die Welt hebt an zu singen, / triffst du nur das Zauberwort» – diese auf das Wesentliche reduzierte, sprachlich virtuose Möglichkeit, die sich sogar dann noch von Mund zu Mund weitertradieren lässt, wenn nicht nur die Bücher alle verbrannt, sondern auch dem Internet die Luft ausgegangen ist.
Was wir auf jeden Fall tun müssen, jetzt schon und nicht erst nach jener medientechnischen Apokalypse, ist, uns von einer Vorstellung von Lyrik zu verabschieden, die von Poeten in stillen Kämmerchen, von Eingeweihten in esoterischen Zirkeln, von durch die Autoren selbst finanzierten Feld- und Wiesenverlagen produziert und verbreitet wird und gegenüber Formen, die in Theatern Triumphe feiern, auf Bestsellerlisten hochgejubelt oder auf Buchpreistourneen bewundert werden, absolut chancenlos ist und im Wesentlichen der schön formulierten Präsentation von privaten Gefühlszuständen oder poetischen Stimmungsbildern verpflichtet ist.
«Das Gedicht ist mein Messer», hat Wolfgang Weyrauch formuliert, und für mich heisst dieser Satz nichts anderes, als dass das Gedicht alles kann: hassen und lieben, aufwühlen und zornig machen, bekehren und aufstacheln, rächen und belohnen, ja vielleicht sogar töten und wieder lebendig machen. Und es kann das, wenn der Inhalt mit der Form kongruent geht, auf eine viel wuchtigere, unmittelbarere, bewegendere, treffsicherere Art, als es ein Roman, ein Drama oder meinetwegen ein politisches Pamphlet je könnte.

 

Der erste Zürcher Lyrikpreis 2012 geht an ein Gedicht, das in diesem Sinne beispielhaft ist, weil es kämpferische Wucht, Verve, formale Brillanz und Treffsicherheit der Argumentation auf eindrückliche Weise miteinander verbindet. Es stammt von der in Zürich geborenen, seit Jahren in der Nähe von Amsterdam lebenden Filmemacherin, Hörspielverfasserin und Lyrikerin Jacqueline Crevoisier und heisst: «Abendgebet der Spassgesellschaft». Ein Langgedicht, das der archaischen Form des schweizerischen Alpsegens nachgebaut ist, aber den heiligen Sankt Dumianus mit Bitten, die uns Hören und Sehen vergessen machen, um den Segen für jene Medien-, Freizeit- und Eventkultur anfleht, der wir alle, ohne es zu merken, längst auf eine fatale Weise zum Opfer gefallen sind.

Aber hören Sie selbst. Wir haben den Schauspieler Robert Hunger-Bühler gebeten, Ihnen das Preisgedicht vorzutragen.

 

 

1. Preis: JACQUELINE CREVOISIER

ABENDGEBET DER SPASSGESELLSCHAFT

Gegrüsst seist Du

HEILIGER DUMIANUS
voll der Gnade, wir sind bei Dir.
Gebenedeit seist Du
und gebenedeit die leeren Hülsenfrüchte
Deiner unbefleckt empfangenen Kopfgeburten.

Wir knien vor Deinem Altar
im formatlosen Format des Grossbildfernsehers
um Dir täglich zu danken
für den unermesslichen Reichtum
in der Leere Deiner Gedankenfülle.
Unter unsern Knien spüren wir
die schmerzhafte Härte des Bodens unserer Wirklichkeit
die wir voll Demut und mit Schuldgefühlen akzeptieren
büssend für all die schüchternen Versuche
eigenmächtigen Denkens.

Vergib sie uns

HEILIGER DUMIANUS
denn wir geloben in kollektivem Gebet
Dir fortan des öftern zu huldigen.
Häufiger als bisher werden unsere Hände
nach dem platten Batterienreliquienschrein tasten
die Finger die Heilige Handlung des Einschaltens verrichten
um in missionarischem Eifer Deine Einschaltquoten zu erhöhen.

HEILIGER DUMIANUS, wir sind bei Dir.

Wir harren Deiner Botschaft und
erwarten Deine Gesetztafeln
mit den für alle Zeit hineingemeisselten
und ewig gültigen Geboten
die es gilt in Hingabe zu erfüllen
um den Jüngern Deiner Spassgesellschaft
mit ihrer hochbezahlten, kommerzorientierten
und reklameschwangeren Gedankenleere würdig zu sein.

Schütte sie über uns aus
dass die Fetzen stieben
lass die Plattitüden und Zerrbilder
aus deinem übervollen Wunderhorn rieseln
und hebe so unser jämmerliches Dasein
mit all seinem Ungemach
an Risiken und Nebenwirkungen
in die erhabenen Sphären
Deiner virtuellen und einzig wahren Wirklichkeit.

Gib uns

O HEILIGER DUMIANUS
nach Deinem Willen das Leben, ohne es uns zu geben.
Lass uns teilhaben an Deinen TV-Reality-Streifzügen.
Lass uns wenigstens uns am Bildschirm
an Vergewaltigungen ergötzen und
und uns bei diesem Anblick lustvoll empören.

Lass uns zu einem Spottpreis dabei sein
wenn zu einem andern Spottpreis
der eine den andern absticht.
Zeige den Gewaltakt und zeig ihn nochmals
in Grossaufnahme und in Zeitlupe.
Mach Dich vor dem Opfer breit

auf dass keine rettende Hilfe
dem Opfer das Opfer verhindere.
Geh mit der Kamera ungeniert nah
auf das schmerzverzerrte Gesicht
auf die masslos erstaunten Augen
und filme vor allem – wir flehen Dich an –
die Stiche, die das Hemd allmählich in Rot tauchen
auf dass Dein Blut über uns komme.

Nimm uns mit in den globalen Filz der kriegerischen Rechthaberei.
Zeig uns wie in Deinem Namen Ideologie auf Ideologie prallt
wie menschliche Körper zerfetzt in den Strassen herumliegen
zeig uns die Verzweiflung der Schwachen
und den brüllenden Triumph der Starken.

Gib uns

HEILIGER DUMIANUS
die brennenden Häuser der Asylanten
beim Genuss des vollendet veredelten Spitzenkaffees
zeig uns die zu allem entschlossenen
vor der ersehnten Wohlstandsküste
von ihren Fluchtschiffen springenden Menschen und
erinnere uns, dass Dabeisein alles ist
gerade nach der Einnahme von natürlichem Kräuterextrakt
zwecks zu genesender Blasenschwäche.

Führ uns Dritte-Welt-Katastrophen vor.
Überschwemmungen, verursacht durch eine profitorientierte Umwelt
Waldbrände, gestiftet von Projektentwicklern
Hungerbäuche, von Fliegen übersäte kranke Leiber
führ sie uns vor, als ob wir nichts damit zu tun hätten
weil unser Hygienereiniger auch dort zugreift
wo andere versagen.

Lehr uns
O HEILIGER DUMIANUS
den richtigen Lifestyle.
Steh uns bei in der Wahl der massgeschneiderten Hypothek
der Geldanlage mit Höchstgewinn in Rekordzeit
der karrierekonformen Wohneinrichtung
der Markenkleidung
des dazu passenden Sex-, Lebensabschnitt- oder Ehepartners
mit dem zeitlich korrekt geplanten Ablaufdatum.

Hilf uns
HEILIGER DUMIANUS
jeden gedanklichen Tiefgang zu vermeiden:
lass in Talkshows
Intellektuelle ihre Liebe zum Fussball bekennen
Exaktwissenschaftler ihre Forschungsergebnisse
heiter und allgemeindumm erklären
lass in den Promistatus hochgejubelte Blödmänner und -frauen
atemlos zu Lebensfragen quasseln und
lass die Elite sich ausschliesslich via Wirtschaft definieren.

HEILIGER DUMIANUS, verlass uns nie.

Sei mit uns
in Handy, Fax und Internet
und verkaufe uns zum Höchstpreis für so dumm
wie wir es ohnehin schon sind.
Gib uns unsere tägliche Sport- und Spielsendung.
Schenk uns die Beschränktheit Deiner Moderatoren
die Unwissenheit Deiner Talk- und
die Ignoranz Deiner Quizmaster.

Lass uns kreischen, schreien, Tränen weinen
beim Wissen einer noch dümmeren Antwort
auf die entsprechende Frage
zum Gewinn eines Wellness-Wochenendes
eines Smartphones mit tausend Möglichkeiten
einer Karibikreise oder eines Mittelklassewagens.

Erbarme dich unser
HEILIGER DUMIANUS
nimm Dich unser an.

Öffne die Tür und gewähre uns Einlass
in Dein Disneyworld-Paradies aus Grellplastik.
Lass uns tanzen um den Denkmalsockel
des von Ketch-up triefenden Riesenhamburgers
aus rinderwahnsinnverseuchtem Hackfleisch.

Lass uns frohlocken
die eine Hand erhoben mit der Dreieckstüte Pommes frites
– die symbolische Fackel aller Glanzideen vereinigter Bierbrauer –
in der andern Hand die geöffnete Schädeldecke
mit dem letzten Rest unseres erntefrisch eingefrorenen Hirn
und befreie uns von jedem Quäntchen möglicher Intelligenz.

Hilf uns
O HEILIGER DUMIANUS
Deine Wirklichkeit für die einzig wirkliche zu halten
und erlöse uns von der unsern
jetzt und in der Stunde unseres Leidens
und immerdar.

Amen.

 

Kurzbiographie

JACQUELINE CREVOISIER

Geboren 1942 in Zürich. Redakteurin beim Schweizer Fernsehen (DRS Zürich). Seit Wohndomizil Nähe Amsterdam freischaffend. Jacqueline Crevoisier drehte Fernsehfilme im Bereich von Kunst und Kultur. Sie schreibt Gedichte, Prosa, Radiotexte und Hörspiele (eines davon wurde zum Hörspiel des Monats gewählt (Deutsche Akademie der Darstellenden Künste, Frankfurt a.M.). Mitgliedschaften: Autoren der Schweiz (www.a-d-s.ch), ProLitteris, PEN-Deutschschweiz.
Lesungen in Deutschen Bibliotheken, an Universitäten, bei Tagungen im Kulturaustausch Niederlande – Deutschland. Autorisierte Übersetzerin des NL-Kultautors Marten Toonder. Zahlreiche Publikationen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Letzte Buchpublikationen: „Patridiotisches“, „Fabulöses“, „Gelassene Federn“ alle Nimrod (Curt Zimmermann, Zürich).
In Vorbereitung: „Eines schönen Tages, da –„ Gedichte (Edition Isele.de)

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Laudatio für Raphael Urweider zum Gedichtzyklus «Baum».

Von Ingrid Isermann

Raphael Urweider nennt seinen Gedichtzyklus schlicht «Baum». Es ist ein Assoziationsfeld, das weit reicht, nicht zuletzt zu Brechts Gedicht über «Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst».
So langsam dämmert es den Menschen, wir sind ein Stück Natur. Nicht über ihr, nicht neben ihr, sondern ein Stück von ihr. Oder wie es der Dichter und Künstler Hans Arp ausdrückte: «Ich bin in der Natur geboren». Nichts von «Machet Euch die Erde untertan!». Sondern Sein, Da-Sein und Respekt vor der Natur.

 

Ein Gedicht kann ein Befreiungsschlag sein. Lyrik kann Unsichtbares sichtbar machen, Welten verbinden, Schicht um Schicht freilegen, was an der Oberfläche brodelt, mit Lichtgeschwindigkeit Hintergründiges und auch Abgründiges aufzeigen, subversiv und doch dem Wunder des Lebens zugetan. Lyrik ist das schnellste Kommunikationsmittel, das in die Tiefe reicht und in ungeahnte Höhen führt, ein unabdingbares, unabhängiges und ein unverzichtbares Lebensmittel.

 

 

Raphael Urweider spricht von der Knospe und von der Blüte, als etwas Werdendem, etwas Erblühenden, und stellt es in Bezug zu einem Menschen, einem geliebten Menschen, vielleicht,
«die knospe ist eine bombe / eine schöne sanfte bombe die nicht / angefasst werden sollte / knospen sind geduld verlangende versprechen».
«Knospen sind Geduld verlangende Versprechen…». Was wären wir ohne Natur um uns herum? Ein Baum schmückt sich mit Blüten, trägt Früchte, die wir virtuell oder digital niemals herstellen oder gar essen können.

 

Kirschblüten, Apfelblüten, Apfelbaum, Blütenträume. Ein Apfel ist ein Wunderwerk.
Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, wie das zustande kommt. Wie selbstverständlich Jahr für Jahr. Die vier Jahreszeiten. Werden. Sein. Vergehen. Natur als Kreislauf, in den Menschen und Tiere eingebunden sind. Auch ohne die fleissigen Bienen gehts nicht, die die Blüten bestäuben.

 

«die blüten als ganzes / sind bald nur noch erinnerung / weisses rauschen wie wir uns an uns / als ganzes erinnern».
Kann man einer Pflanze, einem Baum, einer Blüte befehlen, schneller zu wachsen, sich schneller zu öffnen? Darin liegt die Unmöglichkeit, die Grenzen des Wachstums.
«… es geht um nichts die augen der / blüten bleiben geschlossen und durch / mehrdeutig vielblättriges lidflattern…».
In Raphael Urweiders Gedicht liegt Zärtlichkeit, Eros und Geheimnis, über die Schöpfung, über die Natur und wie wir mit ihr untrennbar verbunden sind.

 

Der Mensch hat gelernt, die Ressourcen zu nutzen. Hat er auch gelernt, sie zu schonen? Die Milchstrasse gibt keine Milch. Kühe stehen in den USA bald im Museum, weil Kinder nicht mehr wissen, wo die Milch herkommt. Der Klimawandel und Abwässer lässt die Korallen am Great Barrier Riff absterben. Das Umdenken kommt langsam in Gang.
Natur und Mensch. Natur und Wachstum. Nicht Geld und Wachstum. Nicht Wirtschaft und Wachstum. Nein, hier geht es um das existenzielle Wachstum, das Leben hervorbringt.

Jetzt aber ist Raum für dieses leise, so wunderbar Wachsende, das in uns und um uns herum ist, überall, wenn wir die Augen öffnen.
Wir gratulieren Raphael Urweider zum Ersten Zürcher Lyrik-Preis Literatur & Kunst und sein preisgekröntes, leises, wundersames Gedicht «Baum».

2. Preis: RAPHAEL URWEIDER

BAUM (AUSZUG)

knospe

r.h.l. dedicatu est

die knospe zu viel wissen wollen
zu unzeiten die knospe will
in ruhe gelassen werden

eine schöne sanfte ruhe aber auch
eine rühr mich nicht an ruhe
naturgemäß will die knospe

gerade jetzt sterben oder sprießen
ein schöner tod ein versprechen
sie will aufbrechen doch nicht

aufgebrochen werden eine explosion
zu unzeiten immer zu unzeiten
die knospe ist eine bombe

eine schöne sanfte bombe die nicht
angefasst werden sollte knospen
sind geduld verlangende versprechen

blüte

es geht um nichts die augen der
blüten bleiben geschlossen und durch
mehrdeutig vielblättriges lidflattern

regen ist hagel für blüten wind
reißt sie auseinander wie uns
das reisen müssen das reisen müssen

der blütenblätter ein hautwarmer
hautartiger schnee so verlieren
die bäume ihre lider

und die harten grünen augäpfel
der fruchtknoten beginnen zu wachsen
zu süßen und die blüten als ganzes

sind bald nur noch erinnerung
weißes rauschen wie wir uns an uns
als ganzes erinnern und

auseinandergerissen nicht bluten
wie fruchtknoten nicht bluten wenn
ihnen die blütenblätter entrissen werden

vom wetter von fühllosen
frühlingsstürmen die den bäumen
die losen wimpern rauben

 

 

 

Kurzbiographie

RAPHAEL URWEIDER

Raphael Urweider wurde am 5. November 1974 in Bern geboren und wuchs in Biel auf. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie an der Universität Fribourg absolvierte er die Jazzschule in Bern, wo er heute lebt.
Urweider ist Lyriker und Übersetzer, Musiker und Rapper. Seit Mai 2012 ist er Präsident des AdS, der Autorinnen und Autoren der Schweiz.
1999 Leonce- und-Lena-Preis, im Jahr 2000 folgte der Buchpreis des Kantons Bern für seinen Lyrikband „Lichter in Menlo Park“, 2002 der 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, 2004 der Clemens-Brentano-Preis. Für „Alle deine Namen“ erhielt er 2009 den Schillerpreis der schweizerischen Schillerstiftung.

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 Laudatio für Hugo Ramnek zu «Himmel und Hölle».

Von Sabina Naef

Die fünf Gedichte von Hugo Ramnek zum Motiv FALLEN bilden fünf Annäherungen, Spielarten auf diesem weiten Bedeutungsfeld. Während sich das erste, «Schneefall im kleinen Walsertal», tastend, im Kreise drehend, in immer neu ansetzenden Wiederholungen aufmacht, das Leichte, Wirbelnde des Schnees zu ergründen, wobei mit dem «mickrigen Gramm» das Pathos von «O Flocke» und «Ach Flocke» gebrochen wird, ist das dritte Gedicht „patumbahspatz“, bei dem ein Fall zum «letzten Flug in das ersehnte Land» wird, von bittersüsser Lakonie geprägt.

 

Im ausgezeichneten vierten Gedicht «Himmel und Hölle» wiederum vermag auf dem Grundriss eines Kinderspiels eine Begegnung von anrührender Menschlichkeit zwischen einer alten Dame und einem auf sie jung wirkenden Mann das Januardunkel zu erhellen, nach einem Sturz infolge eines Schwindelanfalls.

 

Die Szene wirkt inszeniert, aus dem Alltag gehoben der Zufall, wie auch beim Kinderspiel «Himmel und Hölle» zuerst ein Spielfeld mit Strassenkreide auf den Boden gezeichnet werden muss. Das «Hölle»-Feld muss übersprungen werden, und auch hier wird die Möglichkeit des Liegenlassens, des Nicht-Reagierens in einer Zeit, in der der öffentliche Raum oft von Vandalismus, Littering und Wegschauen geprägt ist und der gegenseitige Respekt zwischen den Generationen fehlt, dieses Feld gleichsam übersprungen.

 

Das Spielfeld ist asphaltiert, die Stimmung düster, etwas gespenstisch fällt die schwarze Silhouette nach vorne, doch ineinandergehakt verlassen die beiden das Feld, ein «Winterpaar», wie es Ramnek bezeichnet, eine Vision des Zueinanderfindens zweier sich erst noch Unbekannter.

 

Vielleicht hat sich die Frau auch an ihre eigene Kindheit erinnert, worauf sie Schwindel ergriff? Beim Kinderspiel erst noch gehüpft, ist sie nun gefallen.

 

Das Gedicht kulminiert in den Versen «Und ihre Wärme und seine Wärme/ ist alle Wärme dieser Welt». Ein Kreis schliesst sich. Wer es beim Kinderspiel in den Himmel geschafft hat, macht sich wieder auf den Weg zur Erde.

 3. Preis: HUGO RAMNEK

Schneefall im kleinen Walsertal

 

O Flocke, du milchiges Gramm,

So schwer ist die Welt im Drehn.

Ach Flocke, du mickriges Gramm,

So leicht ist die Welt im Drehn.

 

So leicht ists und schwer zu verstehn:

Du kommst auf die Welt im Vergehn.

 

 

patumbahspatz

 

 

hergeflogen aus dem park

liegt er auf meinem balkon

übers geländer werf ich ihn

mit leichtem schwung zurück

sein letzter flug ein fall

in das ersehnte land

 

 

Himmel und Hölle

Im frühen Januardunkel

auf dem asphaltierten Spielfeld

hinter dem Schulhaus

zwischen den zwei Toren

eine schwarze Silhouette,

die nach vorne fällt.

Über sie gebeugt sieht er:

Auf den Feldern eines Spiels

liegt sie, die alte Dame,

Himmel und Hölle, Kinderspiel.

Die umgekippte Tasche, daneben

der Schirm und die Haube

auf dem regennassen Asphalt.

Er hilft ihr auf. Für sie

ist er ein junger Mann.

Ach, der Schwindel, sagt sie.

Durchs Januardunkel gehn sie,

ineinandergehakt, ein Winterpaar.

Nach dem Fall, vor dem Fall,

denkt er, Himmel und Hölle,

sie und er im selben Spiel.

Und ihre Wärme und seine Wärme

ist alle Wärme dieser Welt.

Kurzbiographie

HUGO RAMNEK

Hugo Ramnek, geboren 1960 in Klagenfurt, aufgewachsen an der österreichisch-slowenischen Grenze in Bleiburg/Pliberk, studierte Anglistik und Germanistik in Wien und Dublin und besuchte die Schauspiel Schule Zürich. Er lebt seit 1989 als Schriftsteller, Gymnasiallehrer und Schauspieler in Zürich.
2008 erhielt seine satirische Fabel «Das Letzte von Leopold» den Preis des Kärntner Schriftstellerverbandes. 2009 gewann er in Salzburg den erostepost-Literaturpreis für die beste erotische Geschichte. 2010 erschien im Wieser Verlag sein erster Roman «Der letzte Badegast»,  für den er im gleichen Jahr mit der Anerkennungsgabe der Stadt Zürich ausgezeichnet wurde.
Erste Gedichte werden 2011 in der Anthologie «Wo kommen die Worte her?», herausgegeben von Hans-Joachim Gelberg im Verlag BELTZ & Gelberg, veröffentlicht.
2012 nahm er an den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil.
Kürzlich ist seine neueste Erzählung «Kettenkarussell» im Wieser Verlag erschienen.

 
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