FRONTPAGE

Der Zwingli-Film: «Ein heller Geist kommt in eine dunkle Stadt»

Von Rolf Breiner

 

 

Nach dem Luther-Jahr 2017 steht 2019 ein Zwingli-Jubiläum an. Am 1. Januar 1519 trat Huldrych Zwingli, ursprünglicher Taufname Ulrich, das Amt des Leutpriesters am Zürcher Grossmünsterstift an. Stefan Haupt («Der Kreis», «Finsteres Glück») drehte einen Kinofilm über den Protestanten, Revolutionär und Reformator. Ein Gespräch mit Regisseur Stefan Haupt und Schauspieler Anatole Taubman, der Zwinglis Weggefährten Leo Jud verkörpert.

«Zwingli» – das ist nicht nur eine Geschichtsstunde, sondern auch ein lebendiges Zeit- und Sittenbild sowie Porträt eines Theologen, der die Schweizer Gesellschaft und Kultur massgeblich mitgeprägt hat. Die Zeitreise beginnt 1519, als der Bauernsohn aus dem Toggenburg, leitender Pfarrer und Magister in Glarus, von Einsiedeln kommend, das Amt eines Leutpriesters am Zürcher Grossmünsterstift antritt, just 35 Jahre alt. Das Stift gehörte dazumal zum Bistum Konstanz.
Aus eigener Erfahrung als Feldgeistlicher und Teilnehmer an der Schlacht von Marignano war Zwingli gegen das Söldnerwesen. Die Zürcher Regierung war gleicher Ansicht und liess den Leutpriester gewähren. Zwingli war volksverbunden, seine Grundlagen waren die Evangelien. Der Prediger war ein aufbegehrender, kritischer Geist, interpretierte und legte das Neue Testament verständlich fürs Volk aus. Er prangerte die katholische Obrigkeit an, animierte zum Fastenbrechen (Wurstessen bei Froschauer) und trat für die Abschaffung des Zölibats ein. Er strebte eine Übersetzung der Bibel auf Deutsch an, um sie einer breiten Bevölkerung nahe zu bringen. Das Vorhaben gelang tatsächlich, zusammen mit Gesinnungsgenossen Leo Jud realisierte er sie zwischen 1524 und 1529. Sie wurde von Christoph Froschauer gedruckt– vor Luthers Vollbibel 1535. Dessen Neues Testament kam 1522 heraus.
In den drei Zürcher Disputationen (zwischen 1523 und 1524) suchte Zwingli einen friedlichen Weg der Kirchenreformierung. Gleichwohl wurden die Kirchen gesäubert (Bildersturm). Wichtiger waren ihm Reformen im Schul-, Kirchen-und Ehewesen in Zürich. Zwingli selbst heiratete die verwitwete Anna Reinhart 1524, die ihn bereits während der Pest 1519 gepflegt hatte. Zusammen hatten sie vier Kinder. Die unterschiedliche Auslegung der Bibel mit Martin Luther bezüglich des Abendmahls konnte Zwingli beim Marburger Religionsgespräch 1529 nicht ausräumen. Ein protestantischer Konsens und Zusammengehen gegen Papst und Kaiser kamen nicht zustande.
Die Gefahr eines Glaubenskrieges zwischen den reformierten Parteien, Zürich und Bern, und den katholischen Urkantonen konnte letztlich nicht verhindert werden. Zwingli selbst nahm als Soldat am Zweiten Kappelerkrieg 1531 teil, wurde gefangen genommen und getötet.
Mit seinem Tod endet Haupts Spielfilm «Zwingli». Das Schlachtengemetzel sowie das Ende des Reformators spart er aus. Das letzte Wort (und Bild) gehört den Frauen, den fortschrittlichen wie Anna, die nicht verzagen, sondern an die Zukunft glauben, im Gegensatz zu den vorsichtigen konservativen, die sich lieber ducken.
Der stimmige Film konzentriert sich auf das Paar Huldrych und Anna, die gesellschaftlichen Verhältnisse und Umbrüche, das alltägliche Leben, soziale Verbesserungen und zwischenmenschliche Befindlichkeiten. Dabei verzichtet Haupt nicht auf drastische Szenen (Pest; Ertränken Felix Manz‘, des Anführers der Täuferbewegung in der Limmat), gibt aber der Stellung, Bedeutung und Gefühlen Annas genügend Raum. Die Reformationsbewegung und direkte Auswirkungen auf das Leben werden anschaulich vor Augen geführt, auch die Konflikte mit der beherrschenden katholischen Kirche.
Das Frauenkonvent St. Verena wurde 1524 in Zürich aufgehoben. Verkörpert im Film durch die herrschaftliche Äbtissin – eine schön inszenierte Nebenerscheinung und Randnotiz wie auch Zwinglis Reise zu Luther. Das gewonnene Kapital durch die Klosteraufhebung sollte von der Regierung für soziale Zwecke (Suppenausgabe etc.) eingesetzt werden. Das Konventhaus wurde 1551 von der Druckerei Christoph Froschauer aufgekauft (heute heisst das Gebäude «Zur Froschau»).

 

 

Stefan Haupt stellt in seinem Kinofilm Zwinglis zwölf Zürcher Jahre ins Zentrum. Ihm, seinem Team und der Filmproduktion C-Films war es gelungen, die Verantwortlichen von Kirche und Stadt Zürich zu überzeugen, das Grossmünster für Dreharbeiten einige Wochen zu sperren. Das Grossmünster wurde zeitgemäss hergerichtet, das Kircheninnere auf den Stand des 16. Jahrhunderts gebracht. Weitere Drehplätze waren Stein am Rhein, Kloster St. Georgen und Baden-Württemberg.

 

 

Wir sprachen mit dem Zürcher Regisseur über sein historisches Drama, das 5,6 Millionen Franken gekostet hat

 

Es ist vollbracht…
Stefan Haupt: …und ich bin noch nicht gekreuzigt.

 

Der «Zwingli»-Film wartet auf seinen Start im Januar 2019. Die ersten Visionierungen sind vorüber. Wie ist deine Erwartungshaltung?
Es gibt eine innere und äussere Seite. Mich persönlich hat sehr interessiert, welche Welt wir heraufbeschwören und wieviel Inhalt wir im Film verpacken können, ohne dass es ein pädagogischer oder christlicher, eben kein Zeigefinger-Film wird. Von mir aus kann ich sagen: Ich bin sehr tief glücklich mit dem, was uns gelungen ist. Wie dann die Resonanz beim Publikum ist, wird sich zeigen. Die Anzeichen bis jetzt sind sehr gut.

 

Eine Persönlichkeit wie Zwingli, sein Tun und Wirken in einem Spielfilm zu beschreiben, ist schwierig. Dein Film umfasst die Jahre 1519 bis 1931, bis zu Zwinglis Tod. Wo sahst du die Schwerpunkte, was war dir wichtig?
Eine spannende Herausforderung war die Frage: Wie stark können wir uns in diese Zeit zurückversetzen? Können wir die Prägung von heute beiseitelassen und uns zurückdenken, wie muss man sich das vorstellen? Der Gedanke war: Ein heller Geist kommt in eine dunkle Stadt. Zwingli besass eine Helligkeit und Urbanität, Offenheit und Schlauheit. Er brachte eine Neugierde mit. Das trieb ihn an: Wenn die Bibel so wichtig ist, müssen die Leute doch auch wissen, was drin steht.

 

Zwingli wurde nach Zürich als Leutpriester berufen. Welche Funktion hatte dieses Amt?
Ein Leutpriester hatte pfarrliche Rechte und Aufgaben, er ist in der Hierarchie weniger hoch als ein Chorherr, der zuständig ist für verschiedene Altäre und sie verwaltet. Zwingli wurde später auch Chorherr, aber das erzählen wir im Film nicht. Andrea Zogg spielt den Chorherren Hoffmann in unserem Film, er war der Vorgänger Zwinglis, ist zuerst für, dann gegen ihn, als Zwingli pointiert Position bezogen hat und die Sprache der Leute in der Kirche benutzte. Der Chorherr empfand das Handeln Zwinglis als Denunzierung des Amtes.

 

Was hat dich an diesem Mann fasziniert, der diese Zeit mitgeprägt hat?
Der Satz «Veränderung ist möglich» hat mir sehr gefallen. Man kann eine Situation aus zwei Blickwinkeln anschauen: Da sind einerseits die Sachzwänge, die so gross sind, dass der einzelne fast demütig sein muss und anerkennen, dass er nur wenig ausrichten kann. Andererseits gilt das Gegenteil: Bei allen Sachzwängen, Hierarchie usw. hat die einzelne Person viele Möglichkeiten, den Unterschied zu machen. In diesem Sinn finde ich Zwingli sehr spannend. Er ist nicht einfach vom Himmel in eine Zeit gefallen. Die Zeit hat gebrodelt. Es gab einen Kick, in Zürich beispielsweise vom Bürgermeister und den Zünften. Man wollte das Söldnerwesen abschaffen, wollte nicht, dass die jungen Leute sich verdingen, als korrumpierte, kaputte «Vietnam-Veteranen» zurückkommen, nur noch saufen und herumhuren.

 

Das historische Drama spielt auf zwei Ebenen – einer gesellschaftlich-politischen und einer privaten. Wie war dein Konzept – ein historisch genaues Zeitbild zu zeichnen, den Prediger und Menschen Zwingli zu hinterfragen?
Das sind durchaus zwei Ebnen. Mir gefällt dabei immer die Durchmischung, wenn es ambivalent wird. Was sind die Triebfedern hier wie dort? Zwinglis persönliches, privates Leben ist höchst politisch. Er steht zu seiner Geliebten, zu seiner Frau auch gesellschaftlich und bewirkt dadurch einiges.

 

Es gibt im Film das Bild einer zerbrochenen Schale, das mehrfach vorkommt. Was verbirgt sich dahinter?
Anna bringt Zwingli erstmals die Schale ans Krankenbett während der Pest und meint damit: Ich bin dein Gefäss, brauch mich oder brich mich. Zwingli überlebt und nimmt das Gefäss, die Aufgabe an. Nach einer Auseinandersetzung zerbricht das Gefäss. Was ist zerbrochen? Die Interpretation möchte ich den Zuschauern überlassen. Am Ende vergräbt Anna die Scherben bei Kappel. Für mich ist es wie eine Urne, die man der Erde zurückgibt, wie eine Hommage, eine Würdigung. Zwingli wurde nach seiner Tötung auf dem Schlachtfeld verbrannt. Er hat kein Grab. In dieser Szene können wir ihm einen Ort, eine Art ein Grab geben.

 

Mit dieser Geste hat Anna Frieden mit ihrem Mann geschlossen. Und am Ende bleiben die Frauen zurück, sind erwacht. Ist das ein feminines Ausrufezeichen?
Das scheint mir überinterpretiert. Richtig ist, dass Anna Zwinglis Geist weiterträgt. So sagt sie den Satz: «Ich weiss, es gibt nichts anderes, wir müssen auf der Suche sein.» Wenn Fundamentalisten meinen, die Suche sei abgeschlossen: Nein, sie ist es nicht!

 

 

Der Schweizer Anatole Taubman ist ein internationales Gewächs, am Abend vor Heiligabend 1970 in Zürich geboren, Maturand in Einsiedeln und seit zwanzig Jahren Schauspieler. Seine Eltern stammen aus Königsberg (Vater) und Wien (Mutter). Er ist auf der Welt zuhause, pendelt zwischen Berlin und der Schweiz. Er war in einer kleinen Rolle (Otto) 2003 auch in der internationalen Produktion «Luther» (Regie: Eric Till) zu sehen, mit Joseph Fiennes als Martin Luther, Sir Peter Ustinov als Friedrich der Weise und Bruno Ganz als Johann von Staupitz. Jetzt agiert Taubman im «Zwingli»-Film als Wegbegleiter und Übersetzer Leo Jud.

 

Anatole, das Mittelalter sollte dir als Filmschauspieler nicht fremd sein – nach Rollen in «Die Päpstin» oder «Die Säulen der Erde». Nun bist du in die Reformationszeit als Zwinglis Weggefährte, Leo Jud, eingetaucht. Wie stark hast du dich mit dieser Zeit befasst?
Anatole Taubman: Ich bin per se ein grosser Geschichtsfan und hatte das Glück, tolle Geschichtslehrer gehabt zu haben, die mir eine grosse Faszination für Geschichte mitgegeben haben. Dann ist es ein Traum als Schauspieler, sich zu verkleiden, möglichst authentisch in Kostüm und Haarschnitt mit dreckigen Fingernägeln und Gesicht eine Zeit echt wiederzugeben – im Jahr 2018. Ich hab’s geliebt, ins 16. Jahrhundert einzutauchen.

 

Wie beurteilst du die Hauptfiguren Zwingli und Jud?
Zwingli war Politiker und Stratege, Leo Jud das Gehirn der Schweizer Reformation, ein fanatischer, besessener Gelehrter.

 

Bist du selber religiös? Wie stehst du zum Glauben, zur Reformation?
Ich glaube, dass es über uns eine Macht, ein Licht, eine Kraft gibt, die unser Leben nachhaltig hier und jetzt bestimmt. Ich glaube an Schicksal und nicht an Zufall. Ob diese höhere Macht Jesus, Gott, Mohammed, Allah, Krishna oder wie auch immer heisst, muss jeder für sich bestimmen. Es gehört zu den Grundrechten des Menschen, seinen eigenen Glauben wählen zu dürfen. Eine der Hauptsäulen der Schweiz entstand in der Revolution des 16. Jahrhunderts.

 

Du bist in der Schweiz aufgewachsen. Was verbindet dich mit Zwingli, Zürich und die Reformation?
Für mich ist Zürich ein Nachhausekommen. Mit Zwingli verbindet mich heutzutage viel, er ist auch für moralische ethische Werte eingestanden – selbstlos, ohne die ein Zusammenleben nicht funktioniert. Respekt!

 

Du hast einige internationale Filmproduktionen erlebt – von James Bond bis «Captain America». Die Budgets sind grösser, ebenso Aufwand und Personal. Wo liegen die grössten Unterschiede im Vergleich zu einer Produktion wie «Zwingli»?
Ich erwähne dazu «das Men in Black – Spin OFF», Teil 4, diesen Sommer. Kosten: 200 Millionen Dollar. Der Hauptunterschied liegt im Budget, am Geld. In US-Produktionen herrscht eine viel stärkere Hierarchie und Struktur.

 

Du bist vielseitig zu sehen, auch in Fernsehproduktionen in «Dark», «Waking the Dead», im Bozen Krimi oder in der französisch-kanadischen Fernsehserie «Versailles“ (in der ersten 2015). Du bist gut im Geschäft. Welche Rollen reizen dich am meisten?
Ich bin ein grosser Fan von historischen Filmen. Am liebsten würde ich den Vicomte de Valmore in «Dangerous Liaisons» spielen.

 

Du bist Ende November Vater eines Sohnes namens Henri geworden. Wirst du nun etwas kürzer treten?
Das ist mein Ziel. Jetzt bin ich bei der Neuverfilmung des HBO’s TV Serien-Adaption des Comics «Watchmen» dabei. Also wird das in den nächsten drei Jahren schwierig sein. Meine Tochter in Berlin, Tara (15), macht ihren IP in drei Jahren, deswegen werde ich weiter pendeln zwischen Berlin und der Schweiz.

 

Bleibt da noch Zeit für den Fussball und Manchester United?
Ich bin dabei – dank iPhone. Fussball ist der einzige Grund, weswegen ich ein iPhone habe. Mein Traum ist ja, Radiomoderator eines Fussballspiels zu werden.

 

Da hast du ja einen versierten Schwiegervater, nämlich Beni Thurnheer…
Ja, dann täte ich mich mit Beni zusammen.

 

 

Nachtrag

Der Spielfilm «Huldrych Zwingli, der Reformator» (54 Minuten) von 1983 ist eine Condor-Produktion (Regie: Wilfried Bolliger, Florian Steiner als Zwingli), der knapp und gedrängt einige markante Ereignisse aus Zwinglis Leben skizziert.

Der Kurzspielfilm «Zwinglis Erbe» (55 Minuten), eine Eutychus Produktion und Crowfunding-Projekt, wurde vom Trio Alex Fröhlich, Micha Kohli und Oskar Fröhlich 2018 realisiert mit Reinhard Fust als Zwingli, Richard Rabelbauer als Leo Jud und Mirjam Nef als Anna. Zu sehen an speziellen Orten z.B. EGA Zürich.

 

 

Gespräch mit Fanny Bräuning zu ihrem Film «Immer und ewig» – Liebe und Leben auf Rädern
Von Rolf Breiner

Ein Leben mit Handicaps: Die Basler Filmerin Fanny Bräuning (43) hat ihre Eltern auf Camperreisen im Mittelmeerraum begleitet. Ein schwieriges Unterfangen, denn ihre Mutter Annette (70) ist seit Jahrzehnten vom Hals abwärts gelähmt und ihre Vater Niggi (71) Mädchen für alles – Fahrer, Tüftler, Fotograf, Pfleger und fürsorglicher Ehemann. «Immer und ewig» – ein sehr persönlicher Film, Roadmovie, Dokument zweier Leben und einer Liebe. Er wurde in Solothurn mit dem Prix de Soleure ausgezeichnet, dotiert mit 60 000 Franken.

 

Mit grosser Liebe, Hingabe und Ausdauer – drei seiner herausragenden Eigenschaften – hat Niggi Bräuning einen Bus behindertentauglich gemacht. Das musste sein, denn seine Frau Annette leidet seit 40 Jahren an MS (Multiple Sklerose) und ist seit zwanzig Jahren vom Hals abwärts gelähmt. Aber vom Reisen wollte sich das Paar wegen dieses Handicaps nicht abbringen lassen. Reisen ist ihr Lebenselexier, ihre Art, das Leben zu meisten und lebenswert zu erhalten. Nebenbei kann Niggi, der seinen Beruf als Fotograf (Preis des Europarates 1971, Preis Beste Schweizer Plakate 1975 und 1976) aufgegeben hatte, seiner Passion als Fotograf frönen, wird zum Jäger nach besonderes Sujets, dem richtigen Licht und Augenblick.

Tochter Fanny Bräuning (43) die für ihren Dokumentarfilm «No More Smoke Signals» 2009 den ersten Prix de Soleure an den Solothurner Filmtagen erhielt, hat ihre Eltern mehrere Jahre punktuell begleitet – von Basel nach Albanien, Rumänien, Griechenland und Italien (Sizilien). Die Kamera war dabei, als Niggi alle Schwellen für den Camper auf der Fähre meisterte, als er einen kleinen Infight mit seiner Frau beim Frisieren ausfocht, dann wieder zärtlich berührte und küsste, als er auf Fotopirsch ging, als beide Sonnenuntergängen und andere Reisemomente still genossen. Beide Protagonisten waren auch an der Schweizer Premiere des Films «Immer und ewig» an den Solothuner Filmtagen im Januar präsent und freuten sich still über die Aufmerksamkeit und den Beifall des Publikums. Wir trafen die Filmautorin Fanny Bräuning, die einen zwanzigjährigen Sohn hat und seit 14 Jahren in Berlin lebt. Sie erzählte von ihrer Arbeit mit ihren Eltern, beschrieb ihre Doppelrolle als Tochter und Filmerin.

 

Du hast deine Eltern auf mehreren Reisen begleitet und diese Eindrücke zu einem Film zusammengefügt. Unter anderem fällt auf, mit welcher Leidenschaft dein Vater mit der Kamera unterwegs ist. Was treibt ihn?
Fanny Bräuning: Er verwertet die Bilder nicht professionell, er hat einfach Freude am Gucken, ausserdem fotografiert er für meine Mutter, um ihr zu zeigen, was sie nicht sehen konnte. Seine Kamera dokumentiert, was er für sich entdeckt hat, und wird zum verdichteten Blick, der schöne lebenswerte Dinge festhält.

 

 

Deine Ambition ist doch auch das Einfangen von Momenten…
Ja schon. Aber ich muss dabei dramaturgisch denken und mich fragen, wie kann dieser Moment Teil der Geschichte sein.

 

Ist das alles spontan entstanden, oder gab es ein Konzept, ein Drehbuch?

Man muss, um Geld zu bekommen, ein Buch vorlegen. Ausserdem bin ich drei Wochen mit ihnen gefahren – mit der Kamera, die mehr als Notizbuch diente, quasi als Recherche.

 

 

Und da boten sich Fixpunkte an…?
Es gibt Rituale, die immer gleich ablaufen wie das Anziehen, der Transfer in den Rollstuhl, und anderes. Bei anderen Szenen waren wir natürlich stark vom Zufall abhängig. Und ich wollte natürlich auch Gespräche einbauen. Der Camper wirkt als verdichteter Raum wie in einem Kammerspiel und gleichzeitig ist der Film ein Roadmovie geworden.

 

 

In den Gesprächen wird auch die Frage nach Opfer und Hingabe gestellt? Wie empfindest du diese Aspekte?
Mein Vater hat vieles aufgegeben, eben auch seine Karriere als Fotograf. Er selber sieht das aber nicht als Opfer. Das fand ich spannend.

 

 

Für mich annonciert der Titel «Immer und ewig» auch, dass es um Liebe geht. Siehst du das auch so?
Für mich ist es ist ein Liebesfilm, zwischen den beiden, aber auch über die Liebe zum Leben: Wo findet sinnvolles Leben statt, worin kann man auch Erfüllung finden? Für mich hat der Titel auch eine gewisse Brüchigkeit. Etwa in diesem Sinn: Ich kenne meine Mutter schon ewig mit Handicap, also zuerst am Krückstock, dann im Rollstuhl.

 

 

Was hält sie, was hält beide am Leben?
Es ist sicher auch die Beziehung, meine Mutter ist nicht allein. Und ich denke allgemein die Grundhaltung von beiden, sich nicht zu bemitleiden, sondern das Beste aus ihrem Leben zu machen.

 

 

Wie bist du mit deiner Doppelrolle klargekommen?
Da waren verschiedene Fragen zu lösen wie beispielsweise: Wie wird die Tochter spürbar, wie äussert sie sich? Ich musste als Erzählerin vorkommen und wollte gleichzeitig die Kamera sein, sie sollte mein Blick sein. Ich komme selten vor die Kamera, nur wenn meine Mutter mich ruft und Hilfe braucht oder mein Vater mich holt. Diese Doppelrolle war herausfordernder, als ich gedacht habe. Es ist ja schon anstrengend, Regie zu führen, und dazu noch Tochter sein… Man bleibt ja immer das Kind seiner Eltern.

 

 

Wie hast du die emotionellen und existentiellen Fragen geplant, umgesetzt?
Viele der Fragen hatte ich von Anfang an. Bei der Frage «Vermisst du deinen Beruf als Fotograf?» beispielsweise habe ich nach einem szenischen Moment gesucht, wo er in seinem Element und ganz Fotograf ist. Das war dann der Fall bei dem Castell, wo mein Vater nach dem richtigen Licht sucht. Da habe ich seine Arbeit und seinen Verzicht angesprochen. Dann gibt es Gespräche in Interviewsituationen, wo ich Verschiedenes anspreche.

 

 

Eine entscheidende Situation für mich ist, als dein Vater sagte: Ich kann nicht anders, ich mache keine halbherzigen Sachen. Er geht aufs Ganze.

Ja, für ihn war die Entscheidung ganz klar. Beides: Fotograf sein und meine Mutter pflegen, geht nicht. Also hat er seinen geliebten Beruf aufgegeben. Aber er liebt es immer noch, auf ihren Reisen zu fotografieren. Meine Mutter sagt, er sei immer noch Fotograf… Dieser Teil seiner Identität ist ja nicht gestorben. Er ist immer noch er.

 

 

Wunderbar sind die Zeichnungen deiner Mutter, die du anfangs zeigt: Eine Frau, die immer weniger wird. Was hat es damit für eine Bewandtnis?
Es entstand ein Jahr vor meiner Geburt, also 1974. Da wusste sie nicht, dass sie MS hat. In dieser Reihe einer Frauenfigur bleiben am Ende ein Kopf, eine Explosion und eine Wolke. Heute fühlt es sich wie eine Prophezeiung an.

 

 

Haben diese Zeichnungen einen Titel?
Meine Mutter war Grafikerin und sagt, das Bild hätte keinen Titel. Für mich ist es «Die verschwindende Frau».

 

 

Wie haben deine Eltern den Film aufgenommen?
Beide waren ja auch bei der Premiere in Leipzig dabei. Sie wurden gefeiert und auf der Strasse angesprochen. Meiner Mutter hat der Film gefallen, meinem Vater auch. Doch der Fotograf hätte gern dieses oder jenes im Film gehabt, etwas, was ihm wichtig erschien. Er hätte sicher einen anderen Film gedreht.

 

 

Ist die Reiselust deiner Eltern nach wie vor ungebrochen?
Ja, im letzten Jahr waren sie im Frühling sechs Wochen in Tunesien, im Sommer in Wales und im Herbst wieder auf griechischen Inseln. Sie sind unterwegs, solange es geht.

 

 

 

«54. Solothurner Filmtage 2019: Suche nach Lebenssinn»
Von Rolf Breiner
Wie alljährlich laden die Solothurner Filmtage zum Entdecken und Wiedersehen ein – vom 24. bis 31. Januar 2019. 165 Kurz- und Langfilme, neue, aktuelle und alte, werden aufgeführt. Ein Trend lässt sich herauslesen: Viele Filme forschen und fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Befindlichkeiten und Beziehungen. Eröffnet werden die 54. Filmtage mit Aaron Nicks Dokumentarfilm «Tscharniblues II» – in Anwesenheit von Bundesrat Alain Berset.
 

Direktorin Seraina Rohrer stellte gleich zu Anfang der Präsentation der 54. Filmtage in Solothurn fest, dass viele der aufgeführten Filme die Sinnfrage stellten, die «Frage nach dem Sinn des Lebens, und sich mit Religionen befassten» – quer durch die Genres, bei Kurz-, Lang- wie Dokumentarfilmen. Da wäre an erster Stelle der historische Spielfilm «Zwingli» von Stefan Haupt zu erwähnen, der ein lebendiges Bild des Zürcher Reformator zeigt (Kinostart am 17. Januar, siehe auch Interviews in dieser Ausgabe), nominiert für den Prix du Public 2019 (warum nicht für den Prix de Soleur?). Im Publikumswettbewerb, dotiert mit 20 000 Franken, taucht auch die Beziehungsgeschichte «Le vent tourne» von Bettina Oberli auf. Dabei stört der Erbauer einer Windturbine die naturverbundene Zweisamkeit eines selbstgenügsamen Paares. Sie stellt ihr Leben in Frage und entscheidet sich neu.
Für die Liebe ist es nie zu spät: Davon berichtet der Dokumentarfilm «Les dames» von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond – verschmitzt, melancholisch, optimistisch. Christoph Schaub hat sich auf die Spuren sakraler Baukunst und umbauter Räume gemacht: «Architektur der Unendlichkeit» ist eine intelligente Bildreise, die hoch greift und nachdenklich stimmt.
Dieses Programm ergänzen wie Filme «Ceux qui traivaillent» von Antoine Russbach über einen Familienvater, der eine wegweisende Entscheidung trifft; wie «Bêtes blondes» von Alexia Walther und Maxime Matray über einen seltsamen Fund; «Gateways to New York» von Martin Witz folgt einem Schweizer Brücken-Ingenieur, «Insulaire» von Stéphane Goel beschreibt den Kampf von Insulanern; «Ly-Ling und Herr Urgesi» von Giancarlo Moos den Clinch einer Modedesignerin und eines Massschneiders; «Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?» von Kerstin Polte den Ausbruch Charlottes aus ihrem Leben; «My Little One» von Frédéric Choffat und Julie Gilbert schildert eine Begegnung in Arizona; «Sashinka» von Kristina Wagenbauer eine Musikerin, die mit ihrer Mutter konfrontiert wird.
Sinn des Lebens – Lebenssinn. Fanny Bräuning schildert die Bemutterung ihrer Mutter, die an MS erkrankt ist in «Immer und ewig». «Der Büezer» (Joel Basman) ist nach dem Tod seiner Eltern auf sich allein gestellt und lernt eine andere Welt kennen – ein Spielfilm von Hans Kaufmann, nominiert für den Prix de Soleure 2019, dotiert mit 60 000 Franken. Der Sohn lernt die Geliebte seines Vaters (Dani Levy) kennen, und der «Sohn meines Vaters» kommt ins Schleudern – von Joshua Dreyfus. «Pearl» ist auf dem besten Weg, als Bodybuilderin ausgezeichnet zu werden, ein Spielfilm von Elsa Amiel. Ein ganz starker Dokumentarfilm ist Nino Jacussos «Fair Traders». Er beschreibt einen Unternehmer, eine Unternehmerin und ein Paar auf dem Land, das auf Bio setzt – sei es auf Wiederverwertung und Sozialhilfe, Biobaumwolle in Indien und Afrika oder auf landschaftliche Produkte in der Schweiz. Engagierte Menschen, die beweisen, dass man auch biologisch nachhaltig wirtschaften und profitieren kann. Den Soleure-Wettbewerb vervollständigen die Dokumentarfilme «Digitalkarma» von Mark Olexa und Francesca Scalisi, «Eisenberger – Kunst muss schön sein, sagt der Frosch zur Fliege» von Hercli Bundi sowie «Tscharniblues II», der Eröffnungsfilm. Regisseur Aron Nick nahm es Wunder, was mit den Protagonisten im Film «Dr Tscharniblues» passiert ist – vierzig Jahre danach. Was ist aus ihren Idealen geworden?
Die Spanne im Spielfilm-Panorama ist gross und weit: Sie reicht vom «Schönsten Mädchen der Welt» (Aron Lehmann) bis zum «Höllentor von Zürich» (Cyrill Oberholzer), vom «Läufer» (Hannes Baumgartner) und «Fortuna» (Germinal Roaux) bis zu «The Drive» (Yona Rozenkier), «Zone rouge» (Cihan Inan) und «Wolkenbruchs wundersame Reise…» (Michael Steiner). Nicht zu vergessen der etwas bizarre Liebesstreifen mit (moderner) Teufelsaustreibung «Der Unschuldige» von Simon Jaquemet.
In der Sektion Dokumentarfilm finden sich beispielweise Werk wie «Eldorado» (Markus Imhoof), «Subito – Das Sofortbild» (Peter Volkart), «#Female Pleasure» (Barbara Miller), der erfolgreichste Schweizer Dokumentarfilm 2018 mit rund 40 000 Besuchern, und «Genesis 2.0» (Christian Frei), für mich der beste und wichtigste Dokfilm des Jahre 2018.
Kurz- und Trickfilme gehören zum Solothurn-Programm wie das «Kreuz», der Nebel und die Aare. Ein Insidertipp für Freunde des schwarzen Humors: «Tote Tiere» (17 Minuten) von David Oesch und Remo Rickenbach. Die Retrospektive (Rencontre) ist 2019 dem Neuenburger Schauspieler Bruno Todeschini gewidmet. Diese filmische Reise führt von 1992 «La sentinelle» und 1995 «Á cran» über 2005 «Gentille» und 2010 «Orly» bis 2016 «Sette giorni» und «La propera pell». Aktuell ist er in der TV-Serie «Double vie» zu sehen (sechs Episoden in der Staffel 2019). Er wird am 27. Januar eine Masterclass leiten und am 26. Januar am Podiumsgespräch «Revolver live! – Unter Schauspielern» teilnehmen. Eine spezielle Hommage ist den verstorbenen Filmschaffenden Yves Yversin («Les petites fugues», 1979) und Alexander J. Seiler («Geysir und Goliath», 2010) zugedacht.
Das Koproduktionsabkommen Schweiz – Mexiko steht im Fokus der Filmtage. Eine kleine Auswahl (vier Dok- und sechs Spielfilme) wird gezeigt. Unter dem Motto «Schweizer Filme neu entdecken» gibt’s ein Wiedersehen mit Markus Imhoofs «Das Boot ist voll» (1981), «Das Fräulein» (2006) von Andrea Štaka, «War Photographer» (2201) von Christan Frei, «Der 10. August – Angst vor der Gewalt» (1957) von Franz Schnyder oder oder «Die letzte Chance» (1945) von Léopold Lindtberg.
Den Schweizer Trickfilmen ist diesmal eine Ausstellung gewidmet: «Swiss Animation – bewegt!» im Künstlerhaus S11, anlässlich des 50 Jahre-Jubiläums der Trickfilmgruppe GSFA .

Die Solothurner Filmtage bieten traditionell nicht nur traditionell Heimspiel und Schaufenster einheimischen Filmschaffens, sondern auch Fenster für «fremde» Werke und Gäste. Die Fakten: 165 Filme werden aufgeführt (2018: 159, 2017: 179 Filme). Das Budget 2019 beträgt 3,24 Millionen Franken, davon machen 988 000 Franken, also 30,5 Prozent, öffentliche Mittel (Bund, Kanton, Stadt etc.) aus, gut ein Drittel etwa Sponsoren und ein Drittel Eigenleistungen. 2017 wurden 65 817 Eintritte, 2018 indes 64 588 Eintritte registriert.

Zu bemerken ist auch, dass die Filmtage sich ausserordentlich für den Nachwuchs, sprich für Schüler und Schülerinnen einsetzen. Gegen 5 000 werden 25 spezielle Aufführungen besuchen – aus Solothurn, Olten und Grenchen.

Informationen und Vorverkauf:
www.solothurner-filmtage.ch

 

 

And the Oscar goes to….

 

Die Show fand dieses Jahr ohne Moderation statt und sorgte dennoch für Überraschungen, die Favoritin Glenn Close ging leer aus, hingegen gewann die Hauptdarstellerin im Film «The Favourite» den Oscar.

Bester Film: «Green Book» von Peter Ferrelly, sehr verdient
Regie: Alfonso Cuaron für «Roma», eher überschätzt,
Hauptdarsteller: Olivia Colman in «The Favourite»
Nebendarstellerin: Regina King in «If Beale Street Could Talk», ein aussergewöhnlich berührender Film über Rassenwahn
Nebendarsteller: Maherashala Ali in «Green Book»
Nicht englischsprachiger Film: «Roma» von Alfonso Cuaron
Kamera: Alfonso Cuaron für «Roma»
Originaldrehbuch: «Green Book»
Dokumentarfilm: «Free Solo»

Adaptiertes Drehbuch: Spike Lee für «BlackKKlansman»
25. Februar 2019

 

 

 

«Die Gewinner der 76. Golden Globe Awards in Los Angeles»
 

I.I. Die Golden Globes, seit 1944 verliehen, gelten als Stimmungstest für die Oscars, die am 24. Februar 2019 verliehen werden. Nicht der favorisierte Film «A Star is born» von Lindsay Cooper machte das Rennen, – hier gewann nur die amerikanische Sängerin und Schauspielerin Lady Gaga einen Golden Globe für den besten Filmsong «Shallow» -, sondern die Filmbiografie «Green Book». Der amerikanische 44jährige Schauspieler Mahershala Ali wurde als bester Nebendarsteller für seine Rolle in «Green Book» geehrt. Darin spielt er einen schwarzen Jazz-Pianisten, der in den 1960er Jahren mit seinem weissen Chauffeur durch die US-Südstaaten reist und mit Rassismus konfrontiert wird.
Oscar-Preisträger Ali («Moonlight»») setzte sich bei der Globe-Verleihung gegen Timothée Chalamet («Beautiful Boy»), Adam Driver («BlacKkKlansman»), Richard E. Grant («Can You Ever Forgive Me?») und Sam Rockwell («Vice») durch.
Der Film «Bohemian Rhapsody» über Queen-Frontmann Freddie Mercury gewann den Golden Globe als bestes Filmdrama. Hauptdarsteller Rami Malek wurde zum besten Drama-Darsteller gekürt.
Die amerikanische Schauspielerin Regina King gewann ebenfalls einen ersten Golden Globe in ihrer Karriere für ihre Rolle in der Buchverfilmung «If Beale Street Could Talk» als beste Nebendarstellerin. Sie setzte sich gegen Claire Foy («Aufbruch zum Mond»), Amy Adams («Vice»), Emma Stone («The Favourite – Intrigen und Irrsinn») und Rachel Weisz («The Favourite – Intrigen und Irrsinn») durch.

 

Bester Regisseur
Der Mexikaner Alfonso Cuarón hat für das Schwarz-Weiss-Drama «Roma» den Golden Globe als bester Regisseur gewonnen. Er holte auch den Preis in der Sparte «bester nicht-englischsprachiger Film». In dem Familienporträt schildert Cuarón das Leben von Haushälterinnen im Mexiko der 70er Jahre (siehe Filmtipps Literatur & Kunst).
Mit Cuarón waren Bradley Cooper («A Star Is Born»), Peter Farrelly («Green Book»), Spike Lee («BlacKkKlansman») und Adam McKay («Vice») nominiert.
 
Beste Hauptdarstellerin Komödie / Musical
Die britische Schauspielerin Olivia Colman hat ihren zweiten Golden Globe gewonnen. Die 44-Jährige wurde zur besten Hauptdarstellerin in der Sparte Komödie/Musical gekürt. In der Tragikomödie «The Favourite – Intrigen und Irrsinn» des Griechen Yorgos Lanthimos spielt sie die britische Queen Anne im frühen 18. Jahrhundert, um deren Liebe zwei Hofdamen buhlen.
Colman setzte sich gegen Emily Blunt («Mary Poppins‘ Rückkehr»), Elsie Fisher («Eighth Grade»), Charlize Theron («Tully») und Constance Wu («Crazy Rich») durch.

 

Beste Filmkomödie
Die Tragikomödie «Green Book» von Regisseur Peter Farrelly gewann den Golden Globe als beste Filmkomödie.

 

Beste Schauspielerin
Die amerikanische Schauspielerin Glenn Close (71) ist mit dem Golden Globe als beste Schauspielerin in einem Filmdrama ausgezeichnet worden. Sie holte die begehrte Trophäe in der Nacht zum Montag mit ihrer Hauptrolle in «The Wife». Es ist ihre dritte Globe-Auszeichnung in ihrer langen Karriere.
In der Drama-Sparte setze sich Close gegen Lady Gaga («A Star Is Born»), Melissa McCarthy («Can You Ever Forgive Me?»), Nicole Kidman («Destroyer») und Rosamund Pike («A Private War») durch.

 

Bester Schauspieler
Der amerikanische Schauspieler Rami Malek (37) wurde zum besten Hauptdarsteller in dem Drama «Bohemian Rhapsody» über Queen-Frontmann Freddie Mercury gekürt. Er verkörpert den 1991 gestorbenen Sänger mit Verve und Brillanz, und nicht zuletzt mit seinen selbst gesungenen Songs wie «Killer Queen», «Bohemian Rhapsody», «We Are The Champions» und «We Will Rock You». Queen war eine der legendärsten Rockbands aller Zeiten.
Malek schlug bei der der 76. Globe-Gala die Mitstreiter Bradley Cooper («A Star Is Born»), Willem Dafoe («At Eternity’s Gate»), John David Washington («BlacKkKlansman») und Lucas Hedges («Boy Erased») aus dem Rennen.

 

Bestes Filmdrama
Der Film «Bohemian Rhapsody» über Queen-Frontmann Freddie Mercury hat den Golden Globe als bestes Filmdrama gewonnen.

7. Januar 2019

 

 

Filmtipps

Fair Traders
rbr. Es geht auch anders! Es müssen nicht immer genormte Massenprodukte sein, die schön aussehen, aber nach nichts schmecken wie viele Tomaten im Winter oder Frühling. unter fragwürdigen Bedingungen hergestellt und vermarktet. Nino Jacusso (63) hat sich an die Fersen von drei Produzenten geheftet, die alternative Wege suchten und fanden. Der Filmemacher Nino Nino Jacusso, mit italienischen Wurzeln und in Solothurn heimisch geworden, nahm es wunder, wer dahintersteckt, wer biologische Alternativen gesucht und gefunden hat, wie man damit überleben kann. Als Textilingenieur und ehemaliger Garnhändler kennt er sich auf dem Weltmarkt aus. Der Schweizer Patrick Hohmann (68) gründete 1983 die Remei AG, die Baumwolle für den Weltmarkt aufkaufte. Als er feststellen musste, dass die Produzenten ihre Verdienste massenhaft in Pestizide investieren mussten, lancierte er den Anbau von Biobaumwolle in Indien und Tansania. Als Coop einstieg, wurde die Initiative ein Erfolg. Rund 6000 Vertragsbauern sind hier involviert und konnten einen besseren Lebensstandard und höhere soziale Sicherheit erreichen.
Sie begann als Werbefachfrau und wurde zur Textilunternehmerin, quasi nebenbei Trägerin des Bundesverdienstkreuzes 2015. Die Augsburgerin Sina Trinkwalder (41) gründete vor 19 Jahren die Textilfirma «manomama», in der sie auf dem Markt benachteiligte Menschen beschäftigte, und 2017 das soziale Unternehmen BRICHBAG, in der aus Restmaterialien Rucksäcke für Obdachlose hergestellt und verschenkt werden. Die Unternehmerin und Buchautorin («Wunder muss man selber machen», 2013; «Im nächsten Leben ist es zu spät», 2017) hat mit ihren rezyklierten Produkten neue Absatzmärkte eröffnet und erobert.
Bioläden findet man heutzutage fast überall auf dem Lande. Die ehemalige Kindergärtnerin Claudia Zimmermann verwirklichte zusammen mit ihrem Matthias einen Lebenstraum. Das Paar übernahm den elterlichen Bauernhof und eröffnete 2016 einen Dorfladen in Küttighofen, SO. Ihr Biohof hält Rinder und Schweine, sie bauen Getreide (Dinkel, Hafer, Weizen), Gemüse und Kartoffeln an. Sie haben sich durchgebissen, auch wenn es ein hartes Bio-Brot ist.
Drei Beispiele, drei Unternehmungen, die Mut machen. Nino Jacusso hat diese Initianten alternativer Produktionen begleitet. Kein Schul- oder Lehrfilm, sondern ein spannendes Dokument darüber, dass Utopien wirklich werden und einiges verändern können, im Kleine und vielleicht auch einmal im Grossen, im Globalen.
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Der Goldene Handschuh
rbr. Eine filmische Tortur. Soll man, darf man, muss man solche Ereignisse, solche Mördertaten auf die Leinwand bringen? Derartige Fragen wurden bereits vor der Premiere an den Berliner Filmfestspielen und natürlich auch danach gestellt. Der türkisch-stämmige Hamburger Filmer Fatih Akin («Gegen die Wand», Goldener Bär 2004) juckte solche Fragen wenig. Er zog sein Ding durch. Er hätte diesen Film machen müssen, bekennt er in einem Interview, weil jener Fritz Honka quasi vor seiner Haustür gemordet hätte. Akin (45), in Hamburg-Altona aufgewachsen, wohnte dazumal zwei Strassen weiter.
Anfang der Siebzigerjahre macht ein Mann St. Pauli unsicher. Frauen verschwanden, niemand vermisste sie, Trinkerinnen, Prostituierte, Gestrandete. Der Hilfsarbeiter Fritz Honka hatte sich über sie hergemacht, hatte sie aus der Kneipe «Der Goldene Handschuh» auf St. Pauli in seine Wohnung gelockt, mit Schnaps abgefüllt, drangsaliert, sich an ihnen vergangen (wenn er konnte), erwürgt, erschlagen, abgeschlachtet. Heinz Strunk hatte die Taten des Serienmörders in seinem Tatsachenroman «Der Goldene Handschuh» 2016 beschrieben. Filmer Fatih Akin hat den Stoff aufgegriffen, selber das Drehbuch verfasst und das Monster auf die Leinwand gebracht. Nicht wenige Kinobesucher/-innen werden sich angeekelt, schockiert abwenden und sich die Tortur auf der Leinwand nicht antun.
Ohne Vorwarnung zeigt die erste Szene den missgestalteten Fritz Honka am Werk. Eine Frau liegt da, und Hanka hantiert mit einer Säge. Doch bevor er ansetzt, schluckt er einen Schnaps und schleppt das Opfer in einen Nebenraum. Kameramann Rainer Klausmann, ein Schweizer, und Regisseur Akin ersparen uns, Augenzeuge zu werden. Es reicht auch so.
Akin kennt kein Pardon, er bleibt abschreckend nah am Täter, bei den Saufgelagen in der Kneipe, in der schäbigen Mansardenwohnung, bei sexuellen Übergriffen und Gewalt, bei Mord und Entsorgung der Leichenteile. Das mörderische Drama, eigentlich müsste man sagen Gemetzel, wird selbst bei Horrorfans das nackte Grauen wecken. Da läuft kein maskierter Killer Amok, da treiben keine Untoten ihr Unwesen, da wüten keine Aliens à la H.R.Giger, sondern hier murkst ein Mensch Menschen ab, gnadenlos, krankhaft. Man riecht förmlich den Mief unter dem Dach, den Gestank der versteckten Leichen, den Rauch, den Schnaps in der Kneipe. Fatih Akin erklärt nichts, beschönigt nichts. Er öffnet Abgründe. Prolo Honka, hässlich, heruntergekommen und verkommen, wird zum Monster in sexueller «Not». Ein armes Schwein, gequält, das andere quält und tötet. Zu den (biografischen) Hintergründen trägt der Film nichts bei, das erfährt man in Strunks Tatsachenroman. Akin präsentiert einen Horrortrip jenseits aller Vorstellungskraft, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Jungschauspieler Jonas Dassler (23) hat sich in «Fiete» Honka, den schüchternen Säufer, verwandelt. Genial – mit hängenden Schultern, scheelem, irren Blick, strähnigem Haar. Keine traurige Gestalt, sondern schlecht getarnter Horror auf zwei Beinen, hinter dem man einen Mensch vermutet, Aber sichtbar wird er nicht. Jonas Dassler bietet eine unglaubliche Performance (natürlich auch dank der Maskenbildner). Seine unglaubliche Darstellung des Sexualtäters und vierfachen Mörders wurde an der Berlinale nicht belohnt. Eine grosse Leistung im «falschen» Film?
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Miniscule – Abenteuer in der Karibik
rbr. Das grosse Krabbeln geht weiter. Nach dem Kinodebüt 2013 verschlägt es die Marienkäfer und Gefährten in die Karibik. Das junge Krabbeltierchen ist halt zu neugierig, Der gepunktete Käfer erkundet eine Produktionsstätte, die Kastanien verpackt und versendet. Prompt landet der Marienkäfer-Sprössling in einer Schachtel, wird verschifft und landet aus Guadeloupe. Der Papa ist natürlich besorgt und begibt sich selber mit Gefährten auf eine abenteuerliche Schifffahrt.
Im Dschungel der Karibikinsel stossen die Winzlinge auf jede Menge fremder Krabbeltiere inklusive Gottesanbeterin, aggressive und freundliche. Dank der Hilfe der schwarzen Ameise und smarten Spinne überstehen die Marienkäfer diverse Herausforderungen. Doch dann droht eine noch grössere Gefahr durch Menschen und Maschinen. Denn die wollen Wald und Strand in ein Ferienressort verwandeln wollen. Der Lebensraum ist in Gefahr.
Das zweite Kinoabenteuer im 3D-Format steht dem ersten «Minuscule – Kleine Helden» (2013) in nichts nach. Auf dieser abenteuerlichen Reise entwickelt sich der Sprössling und entdeckt die Liebe. Thomas Szabo und Hélène Giraud, die Schöpfer dieser kribbeligen Winzlinge, erweiterten den Horizont. Ausgehend vom Nationalpark Mercantour (in den französische Seealpen) werden traumhafte Kulissen vom Guadeloupe-Archipel einbezogen, etwa die Wasserfälle von Ecrevisses oder die Klippen von Basse-Terre oder Marie-Galante. Das gehört zum Konzept der Animationsfilmer: Reale Naturkulissen werden mit animierten Insekten in Aktion verschmolzen.
Die «Minuscule»-Filmer verzichten auf jegliche Dialoge, und Menschen treten nur am Rande auf und bleiben stumm. Mimik und Musik, Bewegung und Sound sprechen für sich. Der Abenteuerfilm erzählt eine Geschichte über Zusammenhalt, Verbundenheit und Verständigung ohne Sprache über alle Wesensformen hinaus – rasant und vergnüglich für die ganze Familie.
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Boy Erased
rbr. Gehirnwäsche. Der deutsche Verleihtitel «Der verlorene Sohn» ist verharmlosend und irreführend. Weder geht es um eine biblische Anleihe noch um eine Entführung. Joel Edgertons Drama «Boy Erased» beschreibt eine «moderne» Bekehrungsgeschichte, eine religiös motivierte Gehirnwäsche, die auf Tatsachen beruht. Arkansas, der 19jährige Jared wächst gut behütet in einer Baptistenfamilie auf. Zu gut behütet, wie sich herausstellt. Als der Teenager erkennt, dass ihn Männer mehr anziehen als Frauen und seine homosexuelle Neigung gegen den anerzogenen Glauben verstossen. Auf Drängen seines Vaters Marshall Eamons (Russell Crowe, reichlich beleibt) willigt er in das «Love in Action»-Umerziehungsprogramm ein. Der streng gläubige Prediger ist unerbittlich. Unter Leitung des «Therapeuten» Victor Sykes (Joel Edgerton) sollen junge Leute bekehrt und ihrer Schwulität abschwören. Gemäss eines moralischen Inventars (in zwölf Schritten) werden Teilnehmer und Teilnehmerin peinlichen Befragungen unterzogen über ihre sexuellen Erfahrungen und Phantasien. Die «Sünder» sollen sich ihres Fehlverhaltens bewusst werden, schämen und abschwören. Jared duckt sich, bemüht sich, belügt sich. Erst nach dem Selbstmord eines gepeinigten Mitschülers Cameron (Britton Sear) wagt er den Befreiungsschritt, stellt sich gegen Umerzieher Sykes und gegen seinen Vater. Allein seine Mutter Nancy (Nicole Kidman, dezent mütterlich) schlägt sich auf Jareds Seite und bekennt ihr Duckmäusertum. Auch für sie wird dieser Akt der Loslösung eine Befreiung.
Wer nun meint, diese Konversionstherapie wäre von gestern. Nein, sie wird noch heute in zahlreichen US-Staaten (36) praktiziert – gegen alle Vernunft und Menschlichkeit. Mit dem Ziel, jungen Menschen gewisse sexuelle Neigungen (hetereo- oder bisexuelle) auszutreiben, auszulöschen (erase), werden psychologische, religiöse oder spirituelle Praktiken angewandt. Eine Art Exorzismus unter dem Deckmantel der Nächstenliebe. Regisseur Edgerton, der selber die Rolle des fanatischen Programmleiters Sykes übernommen und das Drehbuch geschrieben hat, beweist einmal mehr, Kämpfe von Aussenseitern akribisch und überzeugend zu beschreiben, gleichzeitig ein kritisches gesellschaftliches Bild zu zeigen. Das Drama basiert auf der Autobiographie von Garrard Conley. Man muss nicht besonders phantasiebegabt sein, um von diesen Konversionstherapie-Gläubigen und dieser Methode, von der Einschätzung gegenüber Schwulen auf Haltung des US-Präsidenten zu schliessen.

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The Favourite
rbr. Zickenkrieg. Das Schicksal der Schottenkönigin («Mary, Queen of Scots») ist eine Sache, das der Queen Anne im 18. Jahrhundert eine andere. Das Historiendrama um Maria Stuart und ihre britische Rivalin Königin Elizabeth I., inszeniert von Josie Rourke, hat Feuer und besticht trotz bekannter Story durch Präzision und Präsenz der beiden Darstellerinnen Saoirse Ronan (Mary Stuart) und Margot Robbie (Queen Elizabeth I.).
Auch beim höfischen Drama «The Favourite» geht es um königliche, menschliche Befindlichkeiten, Begehren, Macht und Rivalität. Nur steht hier Queen Anne Anfang des 18. Jahrhunderts im Zentrum. England kämpft gegen die Franzosen um das Spanische Erbe. Der Zicken-Clinch «The Favourite», bravourös und abgründig boshaft inszeniert vom Griechen Giorgos Lanthimos («The Killing of a Sacred Deer»), zählt zu den grossen Oscar-Favoriten (zehn Nominationen, u.a. Bester Film, Bester Regie, Beste Schauspielerinnen, Beste Nebendarstellerinnen). Zuvor wurde die «Favoritin» siebenmal mit dem British Academy Award und einmal mit dem Golden Globe (Beste Hauptdarstellerin Olivia Colman) ausgezeichnet.
Um die schwerkranke Queen Anne (Olivias Colman), ein körperliches Wrack, kümmert sich Sarah Churchill (Rachel Weisz), Herzogin von Marlborough und Gattin des englischen Heerführers Marlborough. Sie lenkt die geschwächte Königin (Gicht) und die Staatsgeschäfte. Als Herrscherin hinter der Herrscherin. Sarah nimmt die verarmte Cousine Abigail Masham (Emma Stone) auf, die, vom Vater verzockt, sich als Magd verdingen musste. Geschickt schmeichelt sich die Neue am Hof ein, gewinnt dank eines Heilkrauts die Gunst der leidenden Königin und erweist sich als gefährliche Rivalin gegenüber der Favoritin Sarah. Die schlaue Schmeichlerin gewinnt Sympathieterrain, teilt nicht nur das Bett mit der Königin, sondern weiss auch ihre gesellschaftliche Stellung markant zu verbessern. Sie steigt auf, indem sie eine Heirat mit Höfling Masham (Joe Alwyn) aushandelt. Die ausgebootete Sarah, vom Hof verbannt, versucht verzweifelt, das Herz der Königin zurückzugewinnen.
Vor dem Hintergrund des Spanischen Erbfolgekrieges (1701-1714), des höfischen Lebens, der politischen Machtkämpfe und Intrigen arrangiert Regisseur Giorgos Lanthimos ein perfides Ränkespiel zwischen zwei Frauen, die um die Gunst der geschwächten Queen Anne buhlen, nach Macht lechzen und ums eigenes Überleben kämpfen. Da täuschen keine Kostüme, fadenscheinige Sympathien und Versprechungen hinweg: Hier sind zwei rücksichtslose Rivalinnen am Werk, die Gefühle und Männer manipulieren – hinterhältig, eigennützig, lust- und lasterhaft. Da mag man am Ende auch den Beteuerungen der Herzogin Churchill nicht glauben, sie habe immer die Wahrheit im Auge gehabt und der König aus Liebe gedient. Das höfische Spiel um Intrigen und Irrsinn, Macht und Manipulation, das sich (historische) Freiheiten nimmt, lässt sich leicht auf unsere Zeit übertragen. Starkes Kino, starke Schauspielerinnen (wobei die Männer wie Hampelmänner wirken) – ein Kostümfilm zwischen Himmel und Hölle, Krone und Sumpf. Grandios.
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The Wife
rbr. Aus dem Schatten getreten. Einen Golden Globe hat sie schon, und beim Oscar-Rennen liegt sie als Hauptdarstellerin sehr gut im Kurs. Glenn Close verkörpert eine Frau, die im Schatten ihres Mannes steht und sich befreit. Joan Castleman (Close) begleitet ihren Mann Joe (Jonathan Pryce) nach Stockholm, wo er den Nobelpreis für Literatur empfangen soll. 40 Jahre hat sie ihrem eitlen Gatten «gedient» und ihm Stoff geliefert, hat ihr Licht unter den Scheffel gestellt und auf eigene literarische Ambitionen verzichtet. «Strahlemann» Castleman sahnt ab, löscht aber gern Lichter, die seinem Glanz abträglich wären. So spricht er seinem Sohn David (Max Irons) schriftstellerisches Talent rigoros ab, behandelt ihn herzlos und überheblich. Journalist Nathaniel Bone (Christian Slater), der nur zu gern eine Castleman-Biographie schreiben würde und deswegen recherchiert, stellt das geschönte Bilde des Literaten Castleman infrage und löst einen Akt der Befreiung aus.
Der Schwede Björn Runge hat den Roman «The Wife» der amerikanischen Autorin Meg Wolitzer fürs Kino adaptiert – und liegt damit im Trend der starken Frauen, die Männer entlarven als eingebildete Herrenmenschen, Nutzniesser und Unterdrücker. Hollywoodstar Glenn Close, deren Tochter Annie Starke hier die junge Joan spielt, liefert ein Meisterstück als «Frau des Nobelpreisträges», die eine Lebenslüge, den Schein des Glücks und Ehe nicht mehr aufrechterhalten will. Runges Beziehungsdrama, zurecht in einer Reihe mit dem Film «Colette» zu sehen, dringt tief in eine Zweckgemeinschaft, Ehe genannt, ein und schält legt sie Schicht und Schicht bloss wie beim Schälen einer Zwiebel. Ein Kinoerlebnis der Extraklasse.
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Womit haben wir das verdient?
rbr. Wenn aus Nina plötzlich Fatima wird. «Es gibt für alles eine Lösung», behauptet die resolute Wanda. Aber wenn die 16jährige Tochter zum Islam übertritt, wenn aus Nina plötzlich Fatima wird, gibt’s so schnell keine Lösung. Das sieht auch die Familie so, inklusive Vater Harald, (Simon Schwarz), Ex-Mann von Mama Wanda (Caroline Peters), Anverwandte und Bekannte. Vorher Parties. Alkohol und anderem jugendlichen Leichtsinn nicht abgeneigt, ist Teenager Nina (Chantal Zitzenbacher) dank Internet auf Allah-Kurs, natürlich mit Kopftuch bedeckt und auf Halal-Nahrung fixiert. Die überraschte, atheistische Mutter Wanda fleht sie an «Kannst du nicht einfach katholisch werden?»
Ein Familiengespräch bei einer Psychologin bringt keine Annäherung. Als der Vater seine schwangere Freundin Sissy (Hilde Dalik) heiratet und Nina es ihm nachtun will, um einem schwulen islamischen Freund zu helfen, droht eine Katastrophe. Wanda mit Ex Harald im Schlepptau versucht alles, um ihre Tochter zu «retten». Sie verbündet sich sogar mit Hanife (Alev Irmak), der Mutter Maryams (Duygu Arslan), Ninas islamischer Freundin. Denn die will auch nicht, dass Maryam sich dem männlich dominierten Islam «unterwirft». Was tun?
«Es gibt für alles eine Lösung», heisst die Losung. Erst recht in einer Komödie, die in Wien spielt. Und so führt die Grazerin Eva Spreitzhofer, Schauspielerin und Autorin, in ihrem ersten langen Kinofilm eine Patchwork-Familie vor, die sich an der Islamisierung reibt. Ihre Multi-Clash-Komödie mag sich am französischen Erfolg «Monsieur Claude und seine Töchter» anlehnen, der indes mit einer zweiten Folge Kasse macht, hat aber genug Eigenleben und Wienerischen Schmäh. Witzige Anspielungen wechseln mit banalen Szenen (Polizeikontrolle der verschleierten Eltern u.a.), bissige Dialoge mit Plattitüden. Jeder kriegt sein Fett ab: Fanatiker und Feministen, Traditionalisten, Atheisten und Islamisten. Dabei erweist sich auch, dass Toleranz kein Allheilmittel ist, dass Mutterliebe auch einengen kann und Doppelmoral nicht nur in gutbürgerlichen Kreisen vorkommt. Regisseurin Eva Spreitzhofer kann aus eigener Muttererfahrung schöpfen. Auch wenn die Multikult-Komödie bisweilen ausartet, ist die Auseinandersetzung recht witzig-würzig und bisweilen bissig, durchweg unterhaltsam ironisch. Bühnen- und Fernsehstar Caroline Peters («Mord mit Aussicht»), die kürzlich im Salon-Crash «Der Vorname» brillierte, fühlt sich als überforderte Mutter Wanda in ihrem Element, mit Simon Schwarz («Sauerkrautkoma», Inkasso-Heinzi im österreichischen «Tatort») an der Seite. Das passt!

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The Mule
rbr. Der alte Mann und das Auto. Keiner ist zu alt, das Kino zu beleben und für grandiose Momente zu sorgen. «Rocky» alias Sylvester Stallone lässt noch immer die Fäuste sprechen, wenn auch nicht die eigenen in «Creed II». Und nun agiert ein weiterer Hollywood-Veteran auf der Leinwand. 2012 spielte er einen alternden Baseball-Star in «Back in the Game» (Trouble With the Curve), Regie führte er letztmals im Terrordrama «15:17 to Paris», in dem es um drei amerikanische Zugpassagiere ging, die im Schnellzug Thalys einen Attentäter ausser Gefecht setzten. Nun ist er gleich in drei Funktionen zurück – Clint Eastwood als Regisseur, Mitproduzent und Hautdarsteller. Er mimt einen alten Knacker, dem die Zeit davon läuft, der seine grösste Leidenschaft, die Aufzucht von Blumen (Lilien), aufgeben muss und als Drogenkurier durch die amerikanischen Lande kutschiert. Er ist «The Mule», ein Maultier – stoisch, stur, stark. 2005 wurde Earl Stone (Eastwood) noch gefeiert als bester Blumenzüchter in Illinois, hatte aber mit Online-Verkauf nichts im Sinn. Zwölf Jahre später war er pleite. Ein junger Mann kickte ihn an und fragte nach seiner liebsten Tätigkeit. Autofahren. Etwas undurchsichtige Mexikaner-Typen weihten ihn ein: Er musste nur eine Fracht nach Texas, El Paso, chauffieren und stillschweigend kassieren.
Earl fragte nicht, taste die Fracht nicht an. Ob er ahnte, dass er für ein Drogenkartell arbeitete? Das ging 12 Kurierfahrten gut, bis ihm sein Privatleben dazwischen kam. Seine Frau Mary (Dianne Wiest) lag im Sterben, und so hängte Earl seine misstrauischen Begleiter ab und suchte Mary heim. Sein Leben lang hatte er sich nicht um seine Familie gekümmert, die Hochzeit seiner Tochter Iris (Alison Eastwood, die Tochter des Regisseurs) versäumt, um eine Goldmedaille entgegenzunehmen. Aber nun liess er seinen Auftrag links liegen, um sich zu versöhnen, Trost zu spenden. Über 300 Kilogramm Kokain im Wert von rund 12 Millionen Dollar bunkerten in seinem Pickup-Truck Lincoln Mark LT. Die mexikanische Drogen-Mafia, aber auch der DEA Special Agent Colin Bates (Bradley Cooper) waren ihm auf den Fesen. Das war dem coolen «Maulesel» unter dem Decknamen «Tata» (Opa) egal. Clint Eastwood hat im biblischen Alter von 88 Jahren eine tatsächliche Begebenheit aufgegriffen: Der 90jährige Weltkriegsveteran Leo Sharp war über zehn Jahre als Drogenkurier tätig, wurde 2011 erwischt und zu milden drei Jahren Haft verurteilt. Doch mit «The Mule» erzählt Eastwood nicht nur eine unglaubliche Kriminalgeschichte, sondern auch die eines Mannes, der fast zu spät zur Einsicht kommt und zur Familie zurückfindet. Der knorrige Earl hatte immer erst die Arbeit, seine Blumen, dann die Kurierfahrten im Sinn, mit denen er sich und andere sanierte.
Earl ist ein Menschenfreund, hat etwas Altertümliches. Insofern ist dieses Roadmovie mit krimineller Energie auch ein Film über Familienbande und Generationen, über Würde des Alters, seine Fragilität und Einsamkeit. Clint Eastwood, der Hollywood-Veteran, zieht die Fäden und schuf ein grandioses Alterswerk, das auch ein jüngeres Publikum ansprechen sollte. Dieser Film ist jeden Meter Eastwood wert.
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Creed II

rbr. Boxen bis zum Umfallen. Das muss man sich vor Augen halten: Die Boxer-Legende begann vor 43 Jahren! Ein gewisser Rocky «The Italian Stallion» Balboa mischte den Ring und die Kinolandschaft auf. 1990 hob Rocky alias Sylvester Stallone letztmals die Fäuste, um in einem Strassenfight zu beweisen, dass er der wahre Champion und Kämpfer ist («Rocky V»). Es dauert immerhin 16 Jahre, bis Rocky wieder auf der Leinwand auftauchte – als Trainer des aufstrebenden Adonis Johnson, des unehelichen Sohnes des Schwergewichts-Champion Apollo Creed, der einst Rockys grösster Rivale. An Creeds Tod im Ring fühlt sich Rocky mitschuldig. Der alte Champ nahm Donnie, den jungen Adonis Creed, unter seine Fittiche. Der verliert seinen WM-Kampf im Halbschwergewicht gegen «Pretty» Ricky Conlan in Liverpool – nach Punkten («Creed», 2015).
Adonis Creed macht weiter in seiner Heimat Philadelphia. Seine Freundin Bianca (Tessa Thompson) kommt endlich unter die Haube. Er heiratet sie. Ein Umzug nach Los Angeles steht zur Diskussion – ein Neuanfang. Parallel dazu meldet sich ein alter Bekannter, der russische Ex-Boxer Ivan Drago (Dolph Lundgren). Er hat einst Apollo Creed in einem Schaukampf zu Tode geprügelt. Rocky fühlt sich mitverantwortlich, weil er seiner Meinung nach zu spät das Handtuch geworfen hatte. Der Amerikaner revanchiert sich und schlägt den russischen Hünen k.o. («Rocky IV»). Nun in «Creed II» wittert der alte Haudegen, der sich um Ruhm und Anerkennung durch Rocky betrogen fühlt, eine Chance, Rache zu nehmen. Er schickt seinen Sohn Viktor vor, der Adonis Creed herausfordert. Und der nimmt an, geht nach Los Angeles. Rocky ist dagegen, trennt sich und bleibt in Philadelphia. Prompt unterschätzt Creed die russische Kampmaschine. Er leidet unter dieser Niederlage, droht daran zu zerbrechen, bis Rocky ihn wieder aufrichtet und trainiert – gnadenlos im Death Valley für einen Rückkampf.
Wahrlich erstaunlich, die achte Folge in der Rocky-Saga wirkt keineswegs ausgepowert oder angeschlagen. Im Gegenteil, der in die Jahre gekommene Rocky (der in «Creed» bereits von der Krebs-Schippe gesprungen ist) alias Sylvester Stallone, knackige 72 Jahre rüstig, zieht noch immer die Fäden, auch wenn jetzt Adonis die Fäuste sprechen lässt. In Michael B. Jordan hat er den fulminanten Fighter gefunden, der in seine Fussstapfen getreten ist. Stallone ist Mitproduzent und Mitautor. Regie führte souverän Steven Caple Jr., anstelle von Ryan Coogler («Creed»), der zugunsten von «Black Panther», einem Riesenerfolg nach Marvel-Vorlage, verzichtete.
Die Rocky/Creeg-Reihe war und ist mehr als ein Boxer-Action-Spektakel. Sie spiegelte immer auch den Zeitgeist wieder – vom Aufstieg, made in America, oder Kalten Krieg – und verknüpft damit persönliche Probleme und Konflikte. Rockys Comeback, Rockys Krankheit, seine Schuldgefühle. Jetzt wird wieder die Familie stärker thematisiert, Familienzuwachs bei Adonis und Bianca, das gestörte Verhältnis Rockys zu seinem Sohn, Vater-Sohn-Verhältnisse und Abhängigkeiten (Dragon). Die Saga zwischen Ring und Ruhm, Rache und Respekt hat nichts an Elan und Spannung verloren, trotz oder wegen des grummelnden schlurfenden Sylvester Stallone. Er gehört einfach zum Inventar. Damit soll jetzt Schluss sein, deutete Stallone an, obwohl da doch mit Adonis als Familienvater noch Potenzial wäre…
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Les Herederas – Die Erbinnen
rbr. Freigefahren. Asunción, Paraguay. Sie leben wie ein altes Ehepaar. Sie plaudern, streiten und halten irgendwie zusammen. Die resolute, extrovertierte Chiquita (Margarita Irún) dominiert ihre Wohngefährtin Chela (Ana Brun), die sich am liebsten hinter ihrer Staffelei verkriecht. Sie leben auf gehobenem Niveau vom Erbe und haben sich behaglich eingerichtet, doch nun werden die Finanzen knapp, und man sieht sich gezwungen, das Mobiliar Stück für Stück zu verkaufen. Als Chiquita wegen Schulden und Betrugs hinter Gittern muss (wie lange?), ist sich Chela sich selbst überlassen. Die gut situierten Freundinnen dürfen natürlich nichts vom Ungemach wissen: Offiziell ist Chiquita in den Badeferien in Uruguay. Chela hegt eine geheime Leidenschaft: das Autofahren mit dem alten Mercedes 240 D. Als die Freundin Picuta (Maria Martinds) sie inständig bittet, sie zu kutschieren, willigt Chela ein. Es spricht sich rum. Aus dem Nichts entwickelt sich ein flotter Taxidienst: Chela chauffierte nun reiche ältere Damen und fährt sich selber quasi frei.
Bei dieser Gelegenheit macht sie die Bekanntschaft der jungen Angy (Ana Ivanova), die sie zu weiteren vernüglichen Taten verführt. Chela verliebt sich ein bisschen. Völlig überraschend steht eines Tages die entlassene Chiquita vor der Tür und beabsichtigt, den Oldtimer zu verkaufen. Ein Rückschlag für die «befreite» Chela.
Der Erstling des paraguayischen Filmautors Marcelo Martinessi schlug sich sehr ordentlich beim Filmfestival Berlin 2019. Ana Brun (68) erhielt den Silbernen Bären als beste Darstellerin, der Film den Fipresci-Preis. Bei den «Erbinnen» spielen Männer keine Rolle, ein Klavierträger und ein Autoverkäufer sind Randfiguren. Etwas verschmitzt erzählt Martinesi von den Nöten einer Frau in den späten Sechzigern, ihren ungestillten Sehnsüchten und der Kraft der Befreiung. Die unscheinbare Heldin Chela löst sich aus einer Unabhängigkeit und einer bröckelnden Gesellschaft. Die alten Frauen aus wohlhabenden, die sich in einem Kaffeekränzchen-Zirkel treffen, haben sich abgeschottet. Chela bricht auf. Das stille Emanzipationsdrama, fein und liebevoll gesponnen, erwärmt. Es sagt auch: Für Änderungen und Befreiungen ist es nie zu spät.

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A Dog’s Way Home
rbr. Bella beisst sich durch – ein Hundemärchen. Man kennt das ja aus TV- und Kinofilmen: Lassie kehrt heim, Rex oder Rocky oder wie sie alle heissen. Hier geht es um die Hündin Bella, die in einem maroden Altbau mit anderen Artgenossen lebt. Sie alle werden von der Tiervorsorge eingefangen, weil das Haus abgebrochen werden soll. Ein Welpe entkommt und wird von einer Katze quasi adoptiert. Lucas (Jonah Hauer-King) und seine Freundin Olivia (Alexandra Shipp) entdecken das Hündchen, fortan Bella geheissen und aufgenommen. Lucas und Bella wachsen zusammen auf, werden ein Herz und eine Seele. Doch in Denver ist Bella einem Tierschützer ein Dorn im Auge, denn hier sind Pit Bull-Hunde verboten. Deswegen soll Bella für eine kurze Zeit bei Olivias Onkel und Tant in New Mexico untertauchen. Doch die junge Hündin hat Heimweh, sehnt sich nach Lucas und nimmt Reissaus. Und so nimmt die gut 600 Kilometer unter die Pfoten – von New Mexico nach Colorado. Bella erlebt haarsträubende Abenteuer mit Menschen und Wölfen. Dank eines Pumas – die beiden schliessen Freundschaft – kommt sie ihrem Ziel näher.
Hunde und Katzen sind des Menschen beste Freunde. Und so funktioniert auch dieses Tiermärchen: Mensch und Tier verstehen sich quasi wortlos (obwohl Bella im Film eine Stimme hat). Herrchen und Hündchen sind sich einig, und so singt diese Heimkehrergeschichte einmal mehr das Lied von Hundetreue und Liebe. Charles Martin Smith hat das tierische Abenteuer vor allem in British Columbia (Kanada) inszeniert, wobei die realen Hunde Erstaunliches leisten. Aber auch die Animationen um Puma und Wölfe sind spannend und sehenswert. Phantastisch. Na ja, die Story, basierend auf dem Roman von W. Bruce Cameron, der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat, ist nett gemeint, einfach gestrickt und emotionell. Ein schön geglätteter Familienfilm.
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Green Book

I.I. Green Book – Eine besondere Freundschaft. Die mit drei Golden Globes ausgezeichnete Filmbiografie von Peter Farrelly feierte am 11. September 2018 am Toronto International Film Festivals die Weltpremiere und wird am 31. Januar 2019 in die Schweizer Kinos kommen. Im Zentrum stehen nach einer wahren Begebenheit der schwarze Jazz-Pianist Don Shirley (Mahershala Ali) und sein New Yorker Chauffeur Tony Lip (Viggo Mortensen), die in den 1960er Jahren auf einer Konzert-Tournee von New York in die Südstaaten zusammen unterwegs sind und mit heftigem Rassismus konfrontiert werden. Der im Copacabana Club in NYC als robuster Türsteher arbeitende Italo-Amerikaner Tony Vallelonga, genannt Lip, wuchs in der Bronx auf und wird seiner schnellen Fäuste und kessen Lippe wegen in der Szene gefürchtet und respektiert. Als das Copacabana für mehrere Monate geschlossen hat, nimmt Tony 1962, der seine Familie über alles liebt, einen ungewohnten Job an: der bekannte (historisch verbürgte) Jazz-Pianist Don Shirley, der in einer Wohnung über der Carnegie Hall logiert, heuert ihn als Chauffeur an, um ihn von New York bis in die Südstaaten zu fahren. Tony muss seine Frau Dolores und die Söhne Frankie und Nick für einige Wochen zurücklassen. Shirleys begleitende Musiker, der Bassist George Dyer und der russische Cellist Oleg, nehmen für die Tournee ihr eigenes Auto. Während des zweimonatiges Roadtrips erleben sie gemeinsam Höhen und Tiefen, denn die Konzerttournee des Afroamerikaners vor der Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King macht es unumgänglich, dass sie ihre Reise nach dem Negro Motorist Green Book planen müssen, einem Reiseführer für afroamerikanische Autofahrer, der die wenigen Unterkünfte, Restaurants und Tankstellen führt, die auch schwarze Kunden bedienen. In einer Nacht in Kansas wagt sich Shirley allein in eine Bar, wo er nur aufgrund der Tatsache, dass er schwarz ist, verprügelt wird. Tony taucht gerade rechtzeitig auf, um Shirley aus den Klauen der Rednecks zu retten.
Immer wieder wird die Kluft zwischen Tony, mit seiner handfesten, ruppigen und unverstellten Sprache und Don mit seiner kultivierten, eher manirierten Ausdrucksweise deutlich, und der Chauffeur kann es nicht glauben, dass der Pianist mit Doktortitel noch nie etwas von schwarzen Musikern wie Little Richard, Aretha Franklin oder Chubby Checker gehört hat. Tony nennt seinen Chef mit College-Abschluss einfach nur kurz «Doc», der ihm versucht, Benehmen beizubringen, keine Edelsteine zu klauen, und sich nicht zu prügeln, wo es sich vermeiden lässt.
Im Gegensatz dazu lernt Don die Realität und Freundschaft von Tony zu schätzen, der erstmals mit den Problemen schwarzer Amerikaner in Berührung kommt. Das ist berührend und in atmosphärischer Dichte umgesetzt und spiegelt die Zeit der 60er Jahre sehr realitätsnah. Der Abschluss des Films, als Tony Don in seine Familie aufnimmt, entspricht durchaus den seltenen und wahren Begebenheiten, blieben die beiden doch auch nach dem Roadtrip Freunde.
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Colette
rbr. Lug und Trug. Das gab’s doch schon mal oder so ähnlich in der Literaturgeschichte. Eine Frau ist die eigentliche Kraft, die literarische Quelle (und nicht nur Inspiration) für den Mann, der dann die Lorbeeren erntet. Der eitle Ehemann Joan Castleman (Jonathan Pryce) wird den Literatur-Nobelpreis erhalten. Seine Gattin Joan (Glenn Close) soll wie immer die Frau an seiner Seite mimen. Einst hatte sie selber literarische Ambitionen, aber… Doch sie will sich nicht mehr als «Frau des Nobelpreisträgers» wahrgenommen werden und aus einer Lebenslüge ausbrechen. Der Film «The Wife» von Björn Runge feierte am Zurich Film Festival Premiere und ist demnächst bei uns im Kino zu sehen.
Etwas anders sind die Verhältnisse zwischen der jungen Sidonie-Gabrielle Claudine Colette (Keira Knightley) und dem älteren Freier Henry Gauthier-Villars alias Willy (Dominic West). Sie will als 16jähriges Mädchen einfach raus aus der Provinz (Burgund) und rein in städtische Pariser Leben – Ende des 19. Jahrhunderts. Da ist der Unschuld vom Lande der fesche, aber viel ältere Lebemann, bekannt als Schriftsteller Willy, gerade recht. Sie heiratet ihn 1893. Und der geniesst das Leben, liebt seine junge Frau, hält Seitensprünge aber für sein gutes Mannesrecht. Sie fordert gesellschaftliche Unterstützung. Ihr literarisches Talent fördert er auf perfide Weise. Sie schreibt Erlebnisse aus der Provinz nieder, er agiert als Lehrmeister und veröffentlicht ihre Romane unter seinem Namen Willy.
Die Bücher «Claudine à la’Ecole», «Claudine à Paris» und mehr wurden Riesenerfolge. Ihr letzter Claudine-Roman erschien 1903, und sie liess sich scheiden. Ihr Leben als «befreite» Frau ist nicht Thema des Spielfilms «Colette» von Wash Westmoreland, der auch am Drehbuch beteiligt war. Thema ist das Verhältnis des Mannes, der seine Frau manipuliert, ausbeutet und keinerlei Skrupel dabei hat, zu seiner gegängelten Ehefrau. Gediegen im Stile der Zeit inszeniert, schildert das Beziehungsdrama die Entwicklung einer Emanzipation und Befreiung. Schön anzusehen, wobei Keira Knightley eine gute, überzeugende Partie macht als Frau, die sich «frei schreibt». «Colette» ist ein koketter Spielfilm, der nur die Anfänge der berühmten Schriftstellerin, Reporterin und Künstlerin (1873- 1954) beschreibt, veredelt, er bleibt nur Episode im Leben einer ungewöhnlichen Persönlichkeit, der als erste Frau Frankreichs ein Staatsbegräbnis bekam. Gleichwohl lohnt ein Kinobesuch und macht neugierig auf ihre Bücher.
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Capharnaum
rbr. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Der deutsche Verleihtitel «Stadt der Hoffnung» ist mehr als irreführend, und der Name hat auch nichts mit dem biblischen Ort Kapernaum am See Genezareth zu tun, wo einst Jesus auftrat. Carpharnaum kommt aus dem Hebräischen und bedeutet eine chaotische Stätte, ein Ort der Unordnung. Die Libanesin Nadine Labaki beschreibt, wie sich der etwa zwölfjährige Zain (Zain Al Rafeea) durchs Leben schlägt in einem maroden Beirut. Aufgrund einer Gewalttat muss er eine fünfjährige Haftstrafe verbüssen. Der Strassenjunge strengt in dieser Zeit einen Prozess gegen seine Eltern an, unterstützt von einer Anwältin (die Regisseurin Nadine Labaki). Er klagt Vater und Mutter, illegale Immigranten, an, ihn in die Welt gesetzt zu haben, ohne sich um kümmern zu können.
In einer grossen Rückblende, erfahren wir, wie Zain das Elternhaus verliess, als seine elfjährige Schwester Sahar an den Kaufmann Assaad verschachert wurde. Zain schlägt sich durch und findet bei der Immigrantin aus Äthiopien, Rahil (Yordanos Shifera), Aufnahme. Wie vorher seine Schwester umsorgt er jetzt das Baby seiner «Herbergsmutter». Als Rahil bei einer Razzia verhaftet wird, wartet Zain nichtsahnend auf sie vergebens und umsorgt das Baby Yonas, solange er kann. Als er jedoch erfährt, dass seine schwangere Schwester vor dem Spital verstorben ist, weil sie als papierloses Mädchen nicht eingelassen wurde, fasst er den Entschluss, den Ehemann Assaad zu bestrafen.
Der Film im dokumentarischen Stil lässt niemanden kalt. Das Elend der Eltern, die Kindern in die Welt setzen, ohne sie sich «leisten» zu können, ist beinahe so gross wie das der Mädchen und Jungen, die Opfer, die sich nicht wehren können. Ein Lächeln huscht am Ende über das Gesicht des Knaben Zain, als man ihm einen Ausweis aushändigt. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er «amtlich» und schöpft neue Hoffnung…
Das libanesische Sozialdrama ist wie ein Aufschrei, ein Plädoyer für alle misshandelten, vernachlässigten und verstossenen Kinder der Welt – aus der Sicht eines Kindes. Ein rauer harscher Film über Menschen am Rande, im Grunde nicht nur über Immigranten. Die Regisseurin Nadine Labaki ist fest von der Kraft des Kinos überzeugt und meint, dass Filme, wenn nicht Dinge ändern, zumindest helfen können, eine Debatte darüber zu eröffnen und Menschen zum Nachdenken anregen können. «Statt das Schicksal dieses Kindes zu beklagen, das ich auf der Strasse sah und mich noch hoffnungsloser zu fühlen, als ich es ohnehin schon tue, benutze ich meinen Beruf als Waffe und hoffe damit Einfluss auf das Leben des Kindes zu nehmen.» Dem heimat- und rechtlosen Jungen hat der Film Legitimität gegeben. Das Dasein eines Wesens beginnt in unseren Breitengraden erst mit Geburtsschein. Ohne Dokument keine Existenz. Der denkwürdige Film für den die Filmerin drei Jahre recherchiert hat, wurde in Cannes 2018 mit dem Preis der Jury und der Ökumenischen Jury ausgezeichnet und vom Libanon ins Oscar-Rennen geschickt.

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Roma
rbr. Mexikanisches Alltagsdrama. Der Schwarzweissfilm des Mexikaners Alfonso Cuarón machte schon Schlagzeilen, bevor er ins Kino kam. «Roma» ist eine Netflix-Produktion, fand gleichwohl Eingang in die Filmfestspiele von Venedig im September und wurde mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Daraufhin sperrten sich Kinobetreiber in Italien und drohten mit Boykott. Die Frage war: Wann schaltet Netflix den Film auf (ab 14. Dezember)? Weniger zimperlich verhielt sich die Schweizer Kinobranche. Die Kinos RiffRaff in Zürich und das Bourbaki in Luzern beispielsweise zeigten das meisterliche Werk und zeigen es teilweise über den Netflixstart hinaus. Keine Frage, «Roma» hat die grosse Leinwand verdient.
Der Titel mag irreführend sein, hat er doch nichts mit der Stadt am Tiber zu tun, sondern bezieht sich auf einen Stadtteil Mexico-Citys. Ein herrschaftliches, etwas vergammeltes Haus, ein Fliesenboden im Innenhof, eine Frau liest Hundekot auf. Der heimkehrende Hausherr Antonio (Fernando Grediaga) flucht über den Köter Borras und seine «Hinterlassenschaft». Dienstmagd Cleo (Yalitza Aparicio) verrichtet stumm ihre «Drecksarbeit». Aber Cleo ist mehr als eine Haushaltshilfe für Señora Sofía (Marina de Tavira), die sich lieber um Geselligkeit und Vergnügen als um ihre vier Kinder kümmert. Für die ist Cleo Mutterersatz und Vertraute, ein Teil der Familie. Eine flüchtige Bekanntschaft mit Fermin, einem Anhänger der Kampfkünste, hat Folgen. Cleo wird schwanger, und ihr Geliebter macht sich aus dem Staub. Was nun? Sie vertraut sich ihrer «Herrin» an, die viel Verständnis für Cleos Lage hat und sie unterstützt. Letztlich sind die beiden Frauen auf sich allein gestellt, denn auch der feine Señor hat seine Familie verlassen.
Es ist eine Zeit der Unruhen, der Proteste. Im Jahr 1971 ereignet sich das Fronleichnam-Massaker in Mexiko-City: Eine paramilitärische Truppe, hinter der die Regierung steckte, tötet unzählige Studenten (Cleo wird Zeugin dieses Gewaltaktes). Die Verfolgung, Verschleppung und Ermordung Tausender während der Regentschaft des Präsidenten Luis Echeverría Álvarez in Mexiko wurde nie recht aufgeklärt und verfolgt. Zurzeit des Massakers war Regisseur Alfonso Cuarón neun Jahre alt. Nach grossen Erfolgen (Oscar für sein Werk «Gravity») kehrt Cuarón nach vielen Jahren erstmals wieder nach Mexiko zurück, um sich seinem Heimatland zu widmen. «Roma» ist ein Film um gesellschaftliche Verhältnisse, vor allem eine Hommage an eine Frau, die geduldig und fast wehrlos ihr Leben erträgt, inmitten einer rauen erbarmungslosen Wirklichkeit. Ein ruhiger Film über den profanen Alltag einer Familie des gehobenen Standes, in langen Einstellung erfasst und vertieft (Kamera Cuarón). Die Heldin Cleo ist Kristallisationspunkt, die Menschen in ihrer Umgebung bleiben etwas fad, haben ein Gesicht, aber keine Geschichte, keine Persönlichkeit, weder der Patron und seine Frau noch die Kinder. Doch gesamthaft betrachtet, ist «Roma» ein grossartiges Werk, das an Filme des neorealistischen Kinos Italiens erinnert. Zu recht von Mexiko für einen Oscar ins Rennen geschickt.
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Ein geliebter Feind
rbr. Der Professor und der Killer. Zwischen Bari und Gstaad geschehen komische Begebenheiten – die mörderisch komisch sind. Und das geht so: Enzo Stefanelli (Diego Abatantuono), ein stattlicher Akademiker von edlem Gemüt, liest auf der Strasse einen verletzten Mann mit Schusswunde auf, der absolut keine Polizei und nicht ins Spital will. Irgendwie «befreit» der Professor den fremden Gast von der steckengebliebenen Kugel. Am nächsten Tag sind «Patient» und Auto weg. War’s das? Doch Salvatore (Antonio Folletto), der sich als Mafia-Killer outet, will wiedergutmachen und Enzos Hilfe «honorieren». Der Profi schlägt dem unbedarften Professor vor, dessen schlimmsten Feind zu eliminieren. Kommt nicht in Frage!
Doch da gäbe es jede Menge Kandidaten, die Enzo triezen, ausnehmen und hintergehen – von der selbstsüchtigen Mutter bis zum Bruder, der als falscher Priester Gutgläubige betrügt, und IT-versierten Enkel, vom Rektor Rektor bis zu falschen Kollegen – es wimmelt von «Blutsaugern», Nutzniessern und Neidern. Doch eines Tages – Salvatore hat sich erfolgreich an Enzos Tochter herangemacht – lässt sich Enzo zu einer Aktion und Reise nach Gstaad umstimmen.
Nach dem Motto «Zahn um Zahn» und «Eine Hand wäscht die andere» lässt Denis Rabaglia, der zusammen mit Heidrun Schleef und Luca De Benedittis das Buch verfasste, die Poppen, sprich Akteure, tanzen. Der Clan der Parasiten, Betrüger und Lügner, soviel sei verraten, wird entlarvt und bestraft.
Rabaglias familiärer Thriller mit Augenzwinkern hat eine lange Entwicklungsgeschichte hinter sich. Die Idee dazu hatte ursprünglich der polnische Filmer Krzysztof Zanussi im Jahr 2004. Erst um 2011 nahm Rabaglia den Stoff vom Killer und seiner Gegenleistung wieder auf. Die Konstellation animierte den schweizerisch-italienischen Filmer zu einer schwarzen Komödie, in dem «eine gefährliche, moralisch heikle Situation auf amüsante Weise» beschrieben wird (Rabaglia). Der Plot, im winterlich-romantischen Gstaad inszeniert, spielt mit Gangster-Klisches und gipfelt in einem (stummen) Comingout à la Agatha Christie. Rabaglia gelang ein Schelmenstück mit überraschenden Wendungen, wobei seine Helden, Antonio Folletto als verführerisches Schlitzohr Salvatore und Diego Abatantuono als schwergewichtiger Dulder Enzo, die boshafte Entlarvungstory brillant tragen. Die italienisch-schweizerische Koproduktion «Ein geliebter Feind/Un nemico che ti vuole bene» (Turnus Film Zürich mit Michael Steiger) ist ein feines Kinointermezzo, man könnte auch Scherzo sagen. Hinterhältig vergnüglich.
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The Girl in the Spider´s Web

rbr. Lisbeth is back. Die punkige Hackerin Lisbeth Salander ist zurückgekehrt – in neuer Gestalt und neuen Aktionen. Mit seiner Millennium-Trilogie hatte Stieg (Stig) Larsson Bestseller-und Kinogeschichte geschrieben. Seine Romane erschienen erst nach seinem Tod 2004. Die hartgesottene Rächerin Lisbeth sollte zuerst in einer schwedischen TV-Serie agieren. Noomi Rapace verkörperte die Heldin im Untergrund, verdichtet dann im Kinoformat: «Verblendung» (2009), «Verdammnis» (2009) und «Vergebung» (2009). Das US-Remake «The Girl with the Dragon Tattoo» (Verblendung») wurde von David Fincher 2010 inszeniert mit Rooney Mara als Lisbeth.
Journalist Larsson hatte seine Kriminalreihe auf zehn Bände angelegt. Die Folgen vier bis sechs lagen als Exposé vor. Infolge Erbstreitigkeiten konnte Nachfolgeautor David Lagercrantz auf Larssons Skizzen jedoch nicht zurückgreifen. Er schrieb seinen Roman frisch von der Leber weg, allein Akteurin Lisbeth Salander und Gehilfe Blomkvist verweisen auf die erfolgreiche Trilogie. Unter dem Titel «Verschwörung» erschien 2015 der vierte Millennium-Band «Verschwörung». Inzwischen (2017) wurde ein weiterer Roman veröffentlicht: «Verfolgung».
Die jüngste Verfilmung «Verschwörung (Filmtitel: «The Girl in the Spider´s Web») basiert also auf dem vierten Roman. Fede Alvaraz aus Uruguay, der auch das Drehbuch verfasste, präsentiert Lisbeth Salander als starke Amazone. Die verwinkelte Thriller-Story tut kaum etwas zur Sache. Mal wieder geht es um verhängnisvolle Daten in falschen Händen. Im Auftrag eines Wissenschaftlers jagt Lisbeth diesen Daten nach – mit Hilfe ihres alten Freundes Mikael Blomkvist (Sverrir Gudnason) und verfängt sich in mörderischen Intrigen. Aus der brüchigen, gequälten Figur Salander ist eine selbstbewusste, der Gesellschaft gegenüber kritischen Figur geworden. Insofern zeigt die neue Lisbeth übliche Coolness und Härte. Die Schauspielerin Claire Foy, manchen Netflix-Kennern aus der Reihe «The Crown» als Queen Elizabeth II. bekannt, agiert als starke Amazone, der freilich Tiefe und Zerrissenheit fehlen. Begnügt man sich mit der «Frau im Spinnennetz» als pure Actionheroin (und erwartet nicht mehr), kann man sich entspannt zurücklehnen und auf mögliche Folgen warten wie auf den nächsten Bond…

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Widows
rbr. Witwen mit krimineller Energie. Die Zeiten sind vorbei, als Männer selbstherrisch auf Raubzug gingen, den toughen Macker markierten und glaubten, Action für sich allein gepachtet zu haben. Jetzt erobern Frauen die Actionszene, entwickeln kriminelle Energie und führen ermittelnde Mannsbilder an der Nase herum. Was soll man/frau auch machen, wenn die Partner bei einem Raubzug platt gemacht werden und das Zeitliche segnen? Denn nicht nur die besagten Männer sind weg, sondern auch die Beute von zwei Millionen Dollar, die dem afroamerikanischen Unterweltboss Jamal Manning (Brian Tyree Henry) abhandengekommen sind. Wir sind in Chicago. Dem brutalen Gangster Manning, der zudem Ambitionen als Stadtrat hat, fällt nichts anderes ein, als Veronica (Viola Davis) für den Millionenverlust haftbar zu machen, der Frau des Bandenchefs Henry (Liam Neeson), der den Coup geplant und durchgeführt hat. In die Enge getrieben, entwickelt Veronica bemerkenswerte Energie und will einen Plan umsetzen, den Henry minutiös entworfen und «hinterlassen» hat. Sie animiert die anderen drei Witwen von Henrys Gang, die allesamt von Existenznöten bedroht sind: Linda (Michelle Rodriguez) muss zur Kenntnis nehmen, dass ihr (toter) Mann ihr Geld verzockt hat; Alice (Elizabeth Debicki), ein misshandeltes Callgirl, und die Coiffeuse Belle (Cynthia Erivo) stossen dazu, die erst nach anfänglichem Zögern als Fahrerin mitmacht.
Es geht um fünf Millionen Dollar. Doch die aktiven Witwen haben die Rechnung nicht ohne einen hartnäckigen Ermittler und Henry Rawlin gemacht, der so tot denn doch nicht ist. Dass dann auch noch der weisse Stadtrat Jack Mulligan (Colin Farrell) und dessen herrischer, skrupelloser Vater Tom (Robert Duvall) mitmischen, kostet den Frauen (fast) Kopf und Kragen.
Steve McQueen («12 Years a Slave») führte Regie und schrieb das Buch mit Gillian Flynn. Er legt einige Fallen aus und bedient sich einiger krimineller Finten in seinem Thriller «Widows – Tödliche Witwen», der auf einer britischen Miniserie von 1983 fusst.
Das mörderische Drama, exzellent besetzt, hält nicht nur einige Überraschungen bereit, sondern beschreibt auch atmosphärisch dicht ein Klima der Korruption, Gewalt und Lügen. Der düstere Thriller (130 Minuten) spart nicht mit (gebremster) Action und brutalen Sequenzen, nimmt sich aber auch Zeit für die Zwangslage der agierenden Frauen, ihre Bedenken und dem Druck, dem sie ausgesetzt sind. Dabei entwickeln die Opfer durchaus Rachegelüste und empfinden Spass an ihrer Attacke nach dem Motto «Zahn um Zahn». Man fiebert mit den Täterinnen, die Sympathien gewinnen und sich gegenüber einer kriminellen Gesellschaft behaupten – mit verwandten Mitteln. Der wohl beste Gangsterfilm des Jahres 2018.

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Astrid
rbr. Aus Kindheits- und Muttererfahrung klug geworden. Die Schwedin Astrid Ericsson, seit den Dreissigerjahren Astrid Lindgren, wurde als Schriftstellerin von Kinderbüchern weltbekannt, mit einer Auflage von über 160 Millionen Exemplaren. Sie ist Schöpferin der Kinderhelden Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter, Kalle Blomquist oder der Kinder von Bullerbü. Die Schwedin Astrid Lindgren (1907-2002) macht Kindern Mut seit über 70 Jahren. Das kommt nicht von ungefähr. Denn was sie selbst – nicht als Kind, sondern als junge Frau und alleinstehende Mutter – erfahren hatte, floss in ihre Bücher. Sie hatte sich in einer männerdominierenden Gesellschaft durchzusetzen, zu emanzipieren als Frau, die von einem verheirateten Mann ein Kind erwartete, das sie gar nicht haben durfte.
Diese Kindheitsjahre und Zeit als junge Frau zeichnet die Filmerin Pernille Fischer Christensen nach – von glücklichen, ausgelassenen Kindertagen im Heimatort Vimmerby, unter strenger Obhut der kleinbürgerlichen Eltern, bis zu ersten Schritten als begeisterte, aber naive Sekretärin, von Liebelei, Schwangerschaft und der Einsamkeit der Mutter Astrid, die ihren Sohn in Dänemark zur Welt bringen und in die Obhut einer Pflegemutter geben musste. Als dramaturgischer Leitfaden dient ein Geburtstag (der 80. oder 90.?): Eine alte Frau studiert ihre Fanpost. Mit den Fragen, Dankesworten und Bekenntnissen junger Leser an Astrid Lindgren werden Erinnerungen geweckt, Episoden aus frühen Jahren lebendig.
Astrid ist ein unbändiges, ausgelassenes und phantasiebegabtes Mädchen, das gern Normen und Regeln bricht. Die Achtzehnjährige (Alba August) ist froh, aus den bescheidenen Verhältnissen daheim auszubrechen und nimmt begeistert die Stelle einer Sekretärin beim Verleger und Redaktor Blomberg (Henrik Rafaelsen) einer Lokalzeitung an, der ihr Talent erkennt. Der schwärmerische Teenager Astrid verguckt sich in den verheirateten Mann, der sich scheiden lassen will. Sie wird schwanger. Ein (gesellschaftliches) Ding der Unmöglichkeit dazumal. Astrid deckt den Vater und gebärt ihren Sohn Lars (Lasse) 1926 in Kopenhagen. Sie gibt ihn notgedrungen in die Obhut der Hebamme (Trine Dyrholm), bis die Scheidung durch ist, aber… Das bricht der jungen Mutter fast das Herz, und als die Pflegemutter erkrankt, muss Astrid ihren Sohn zu sich holen und ein Zuhause bieten.
Der Spielfilm konzentriert sich auf die dunkle Lebensphase der Schriftstellerin. Hier liegen die Wurzeln, die Motive ihrer Geschichten, ihrer Kinderabenteuer, in denen sich Pippi und Kalle und Ronja austoben, bewähren, stark werden, sich allein durchsetzen und allen anderen Mut machen. Die legendäre Schriftstellerin Lindgren selbst bleibt ein Schatten (bei der Fanpost), ihre grossen Erfolge, ihre Heirat mit Sture Lindgren und ihr Familienleben, ihr soziales Engagement und Wirken bleiben ausgespart.
«Astrid» ist ein dramatisches Biopic, konzentriert auf das Werden der Autorin, lässt ihre Werke, Bedeutung in der Literatur links liegen. Der packende Film ist ein starker Beitrag über Emanzipation. Gleichwohl vermeidet der Spielfilm populäre Ausschmückung und Kitsch. Er wirkt wahrhaftig und bewegend – auch dank der wunderbar glaubwürdigen Darstellerin Alba August, Tochter des Filmers Bille August («Nachtzug nach Lissabon») und der Schauspielerin Pernilla August («Star Wars: Episode I – Die dunkle Bedrohung»).
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Disobedience

rbr. Eine Liebe gegen die Norm. Der Originaltitel ist fast schon ein Zungenbrecher für Nichtenglischsprachige. «Disobedience» bedeutet Ungehorsam. Hier geht es um eine Jugendliebe, die nach Jahren wieder aufblüht – gegen jüdisch-bürgerliche Normen. Die Fotografin Ronit Krushka (Rachel Weisz) lebt in New York und kehrt heim nach London – zur Beerdigung ihres Vaters, eines angesehenen Rabbis. Sie begegnet dabei auch ihre Jugendfreundin Esti (Rachel McAdams), die Dovid Kuperman (Alessandro Nivola) geheiratet hat, der die Nachfolge des verstorbenen Rabbis antreten soll. Ronit und Esti, nicht glücklich in ihrer Ehe, kommen sich (wieder) näher, erinnern sich an ihre Romanze, küssen sich, lieben sich wieder. Das bleibt nicht unentdeckt in der jüdischen Gemeinde. Gefühle sind stärker als gesellschaftliche jüdische Normen. Esti weiht ihren Mann ein und fordert für sich innere und äussere Freiheit. Ronit will wieder zurück in die USA und Esti…

Sebastián Lelio, in Argentinien geboren und in Chile aufgewachsen, hat zusammen mit Rebecca Lenkiewicz das Filmdrehbuch nach dem gleichnamigen Roman der Britin Naomi Alderman entwickelt. Wenn man so will: ein unauffälliger, unspektakulärer und leiser Spielfilm. Die lesbische Liebe bleibt bis auf eine intensive Liebesnacht im Verborgenen. Gesten, Blicke, Berührungen sagen mehr als aufreizende Szenen und Aktionen, getragen und geprägt von den sensibilisierten Hauptdarstellerinnen Rachel Weisz und Rachel McAdams. Das Drama, melodramatisch und gegen Ende etwas hollywoodesk theatralisch, ist ein Plädoyer für Gefühle, Aufbegehren, für die Freiheit, für sich zu wählen und von Zwängen zu befreien. Etwas fragwürdig, fast märchenhaft wirkt nur die Einsicht und Toleranz des orthodox-jüdischen Ehemanns – Wunschdenken?

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to be continued

NACH OBEN

Photo/Film