Dezember 2024 / Januar 2025
Liebe Kunst- und Literaturinteressierte, liebe Freundinnen und Freunde, herzlich willkommen auf Literatur&Kunst!
Welcome! Wir leben in Zeiten der Umbrüche, umsomehr schätzen wir eine Zeit des Innehaltens mit Büchern, die uns bereichern, unseren Horizont erweitern und die wir uns selbst und anderen schenken können. Hier sind einige weitere Buchtipps für Sie, die wir Ihnen wärmstens empfehlen.
Anne Applebaum. Die Achse der Autokraten.
«Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2024» ging für ihr Gesamtwerk an die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum (*1964 in Washington) als Expertin der osteuropäischen Geschichte. Ihre Bücher wie «Der Gulag» (2003), «Der eiserne Vorhang» (2012) und «Die Verlockung des Autoritären» (2019) wurden Bestseller und u.a. mit dem Pulitzer-Preis 2004 ausgezeichnet. «Die Achse der Autokraten» beschreibt Korruption und Propaganda, wie sich Diktatoren gegenseitig an der Macht halten. Autokraten wie Putin unterstützen rechtsextremistische Bewegungen in Europa und versorgen afrikanische Diktaturen mit Söldnern und Waffen. Seit drei Jahren führt Putin einen Angriffskrieg in der Ukraine, schürt weltweit Nahrungsmittelknappheit und treibt die Energiepreise nach oben. Der Iran finanziert seine Schergen im Libanon, in Palästina, im Jemen und im Irak. Der belarussische Diktator destabilisiert seine Nachbarländer, indem er Flüchtlinge nach Belarus und von dort aus nach Europa schleust. Kubaner und Koreaner kämpfen in der russischen Armee gegen die Ukraine. China sieht sich schon lange nicht mehr als nur asiatische Macht. Anne Applebaum offenbart, wie diese Achse funktioniert und wie die heutigen Autokraten mit ihrem Kampf gegen die Demokratie eine neue Weltordnung anstreben. Siedler Verlag, 2024.
Wolfram Eilenberger. Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung 1948-1984.
Der langjährige Chefreaktor des Philosophie-Magazins Wolfram Eilenberger moderiert u.a. die «Sternstunde Philosophie» im Schweizer Fernsehen. Sein Buch «Zeit der Zauberer» stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurde mit dem Bayrischen Buchpreis 2018 und dem renommierten Prix du Meilleur Livre Étranger in Frankreich ausgezeichnet. In seinem neuen Buch «Geister der Gegenwart» beschreibt Eilenberger anschaulich die vier Philosophen Theodor W. Adorno, Paul K. Feyerabend, Susan Sontag und Michel Foucault von der bleiernen Zeit der 50er-Jahre zur Kulturrevolution von ’68 bis zu den Verheissungen des globalen Kapitalismus. So geistesgegenwärtig wie genial revolutionieren diese die Art und Weise, wie wir über Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft nachdenken. Eine so anregende wie aufregende Lektüre. Klett-Cotta, 2024.
Édition De Caro. Alle Weisheit dieser Welt ist schon lange ausgesprochen.
Ist schon alles gesagt? Eine Newcomerin in der Literaturszene ist Herausgeberin Rachele De Caro, die zehn Autor:innen zehn Fragen unserer Zeit beantworten liess, u.a. Ilma Rakusa, Nora Bossong, Ronja von Rönne, Matthias Binswanger, Moritz Leuenberger. «Wo bleibt unsere Aufmerksamkeit?», fragt sich die Schriftstellerin Ilma Rakusa und greift zurück auf das jahrhundertalte Gedankengut des Haiku-Dichters Basho. Die zur jüngeren Generation gehörende Autorin Ronja von Rönne sinniert darüber, ob es sich lohnt erwachsen zu werden und landet bei Michael Ende und seinem Momo. Der Politiker Moritz Leuenberger und Philosoph in spe sucht Rat bei Nietzsche, Plato und Lessing. Fragen sind die besten Antworten! Édition De Caro, Einsiedeln 2024.
Mario Desiati. Spatriati.
Das Buch wurde 2022 mit dem renommiertesten Literaturpreis Italiens, dem «Premio Strega» ausgezeichnet. Mario Desiati, *1977 in Apulien, lebt in Rom, Berlin und seinem Heimatwort Martina Franca, wo auch «Spatriati» spielt. Er war Verlagslektor und hat Gedichte, Erzählungen und mehrere Romane veröffentlicht. Spatriati nennt man in Apulien die Unbestimmten, die aus der Art schlagenden, die Spinner, die nicht dazugehören wie Claudia und Francesco. Claudia ist extravagant, hat leuchtend rote Haare und ist durchsetzungsstark; Francesco, «die schwarze Traube», akzeptiert Geschlechterrollen und das Gesetz des ruhigen Lebens auf dem Lande. Als er erfährt, dass seine Mutter Claudias Vater liebt, gerät sein Leben durcheinander. Francesco folgt Claudia nach Berlin, wo ihn grenzenlose, auch sexuelle, Freiheit erwartet. Eine Hymne an die Schönheit des italienischen Südens. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024.
Marina Rumjanzewa. Schwiizerdütsch. Expedition in eine unbekannte Sprache. Identität oder Kulturschock?
Eine amüsante, leichtfüssig geschriebene und vergnügliche Lektüre über die Lieblingssprache der Deutschschweiz: Schwiizerdütsch. Marina Rumjanzewa, (*1958 in Moskau) absolvierte das Germanistikstudium an der Moskauer Linguistischen Universität, lebt seit 1990 als Autorin («Auf der Datscha. Dörlemann) u.a. für das Schweizer Fernsehen in Zürich, begab sich auf eine Expedition, die Faszination des Dialekts zu erkunden und zu hinterfragen, warum die Jungen in ihren Chats und SMS den Dialekt bevorzugen, der etwas sperrig und besonders für Uneingeweihte nicht leicht zu entziffern ist, doch augenscheinlich eine wohlige Heimat-Atmosphäre zu verbreiten scheint, gegenüber dem klar strukturierten Hochdeutsch, das Schweizer und Schweizerinnen privat kaum anwenden. Und so ist der Dialekt der verschiedenen Kantone der Deutschschweiz heimlich zur fünften Landessprache avanciert, nur vom englischem Sound konkurrenziert, der sich oft in lässigem Slang mit dem Dialekt vermischt. Mit Glossar im Anhang. Empfehlenswert, speziell für Neuzugezogene. Dörlemann Verlag, Zürich 2024.
Yvonne-Denise Köchli. Eine kurze Geschichte der Frauen. Von 1791 bis 2024.
Warum brauchte es 1791 eine Frauenrechtserklärung? Was hat die Französische Revolution mit unbezahlter Care- und Hausarbeit zu tun? Wie bringen Gendermainstreaming und europäische Gerichtshöfe die Gleichstellung voran? Ist das Patriarchat alternativlos? Was bringt uns der Popfeminismus von Beyoncé und Co.? Warum geht es mit der Bekämpfung der sexualisierten Gewalt nicht wirklich vorwärts? Was bedeuten die langen Jahre mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze für das weibliche Rollenverständnis? Was passiert mit den Frauenrechten, wenn autoritäre Machthaber das Sagen haben? Und warum bleibt die Ökonomie der grosse Stolperstein der Frauen? Die Publizistin Yvonne-Denise Köchli erinnert die Errungenschaften der feministischen Bewegung und beleuchtet Fortschritte und Ausblicke der Frauengeschichte für die Zukunft. Xanthippe Verlag, Zürich.
Ingrid Isermann, 1. Dezember 2024
160 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Japan und der Schweiz: Ausstellung in Japan würdigt Shizuko Yoshikawa und Josef Müller-Brockmann.
Im Rahmen des 160-jährigen Jubiläums der diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und der Schweiz präsentiert das Nakanoshima Museum of Art in Osaka vom 21. Dezember 2024 bis zum 2. März 2025 die Retrospektive «Space In-Between: Shizuko Yoshikawa und Josef Müller-Brockmann».
Die Ausstellung zeigt das Werk der japanischen Künstlerin Shizuko Yoshikawa und des Schweizer Designpioniers Josef Müller-Brockmann. Es handelt sich um die erste umfassende institutionelle Ausstellung des kreativen Paares in Japan, kuratiert in Zusammenarbeit mit der Shizuko Yoshikawa und Josef Müller-Brockmann Stiftung Zürich und unterstützt von der Schweizerischen Botschaft.
Die Retrospektive zeigt einerseits das Gesamtwerk der Künstlerin Shizuko Yoshikawa, andererseits die konkreten Grafikdesigns von Josef Müller-Brockmann, der massgeblich den bis heute weltberühmten «Swiss Style» mitgeprägt hat. So beleuchtet sie die einzigartige persönliche und berufliche, transnationale Beziehung dieses Künstlerpaars.
Yoshikawa und Müller-Brockmann waren in Zürich ansässige Kunst- und Designschaffende. Sie trafen sich erstmals 1960 auf der World Design Conference in Tokio, an der Yoshikawa, eine Absolventin der Tsuda University in Englisch, als Dolmetscherin teilnahm. Inspiriert von dieser internationalen Zusammenkunft zog es sie als erste und einzige weibliche japanische Studentin an die Hochschule für Gestaltung Ulm. Später arbeitete sie im Designbüro von Müller-Brockmann in Zürich. Die berufliche Zusammenarbeit entwickelte sich zu einer lebenslangen Partnerschaft, in der beide in ihren Tätigkeitsfeldern wegweisend wirkten.
Vom 28. November bis zum 11. Januar 2025 findet zudem eine Einzelausstellung mit Werken von Shizuko Yoshikawa in der Zürcher Galerie Gregor Staiger statt.
Die Pfauenbühne zeigt «Die schmutzigen Hände»: Sartre zwischen Slapstick und Politkrimi noir»
Eine Ambiance wie in einem französischen Film noir, eine Bar, ein Mann im Trenchcoat (Thomas Wodianka), eine Frau in Lederjacke (Lena Schwarz), die sich im Nebel etwas zurufen, Hugo (Steven Sowah) ist aus dem Gefängnis entlassen!
Die Choreografie setzt die Bühne unter Spannung… was für ein Auftakt! Von Anfang an vibriert die Szene, sie kommt rüber, wie die unruhigen Zeiten: Sartre zwischen Slapstick und Politkrimi!
Wie aktuell Jean-Paul Sartres Drama ist, spürt man bei jedem Wortwechsel. Politik ist eine Wissenschaft, die überzeugen will, dass die anderen auf dem falschen Weg sind. Eine Männerwelt, die Risse bekommt…
Parteichef Hoederers (Wolfram Koch) Zweckbündnis mit den Gegnern stösst auf Ablehnung bei den eigenen Leuten, man will ihn umbringen. Hugo (Steven Sowah) nimmt den Mordauftrag an und zieht mit seiner Frau Jessica (Carol Schuler) in sein Haus und trifft auf einen gewieften Realpolitiker, der bekennt, in der Politik sich auch die Hände schmutzig zu machen. Und da beginnt die Chose, die spektakulär abgeht: Carol Schuler in der fulminanten Rolle als Chansonnière und spielfreudige Kumpanin, die Systeme überschreitend…
Sartres zeitloser Politkrimi zu Macht, Abhängigkeit, Ideologie und Menschlichkeit feiert auf der Pfauenbühne Premiere und überzeugte auch das Zürcher Publikum, das der Regie von Jan Bosse, der nach sechs Jahren ans Schauspielhaus Zürich zurückkehrt, und der Inszenierung mit der Neu-Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, begeistert Applaus spendete. Hier fand am 6. November 1948 auch die deutschsprachige Erstaufführung des Stückes statt.
Das Bühnenbild von Moritz Müller, der auch ein altes Peugeot-Cabrio auf die Bühne hievte und zwischen Nostalgie und bunten Farbräumen oszillierte, hielt die Spannung aufrecht.
Ein kleines Theaterwunder in unruhigen Zeiten auf der Pfauenbühne! Premiere 5. Dezember 2024. www.schauspielhaus.ch
Ingrid Isermann, 6. Dezember 2024
Was können Sie auf Literatur&Kunst entdecken?
Die Literaturnobelpreisträgerin 2024 Han Kang: «Deine kalten Hände», Aufbau Verlag, Berlin. Erstmals geht der renommierteste Literaturpreis nach Südkorea an eine Autorin, die 2016 mit ihrem verfilmten Buch «Die Vegetarierin» Aufsehen erregt hatte, das von einer Frau erzählt, die eine Pflanze werden möchte.
100 Jahre Surrealismus! Das Centre Pompidou in Paris feiert den Surrealismus mit einer grossen Ausstellung. Wir präsentieren Ihnen die Surrealisten André Breton und Philip Soupault: «Les Champs Magnétiques. Die Magnetischen Felder»; «Was blieb von unseren Leidenschaften?», Wunderhorn 2024; Guillaume Apollinaire: «Calligrammes», Gallimard, 2021.
Die National Gallery, London zeigt «Vincent van Gogh: Poets and Lovers», das Kunsthaus Zürich präsentiert parallel eine Ausstellung mit Werken van Goghs in der Gegenüberstellung mit dem chinesisch-kanadischen jung verstorbenen Maler Matthew Wong: «Vincent van Gogh – Matthew Wong. Letzte Zuflucht Malerei». Marion Löhndorf stellt Querbezüge in ihrem Beitrag vor.
Ferner: Die grosse Retrospektive von Marina Abramović im Kunsthaus Zürich zeigt Fotografien, Videos, Performances sowie eine eigene Foto-Edition mit dem Kunsthaus «The Message». Hingehen und anschauen!
«Binia Bill – Bilder und Fragmente» sind in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur zu sehen. Die Fotografin und ihre Arbeiten werden posthum als bedeutende Vertreterin der Schweizer Fotografie des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Der gleichnamige Fotoband ist bei Scheidegger&Spiess erschienen.
«Fünfundzwanzig x Herzog & de Meuron», Steidl 2024. Das umfangreiche, bedeutende Werk der berühmten Architekten wird in diesem grossformatigen, opulenten Bildband vorgestellt. Steidl, 2024.
«Balanced Structures by Schnetzer Puskas», herausgegeben von Simonett & Baer, besticht
mit sorgfältiger Ausstattung über die Ingenieurskunst von Schnetzer Puskas, die 2023 ihr 70jähriges Bestehen mit Büros in Basel, Zürich, Bern und Berlin feierten.
«Jaretti & Luzi: Monografie Wohnbauten in Turin 1954-1974», herausgegeben von Bernd Schmutz & Dominik Fiederling. Die Turiner Architekten schufen innert zwanzig Jahren ein aussergewöhnliches Werk abseits des Mainstreams. Park Books, 2024.
Widescreen: Matthew Wong. The Kingdom, 2017. Öl auf Leinwand, 121,9 x 182,9 cm. Ein Seelenverwandter van Goghs. Kunsthaus Zürich 20. September 2024 – 26. Januar 2025.
Thomas Hüetlin. Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque: «Man lebt sein Leben nur einmal», Kiepenheuer & Witsch. Der Hollywood-Star Dietrich und der Antikriegs-Schriftsteller Remarque in einer Amour fou im Wetterleuchten der 30er Jahre, eine abenteuerliche Tour d’Horizon von der Côte d’Azur nach Hollywood.
Willi Winkler. «Kissinger & Unseld». Eine zeitgenössische Geschichte zweier Überlebender.
Die Freundschaft zwischen Weltpolitiker Kissinger und Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, Rowohlt Verlg, 2024.
«Angela Merkel. Freiheit.» Die langerwartete Biografie der ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ist nun erschienen, in Zusammenarbeit mit Beate Baumann. Kiepenheuer & Witsch, 2024. Ein Stück Zeitgeschichte der besonderen Art mit zwei deutschen Staaten.
«Neue Sachlichkeit in Mannheim. Jubiläum im Rausch der 20er Jahre in Mannheim». Eine Reportage über das fulminante Revival der Roaring Twenties von Ingrid Schindler.
«An interlude with Musa Mayer: A Daughter’s Odyssey in Art and Legacy»: Julieta Schildknecht hat die Autorin Musa Mayer über ihr Leben und ihren berühmten Künstlervater Philip Guston für Literatur&Kunst interviewt.
Wir danken Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit für Literatur&Kunst über den Tag hinaus, bleiben Sie uns treu und empfehlen Sie uns weiter.
Fürs kommende Jahr wünschen wir Ihnen eine schöne Zeit der Komplexität, Empathie und Zuversicht und frohe Festtage.
Machen Sie’s gut!
Herzlich
Ihre Ingrid Isermann, Herausgeberin