«Fotomuseum Winterthur: Die Fotografie ist nackt wie nie»
Von Daniele Muscionico
Der ehemalige Shooting-Star der Fotografie, Juergen Teller zeigt den Bedeutungsverlust des Mediums am eigenen Körper – seine neue Nacktheit ist die alte Hilflosigkeit vor der Message. Der Trend zur Spielerei macht aus der zeitgenössischen Fotografie ein Krisenphänomen.
Weibliche Brustwarzen sind in Europa museumsreif, das macht Männer und Babys glücklich. Im Fotomuseum Winterthur hängt ein solches Exemplar in monumentaler Übergrösse, eine konzentrische Rundarchitektur, eine kecker Kuppel. Die Dimension des Bildes macht die Aussage nicht wesentlicher, aber wesentlich bedeutungsschwerer. Um den vorsätzlichen Nippelgate philosophisch zu verankern, hat ihm der Fotograf ein inhaltliches Pendant beigesellt: eine säugende Wildschweinmutter.
Brustwarze trifft Schwein, das ist die Welt von Juergen Teller. Die ironische Paarung ist symptomatisch für die aktuelle Ausstellung des deutschen Star-Fotografen. Im massgebenden Haus für Fotografie, dem Fotomuseum Winterthur ist eine intime Reise zu sehen in die ästhetischen Assoziationen des ehemaligen Shootingstars und in seine mehr oder weniger ironische Gedankenwelt. «Enjoy your life!», heisst der affirmative Titel, und ausgepresste Blutorangen sind die Teaser der Premiere, die die neue Direktorin, Nadine Wietlisbacher und der Künstler kuratiert haben: Die Supersäuger-Schau ist ohne Zweifel ein gefundenes Fressen für alle Teller-Fans.
Und deren gibt es viele. Der deutsche Mode- und Werbephotograph in London hat in den neunziger Jahren wegweisend dazu beigetragen, dass die Fotografie die Akademie verliess und ein Publikum fand, das sie als Pop und Lifestyle lesen lernte. Fotografie war das, was später die sozialen Medien abdeckten sollten, sie war Pulsgeberin und Pulsnehmerin von Trends und Twists und zuständig für alles, was jung, gut gebaut und sexy war.
Juergen Teller, Superstar
Juergen Teller, in England auf der Flucht vor dem deutschen Wehrdienst, befand sich am Beginn seiner Karriere zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Die Porträts eines damals unbekannten Frontsängers einer Band namens Nirwana, Kurt Cobain, machten ihn über Nacht zum Shootingstar. Heute ist der einstige Celebrity-Jäger längst selbst ein Celebrity – an der Vernissage in blauen Socken, grünen Turnschuhen und roten Hot-Pants fotografierte er sich und die Seinen ausgiebig, mit dem Handy. Teller Superstar ist ein Künstler, dessen Publicity es nicht schadet, dass die Mutter seiner Kinder die wichtige Londoner Powerfrauen, die Galeristin Sadie Coles ist.
Doch bereits in den Nullerjahren war in seinem Werk eine gewisse eingetrübte Melancholie zu beobachten. Vielleicht sogar Resignation? Müde geworden von den Egos der Stars, begann sich Teller nackt selber zu porträtieren. Keine fremden Eitelkeiten, keine Auftraggeber, die ihm in seiner Arbeit mit drögen Wünschen behelligten. Er hatte Vivienne Westwood entblättert und auf ein Sofa drapiert, er zeigte Charlotte Rampling im Louvre nackt vor dem Bild der «Mona Lisa». Nun stand er vor der eigenen Kamera – nicht wie Gott ihn geschaffen hatte allerdings, sondern in dem bedenklichen Zustand, in dem sich ein 40-jähriger mit Liebe zum Alkohol selber versetzt hat. Tellers Nacktheit war auch ein Fanal welkender Männerblüte.
Selbstporträts eines Bankrotts
Was zunächst ein Spleen schien, beschäftigt ihn bis heute. Teller zieht sich vor seiner Kamera gerne aus. Er trägt auf seinen Selbstporträts vorzugsweise nichts als bunte Socken, und sein runder nackter Bauch gleicht einer Schwimmweste, die ihn in seiner eigenen Geschmacklosigkeit nicht untergehen lassen soll. Er legt sich für seine Bilder ohne Kleider auf edle Musikinstrumente, dekoriert sein Gemächt (Luftballone!), er posiert mit Bier und Fussball am Grab seines Vaters. Auf der Suche nach immer wieder Neuem, Überraschendem, verkörpert er den alten Adam der Vergeblichkeit. Tellers «Self-reflections», kompositorisch zwar so stark wie in seinen Anfängen, huldigen keinem Vorbild mehr; sie verklären den Zynismus eines Künstlers, der Kunstideale für bankrott erklärt.
Denn der nackte Teller ist keine nackte Bacon-Figur, verformt, zerstört, faszinierende Sinnbilder menschlicher Angst und Qual. Der hüllenlose Fotograf spricht vom Degout vor sich selber und der Kunst. Gerne legt er in Museumsvitrine auch Teller aus, Porzellan-Teller mit «Teller»- Motiven. Ein Künstler erklärt sich zur Ware und macht sich selber platt.
Gesucht: neue Dringlichkeit
Das Beispiel Juergen Teller ist ein Krisensymptom und zeigt, wie die zeitgenössische Fotografie als Konzeptkunst nicht nur ihren Ruf riskiert; sie ist längst bereit, ihn zu verspielen: Sie verspielt ihn mit formaler Variationen über fotohistorische Klischees und Ikonen. Wo Message war, herrscht Manierismus.
Seit der Fotojournalismus in seiner alten Form an Bedeutung verloren hat, die sozialdokumentarische Fotografie das bewegte Bild entdeckt, seit die Dringlichkeit einer «concerned photography» von Cornell Capa den digitalen Wandel mehr schlecht als recht überlebt – ist unklar, wozu das Medium Fotografie noch taugt.
Was sie einmal getaugt hat und wozu sie im Stande und aufgerufen war, lässt sich derzeit in der Photobastei entdecken. Man feiert einen der letzten grossen, deutschen Fotojournalisten, Robert Lebeck. Der 2014 verstorbene Berliner arbeitete lange Jahre für den «Stern», er war für das Image der deutschen Politik und ihrer Protagonisten mitverantwortlich. Lebeck fotografierte den Prager Frühling ohne die russischen Panzer, denn er begleitete Rudi Dutschke auf seinem Besuch bei friedlich demonstrierenden Prager Studenten. Das Bild, das sich die Bundesrepublik von den Verwerfungen des Jahres 1968 machte, war beeinflusst von den humanistischen Reportagen Lebecks. Allein für den «Stern» waren das im geschichtsträchtigen Jahr 24 mehrseitige Bildstrecken.
Robert Lebeck porträtierte alle wichtigen deutschen Stars, Sportler, Musiker, Prominente entlang ihrer wechselhaften Karrieren. Er hat auch die bedrückende Bildserie von Romy Schneider geschaffen, deren Entstehung 1981 jüngst Stoff für den Kinofilm «Drei Tage in Quiberon» war. Lebecks klassische Hinterlassenschaft sind Geschichtsdokumente. Er ist und war ein Dinosaurier.
Letzte Ausfahrt Jurassic Park?
Auch im Werk von Juergen Teller findet man das Motiv des Dinosauriers überraschenderweise. Hier allerdings ist es eine jammervolle Referenz an Grosses und Vergangenes. Tellers persönliches Fossil steht in seinem persönlichen Garten – es ist ein aufblasbarer Dino, ein selbstironisch luftleeres, ausgepumptes Stück bunten Plastiks. Natürlich hat der Künstler dessen Niedergang, eine vielsagende Metapher, fotografiert.
Zeitgenössische Fotografie erschöpft sich zusehends in formaler Spielerei. Auch «Double Take», eine «wahre Geschichte der Fotografie» ist eine Ausstellung, die solche Befürchtungen nährt. Die Schweizer Bricolage-Künstler Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger sind die Protagonisten eines Handwerks, die ikonische Bilder in einer Form von «Making of» nachstellt. Hätte man die sympathischen Youngster und ihre Hommage an ihre Meister vor dreissig Jahren entdeckt, man würde heute die Kunst von Fischli/Weiss kaum vermissen.
Doch in der Nachfolge der grossen Kunst-Schwindler der 20. Jahrhunderts nehmen sich die Reenactments von Cortis & Sonderegger sentimental aus. Ohne Frage ist ihr Erfolg eindrücklich und ihre Gefolgschaft gross. Das Bedürfnis nach nachvollziehbaren Narrationen ist auch in der Kunst bemerkenswert. Es scheint sogar zusehends grösser zu werden.
Wenn gilt, dass Kunst permanent in der Krise ist, besteht Hoffnung. Dass Künstler fotografierend an sich selber herumspielen, ist allerdings rufschädigend. Sie schaden dabei nicht sich selber, sie verspielen den Ruf einer Fotografie, die begriffslos in der Zeit steht. Doch die Gegenwart braucht keine Begriffe, sie wird begreifbar durch das Bild.
Erstveröffentlichung NZZ, mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Juergen Teller: Enjoy your Life!, Fotomuseum Winterthur, bis 7. Oktober; Joakim Cortis & Adrian Sonderegger: Double Take, Fotostiftung Schweiz, bis 9. September; Robert Lebeck: Vis-à-vis, Photobastei Zürich, bis 15. Juli.
«ScreenX: In den Film eintauchen»
Neues Projektionsverfahren ScreenX in Zürich, Freiburg und Genf
Rolf Breiner
«Wir müssen die Jungen wieder ins Kino locken», ist Kino-Grandseigneur Edouard «Edi» Stöckli überzeugt. Und dafür tut der Kinobesitzer (Arena Cinemas Sihlcity, Stüssihof u.a.) viel. Vor allem investiert er viel Geld in Erneuerungen, die das Kinoerlebnis noch interessanter und prickelnder machen sollen.
Jüngst wurde neu ausgestattete Säle in Genf (La Praille), Freiburg (Centre) und Zürich (Sihlcity) eröffnete. 4DX-Kinos und LED-3D-Screen waren gestern. Heute heisst der Lockruf «ScreenX». Dafür hat Stöckli eine halbe Million Franken investiert. Die neue Technik bietet ein 270-Grad-Erlebnis. Das bedeutet: Die klassische Kinoleinwand wird um anschliessende Projektionsflächen links und rechts erweitert. Wenn also Johnny Depp über sein Piratenschiff sprintet von Steuerboard nach Backbord, läuft er nicht aus dem Bild, sondern hechtet quasi an der Kinowand entlang.
«Man soll in den Film eintauchen», begeistert sich Stöckli. Die Absicht ist löblich, auch weil junge Leute sich Filme auf ihr Handy, ihren Laptop laden. Doch solche Guckkasten-Visionen können nur armselig sein. Dem soll nun in den ScreenX-Sälen abgeholfen werden. Ein durchaus attraktives Medienangebot.
Freilich eignen sich nicht alle Kinofilme für solch ein visionäres Unterfangen: monumentale Actionfilme natürlich mit grosser Szenerie wie im Seeabenteuer «Pirates oft the Carribean». Aber auch Fantasyfilme wie «Ant-Man and the Wasp» (aktuell), der kommende Haifisch-Thriller «The Meg» oder die Comicverfilmung «Aquaman» sind dafür ebenso gut geeignet.
Die erwähnten Schweizer Kinos sind die ersten in Europa, welche das Multi-Projektionsverfahren ScreenX bieten. Diese Technologie ist 2012 in Südkorea entwickelt worden von der CJ Group. Es wurde bereits in 147 Kinos eingebaut: 85 in Südkorea, 44 in China, 4 in der Türkei, 3 in der Schweiz sowie 2 in Vietnam und Frankreich, je 1 Kino in Thailand, Japan und Indochina.
Die ScreenX-Säl in Zürich wie auch in Freiburg und Genf können auch «konservativ» genutzt werden, also mit Filmen ohne ScreenX-Erweiterung. 3D-Filme können für das Verfahren nicht eingesetzt werden. Sehr gut eigneten sich hingegen Konzert- und Sportübertragungen, wird von den Betreibern versichert. Also rein mitten ins wunderbare Actionvergnügen und sich in den Film fallen lassen!
«Locarno: Filmfestival im Zeichen der Leichtigkeit»
Die Filmwelt blickt an den Lago Maggiore. Nach dem Jubeljahr – 70. Ausgabe – beschäftigt eine Frage in Locarno: Wer wird Nachfolger des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian, der 2019 dem Ruf nach Berlin folgen und neuer Direktor der Berlinale werden wird? Am Ende des 71. Festivals (1. bis 11. August 2018) will Präsident Marco Solari den neuen Direktor oder die neue Direktorin bekannt geben.
Von Rolf Breiner
Eröffnet wird das 71. Locarno Festival am 1. August mit der französischen Komödie «Team Spirit – Les beaux Esprits» von Vianney Lebasque. Wieder ein Film nach wahren Begebenheiten: Trainer Martin schickt ein Team von Basketballern mit vermeintlich psychischen Defiziten nach Sydney an die Paraolympics 2000. Die Zeichen stehen auf Heiterkeit, gleich zu Beginn auf der Piazza Grande.
Das Programm unter m Sternenhimmel, das allabendlich Tausende anzieht (bis zu 8000 Personen), ist bunt bestückt. Zur Übersicht ein paar Vorschläge aus dem Piazza Grande-Programm: Die deutsche Filmerin Sandra Nettelbeck hat ihr Filmkomödie «Was uns nicht umbringt» namhaft bestückt mit Deborah Kaufmann, Mark Waschke, Christian Berkel, Sophie Rois, Barbara Auer, Peter Lohmeyer u.a. (Freitag, 3. August, 21.30 Uhr). Denzel Washington räumt wieder rigoros auf in «The Equalizer 2» (4. August, 21.30 Uhr). Spike Lee taucht tief in die amerikanische Rassistenszene mit «BlacKkKlansman» (5. August, 21.30 Uhr). Die Schweizerin Bettina Oberli erzählt von einer gestörten Dreierkiste in «Le vent tourne» (6. August, 21.30 Uhr). Denis Rabaglia nimmt’s komödiantisch bei einem «Geliebten Feind – Un nemice ch ti vuole bene» (7. August, 21.30 Uhr). Ethan Hawke (Excellence Award Locarno 71) schildert die Geschichte des umstrittenen US-Singer-Songwriter Blaze Foley, der 1989 erschossen wurde: «Blaze» (8. August, 21.30 Uhr). Duccio Chiarini aus Florenz präsentiert die schweizerische Koproduktion «L’ospite» (9. August, 21.30 Uhr). Der amerikanische Thriller «Searching» von Aneesh Chaganty schildert, wie ein Vater seine verschwundene Tochter sucht (10. August, 21.30 Uhr). Die französische Komödie «I Feel Good» (11. August) beschliesst den Filmreigen auf der Piazza Grande nach der Leoparden-Verleihung um 21 Uhr. Bemerkenswert ist auch, dass erstmals eine Fernsehreihe auf der Piazza Grande gezeigt wird, und zwar Bruno Dumonts «Coincoin et les Z’inhumains» (2mal 52 Minuten am 4. August nach «The Equalizer 2»). Diese burlesk-extraterrestische Krimiserie stammt aus Frankreich.
Würde man das Piazza-Programm zum Massstab nehmen, bietet Locarno71 (das bedeutet die 71. Ausgabe) einige Unterhaltung, «ganz im Zeichen der Leichtigkeit», wie Carlo Chatrian meint. Was wohl kaum auf den Internationalen Wettbewerb (15 Langfilme) und Wettbewerb neuer Talente (Concorso Cineasti del presente mit 16 Erstlings- und Zweitwerke) zutreffen wird. Spezielle Aufmerksamkeit wird dem Schweizer Wettbewerbsbeitrag «Glaubenberg» von Thomas Imbach zukommen. Starkes Sitzvermögen ist bei einem argentinischen Werk gefordert, es dauert 14 Stunden (oder 808 Minuten), heisst «La Flor», wurde von Mariano Llinás geschaffen und wird in drei Teilen am Ende des Festivals gezeigt – eine Hommage an die Kinogeschichte.
Seit Jahrzehnten ist die Filmkritikerwoche (Semaine de la Critique) ein Garant für spannende Dokumentarfilme. Vom 3. bis 10. August werden sieben Filme aufgeführt. etwa vom Genfer Nicolas Wadimoff («The Apollo of Gaza» am 3. August), vom Franzosen François-Xavier Droeut («The Time of Forest» am 4. August), von der Schweizerin Barbara Müller («#Female Pleasure» am 6. August), vom Iraner Reza Farahmand («Women with Gunpowder» am 8. August) oder von der Argentinerin Georgina Barreiro («Tara’s Footptint» am 9. August). Neu werden die Filme der Semaine im grössere La Sala (11 Uhr) mit Wiederholung am nächsten Tag im L’altra Sala (18.30 Uhr) gezeigt.
Wer sich speziell für Schweizer Filme interessiert, kann im «Panorama Suisse» fündig werden. Zehn Filme, ausgewählt von den Solothurner Filmtage, der Schweizer Filmakademie und Swiss Films, sind hier zu entdecken oder wiederzusehen. Präsentiert werden sieben Dokumentar- und drei Spielfilme, beispielsweise «Eldorado» von Markus Imhoof, «Genesis 2.0» von Christian Frei oder «Chris the Swiss» von Anja Kofmel. Bekannt sind die zwei mehrfach ausgezeichneten Spielfilme «Mario» über eine schwulen Fussballer und «Blue My Mind» über eine sich wandelnde junge Frau. In «Fortuna» beschreibt Germinal Roaux die Liebe zwischen Fortuna und Kabir, von einem Asylentscheid bedroht.
Von Cineasten immer wieder geschätzt ist die Retrospektive von Locarno. In diesem Jahr ist sie dem Hollywood-Regisseur Leo McCarey (1898-1969) gewidmet – mit 109 Werken. Er war der Geburtshelfer des Komikerduos Stan & Ollie (Dick und Doof) alias Laurel und Hardy. Er schuf aber auch Filme wie «Die Marx Brothers im Krieg» (1933), «Der Weg zum Glück» (7 Oscars) oder «Die Glocken von St. Mary» mit Bing Crosby und Ingrid Bergman. Teile der Retrospektive werden nach Locarno auf Tournee gehen, beispielsweise nach Zürich (Filmpodium), nach Bern (Rex), und zur Cinémathèque Suisse.
Was wäre Locarno ohne seine zahlreichen Awards? Ein bisschen Startum muss sein. Leoparden gehen in diesem Jahr u.a. an Ethan Hawke (Excellence Award), die Schauspielerin Meg Ryan (Leopard Club Award) und Regisseur Bruno Dumont (Pardo d’onore).
Eingestimmt wird das (einheimische) Publikum bereits am 31. Juli (21.30 Uhr) auf der Piazza Grande (freier Eintritt) – mit dem Musicalfilm aus dem Jahr 1978 «Grease» mit John Travolta und Olivia Newton-John.
www.locarnofestival.ch
«Carlo Chatrians Last Picture Show in Locarno»
Von Rolf Breiner
Stürmische Zeiten in Locarno: Nicht nur der Abschied von Carlo Chatrian, dem künstlerischen Leiter des Locarno Festival 71, sorgte für Gesprächsstoff und Turbulenzen, sondern auch das Wetter. Es schlug einige empfindliche Kapriolen. In diesem Festivaljahr gaben Frauen den Ton an – als Filmschaffende und Thema. Gewinner des Goldenen Leoparden war jedoch ein Mann: Yeo Siew Hua aus Singapur mit seinem Ausbeutungsthriller «A Land Imaged».
Die Festivalführung unter Marco Solari lässt sich Zeit mit der Nachfolge Carlo Chatrians, der nun Locarno Richtung Berlin verlässt und dort die Berlinale leiten wird. Zunächst wolle man die 71. Ausgabe verarbeiten, heisst es. Am 24. August soll der neue Leiter, die neue Leiterin bekannt gegeben werden. Es kann nur eine, eine Frau geben, deutet man die Zeichen der Zeit richtig.
Das Locarno Festival 71 am Lago Maggiore (1. bis 11. August 2018), zum sechsten und letzten Mal unter Leitung Carlo Chatrians, setzte zumindest beim Piazza Grande-Programm auf bekömmliche, mehrheitlich amüsante bis actionreiche Kost. Publikumshit war freilich der 40 Jahre alte Musikfilm am 30. Juli vor dem Festivalbeginn: «Grease» mit John Travolta (Gratiseintritt) und 6800 Besuchern auf der Piazza Grande. Die Festivalspitze hielt freilich der Actionknaller «Equalizer 2» mit Denzel Washington und 6900 Zuschauern am 4. August. Das Schweizer Biobauern-Drama «La vent tourne» von Bettina Oberli lockte immerhin auch 6200 Besucher an. Bester Piazza-Film war jedoch – aus unserer Sicht – das Musikerporträt «Blaze» (5800 Besucher) von Ethan Hawke, der seinen Film selber vorstellen und einen Ehren-Leoparden (Excellence Award) im Empfang nehmen konnte. Das Drama über den Country-SingerSongwriter Blaze Foley aus Texas litt ebenso wie Oberlis Geschichte um zwei Männer, eine Frau und ein Windrad unter Wetterunbilden (massive Regenschauer).
Wie alljährlich gab es in Locarno nachhaltige Begegnungen, filmische und persönliche, Wiedersehen, Entdeckungen und Enttäuschungen. Eindrücklich war der Auftritt des Künstlers Christo, über den der Bulgare Andrey M . Paounov einen packenden, ungeschminkten Film gedreht hat: «Walking on Water» dokumentiert die Arbeit, Realisation, das Gelingen, die Probleme (mit Behörden und Zuschauermassen) und Rezeption des Christo-Projekts «The Floating Piers» auf dem Lago l’Iseo in Italien. Ein grandioses Projekt, das Christo bereits vor 40 Jahren zusammen mit seiner Partnerin Jeanne-Claude geplant hatte. «Floating Piers» – das heisst: Menschen konnten 2016 während 16 Tagen quasi aufs Wasser laufen, die Stege waren über annähernd vier Kilometer im See ausgelegt. Über eine Millionen Besucher nutzten diese einmalige Möglichkeit. Der Film legt Zeugnis ab vom gigantischen Unternehmen, von der Planung, der logistischen Herausforderung, aber auch von der Besessenheit des Künstlers, von seinen Visionen und der Resonanz.
Den wohl längsten Filme der Festivalgeschichte hatte Chatrian in den Wettbewerb gehievt: «La Flor» des Argentiniers Mariano Llinàs. 14 Stunden Kino. Das sechsteilige Episoden-Epos um und mit vier Frauen, die immer wieder auftauchten, konnte einen reinziehen, aber auch verstören, langweilen oder gar ärgern. Es blieb weitgehend– gewollt – unvollendet. Einige der Spielfilmteile fanden kein Ende, endeten abrupt. Der Filmer spielte mit Genres, vor allem aber mit der Geduld des Zuschauers. Ein Kino-Kunstwerk? Ein Werk ja, insgesamt jedoch ein Fragment, das erst noch sein Publikum suchen muss.
Der Schweizer Wettbewerbsbeitrag «Glaubenberg» vom Luzerner Thomas Imbach ist eine Enttäuschung. Imbach («Mary Queen of Scots»), verantwortlich für Regie, Buch, Kamera und Schnitt, schildert eine einseitige Geschwisterliebe, zäh, etwas träumerisch, aber doch blutleer und unglücklich – mit einem Abstecher in die Türkei. Eine Provokation war der deutsche Wettbewerbsbeitrag «Wintermärchen» von Jan Bonny. Zwei Typen und Maik, eine rebellische Teenager-Göre ohne Ziel und Halt, suchen den totalen Kick. Sie versuchen sich als nihilistische Terroristen, killen, klauen, kiffen, zerstören aus purer Lust. Ein kaum erträglicher Brutalostreifen, auch weil er so bescheuert nichtssagend und sinnlos ist. Dies «Märchen» ist ein Alptraum. Eine Zumutung.
Unter den Schweizer Filmen insgesamt, die in Locarno aufgeführt wurden, verdienen zwei Arbeiten eine besondere Erwähnung: «Chris the Swiss» von Anja Kofmel (demnächst im Kino) und «Les Dames» von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. Kofmel ist den Spuren ihres Cousins gefolgt, der in den Neunzigerjahren vom Journalisten zum Söldner im Jugoslawien-Krieg wurde, und umkam. Ein spezieller, sehr persönlicher Dokfilm mit eingestreuten düsteren Animationen der Zeichnerin Kofmel.
Beim Film «Les Dames» handelt es sich um Frauen im Alter von 60plus. Sie haben ein Teil ihres Lebens gelebt – verwitwet, geschieden, allein – und suchen neuen Sinn, neue Lebenslust, Kontakte und Liebe. Ein ehrlicher, lebensbejahender und liebenswürdiger Dokumentarfilm, der Mut macht, ohne in Rosarot zu malen.
Ein anderer Dokumentarfilm setzte sich mit Frauen und Unterdrückung auseinander, mit dem Fokus auf Sexualität Dabei spielt die Religion eine prägende Rolle, etwa bei der gesellschaftlichen Benachteiligung und Verteufelung femininer Sexualität. «#Female Pleasure» von Barbara Miller, in der Sektion Semaine de la critique aufgeführt und von über 900 Personen an zwei Aufführungen gesehen, ist ein Plädoyer für feminine Befreiung. Der aussagekräftige Film beschreibt fünf Frauen aus Europa, den USA (Brooklyn), Somalia, Indien und Japan und ihren Weg, ihre Brüche, ihre Ambitionen. Eine imposante Aufklärung und ein eindrücklicher Apell – von einer Klosterfrau, von ihrem Pater sexuell ausgenutzt, die austritt, von einer Jüdin, die religiöse Fesseln sprengt, oder einer japanischen Provokateurin, die ihre Vagina zum Kunstobjekt macht.
Die Betrachtung auf die 71. Ausgabe des Filmfestivals Locarno darf nicht ohne einen Hinweis auf die Retrospektive enden, die Leo McCarey gewidmet ist, dem «Schöpfer» von Dick und Doof (Laurel & Hardy), dem Regisseur von Filmen wie «The Milky Way» (mit Harold Lloyd, 1937) oder «An Affair to Remember» (mit Cary Grant und Deborah Kerr, 1957). Wer sich auf die zuletzt 1928 produzierten Stummfilme mit Laurel & Hardy eingelassen hat, erlebte köstliche Slapstick-Momente. Humor mit einfachsten Mitteln entfacht. Das gibt es heute leider nicht mehr und ist dem Kino verloren gegangen. Heute sind Holzhammer-Gaudi, Suff und derbe Gags unter der Gürtellinie bei vielen Teenie-Komödien angesagt.
Chatrin hat sein Versprechen von Unterhaltung und einer gewissen Leichtigkeit eingehalten. Er nimmt zufrieden seinen Abschied. Locarno71 sei eine Publikumserfolg und reiche Ausgabe gewesen, meint er. «Die preisgekrönten Filme erzählen von einer Welt, in der noch immer der Mensch das Mass aller Dinge ist. Sie begeben sich dabei auf ästhetische Suche nach einer angemessenen Form für eine Realität, die sich rasch verändert und der die Bilder allgegenwärtig sind.»
Die Publikumszahlen 2018 lagen leicht unter denen von 2017 (70. Jubiläumsjahr). Rund 155 000 Zuschauer und Zuschauerinnen wurden registriert, davon allein 61 000 auf der Piazza Grande. Von 25 Preisen gingen 12 an Frauen. Ein ermutigendes Zeichen.
Das Locarno Festival 72 findet vom 7. bis 17. August 2019 statt.
Preise Locarno Festival 71
Goldener Leopard (Internationaler Wettbewerb)
«A Land Images» von Yeo Soew, Hua, Singapur
Spezialpreis der Jury
«M» von Yolande Zauberman, Frankreich
Beste Regie
Dominga Sotomayor, Chile, für «Tarde para moris joven»
Beste Darstellerin
Andra Guti, Rumänien, für «Alice T.»
Bester Darsteller
KI Joobong, Hongkong, für «Gangbyun Hotel»
Besondere Erwähnung
«Ray & Liz» von Richard Billingham, Grossbritannien
Goldener Leopard Cineasti del presente
«Chaos» von Sara Fttahi, Österreich
Preis für die beste Nachwuchsregie
«Dead Horse Nebula» von Tank Aktas, Türkei
Spezialpreis der Jury
«Closing Time» von Nicole Vögele, Schweiz/Deutschland
Signs of Life
Award für «Hai shang chng shi» von Zin Li, China
Pardi di domani, Nationaler Wettbewerb
Goldener Leopard: «D’un Chateau l’autre» von Emmanuel Marre, Belgien
Silberner Leopard: «Heart of Hunger» von Bernardo Zanotta, Niederlande
First Feature
Bester Debütfilm: «Alles ist gut» von Eva Trobisch, Deutschland .
Prix du Public
«BlackKKlansman» von Spike Lee, USA
Variety Piazza Grande Award
«Le vent tourne» von Bettina Oberli, Schweiz
Preis der Ökumenischen Jury
«Sibel» von Guillaume Giovanetti und Çağla Zencirci, Frankreich, Türkei
«Locarno Festival: Neue Leiterin Lili Hinstin»
rbr. Wie angekündigt, hat nun der Verwaltungsrat des Locarno Festivals die Nachfolge von Carlo Chatrian bestimmt, der an die Berlinale berufen wurde. Die Pariserin Lili Hinstin (41) wird offiziell die künstlerische Leitung des Filmfestivals am 1.Dezember 2018 übernehmen, aber bereits sofort an den Vorbereitungen des Ausgabe 72 teilhaben.
Lili Hinstin leitet seit 2013 das Entrevues Belfort – Festival International du Film, war 2005 bis 2009 an der Französischen Akademie in Rom tätig und von 2011 bis 2013 stellvertretende Leiterin des Festivals Cinéma du Réel in Paris.
Festivalpräsident Marco Solari unterstreicht: «Lili Hinstins Profil entspricht genau unseren Ansprüchen an die künstlerische Leitung des Locarno Festivals» und meint weiter: «Unser nächstes Ziel ist die 75. Festivalausgabe. Wir wollen im Jahr 2022 ein Festival feiern, welches, ohne seine Geschichte zu verleugnen, fähig ist, die gesellschaftlichen Veränderungen vorwegzunehmen.»
«Fantoche – 16. Festival für Animationsfilme: Doucement Sexy, Lettland und 50 Jahre GSFA»
Von Rolf Breiner
Treffen der Internationalen Animationswelt in Baden: Zum 16. Mal präsentiert sich in den dortigen Kinos das Festival Fantoche – vom 4. bis 9. September 2018. Insgesamt werden über 200 Filme aufgeführt, 185 Veranstaltungen an 14 Locations angeboten.
In diesem Jahr werden nebst den Wettbewerben wieder verschiedene Schwerpunkte angeboten. Ein besonderes Augenmerk gelte dem Thema «Doucement Sexy», Filme aus Lettland sowie Aktionen und Ausstellung des Groupement Suisse du Film d’Animation (GSFA), wie Annette Schindler an einer Medienorientierung erläuterte. Sie leitet das Fantoche-Festival seit 2012. Anlässlich des Jubiläums «50 Jahre GSFA» ist eine Ausstellung zu sehen, welche die Arbeit an Animationsfilmen dokumentiert und erlebbar macht. Beim Blick hinter die Kulissen zeigen Schweizer Künstler, wie Animationsfilme entstehen – von der Idee über Notizen und Skizzen zu Stilstudien und Storyboards, schliesslich zur Realisation mit Zeichnungen, Tricks, Modellen oder Puppen. Stephan Wicki und Rita Drechsel Küng etwa orientieren über Stop-Motion (Donnerstag, 6. September, 12 bis 17 Uhr im Kunstraum Baden).
Die Ausstellung «Chris the Swiss» (Kunstraum) zeigt Originaldokumente zum gleichnamigen Film, der dem Schicksal eines Schweizer Journalisten nachgeht, der 1992 zum Söldner im Balkankrieg wurde und in Kroatien umkam. Chris war der Cousin der Zeichnerin und Filmerin Anja Kofmel, die auch am Festival präsent sein wird. Die Ausstellung wandert im Anschluss an Fantoche durch die Schweiz, nach Bellinzona (17. bis 30. November) Solothurn (24. Januar bis 17. Februar 2019), Lausanne (1.bis 15.März 2019), Dietikon (26. April bis 17. Mai 2019) und Luzern (Juni 2019).
Der baltische Staat Lettland feiert seine Gründung vor 100 Jahren. Deswegen rückt Fantoche das lettische Animationsschaffen in den Blickpunkt. Verschiedene Arbeiten sind in Baden zu sehen, Kurzfilme wie vom einflussreichen Filmemacher Arnolds Burovs («Little Hawk», 1978) oder von Edmunds Janson («The Isle of the Seals», 2014), der anwesend sein wird und Einblick in seine neuste Arbeit gibt.
«Sex sells» nicht nur, Sex gehört auch zu den Grundbedürfnissen. Der Fantoche-Schwerpunk «Doucement Sexy» widmet sich den «animierten Leibesfreuden». Kuratorin Eliška Děcká bietet in drei Programmblöcken «die süssesten Kurzfilm-Früchte der letzten dreissig Jahre» unter Stichworten wie «Vocal Bodies», «Silly, Sexy, Silly» oder «Evolution of Animated Sexuality». Ergänzt wird das Thema um Theater («Animeo & Humania»), Badegenuss («Bagno Popolare») oder Dispute über Sinn und Sinnlichkeit anlässlich des Films «Adam».
Immer interessant ist die Sektion Langfilme. Unter den 21 Filmen befassen sich fünf Werke mit historisch-politischen Themen. Erwähnt sei etwa der Schweizer Anidoc «Chris the Swiss», eine Mischung aus Zeichentrick und realen Dokumentarszenen, wie oben erwähnt. Zeichnerin und Filmerin Anja Kofmel ist den Spuren ihres Cousins gefolgt. Eine bemerkenswerte Aufarbeitung
Der Film «Funan» (2018) erzählt von einer Familie, die unter den Roten Khmer litt. «Your Name» (2016) aus Japan schildert, wie ein Mädchen in den Körper eines Jungen schlüpft, und «The Breadwinner» (2017) beschreibt, wie die elfjährige Parvana versucht, ihren Vater aus den Fängen der Taliban zu befreien. Als Zugabe im Programm gibt es den erfolgreichen Kinofilm «Isle of Dogs» (USA 2018), vor allem auch weil ein «Making of» zu sehen ist – in Anwesenheit des führenden Animators Kim Keukeleire.
Der Wettbewerb (Internationale, Nationale und Kinderfilme) umfasst 73 Kurzfilme aus 24 Ländern, darunter 22 aus der Schweiz. 2349 Filme wurden eingereicht.
Abgerundet wird das breit gefächerte Fantoche-Programm 2018 mit Gesprächen, der Swiss Industry Night & dem Industry Day (6. und 7. September), Spezialaufführungen für Kinder, einem Film-Bus auf dem Bahnhofplatz mit täglich wechselnden Kurzfilmen sowie der Retrospektive über Jurymitglied Monique Renault.
Wie uns Annette Schindler versicherte, steht Fantoche auf gesunden (finanziellen) Beinen. Das Budget 2018 ist auf 1,4 Millionen Franken angesetzt, die öffentliche Hand übernimmt dabei 58 Prozent, die Sponsoren 17 Prozent, die Stiftung 7 Prozent. Eintritte erwirtschaften 16 Prozent. Man hofft natürlich auch 2018 die Besucherzahl von rund 23000 Eintritten (2017) zu erreichen oder gar zu übertreffen.
Informationen:
www.fantoche.ch
Filmtipps
The Children Act
rbr. Über Leben richten. Den Bestseller lieferte der bekannte Autor Ian McEwan und schrieb auch gleich das Drehbuch zu «The Children Act – Kindeswohl»). Richard Eyre («Iris») verfilmte es und geleitete Emma Thompson zu bestechender Hochform. Die Richterin Fiona Maye (Thompson), respektvoll «My Lady» genannt, hat meistens familiäre Krisenfälle auf dem Tisch. Sie hat darüber zu entscheiden, ob siamesische Zwillinge getrennt werden sollen. Zusammen haben die Babys keine Zukunft, einer könnte überleben. Sie entscheidet sich fürs Überleben. Ein anderer Fall geht ihr sehr nahe, erschüttert ihren Glauben an Gesetz und Menschlichkeit. Der 17jährige Adam (Fionn Whitehead), Zeuge Jehovas und von seinen Eltern stark beeinflusst, verweigert Bluttransfusionen. Er glaubt wie seine Eltern daran, dass in seinem Blut die Seele wohnt und nicht erneuert werden darf. Adam leidet an Leukämie. Hier bremsen Glaubensregeln und -treue medizinische Eingriffe, sabotieren Lebensfähigkeit. Die leidenschaftliche Richterin ergreift eine ungewöhnliche Massnahme und besucht den Kranken im Spital auf, um sich ein Bild zu machen, die eigene Meinung des Teenagers zu hören. Die Richterin stellt das Kindeswohl (Children Act) über Glaubenssätze und Prinzipien der Eltern. Sie entscheidet gegen Glaubensregeln der Zeugen Jehovas und seiner Eltern – für Adam und das Leben.
Sie ist seine Hoffnungsträgerin, er stellt ihr nach, sucht ihre Nähe, ihren Zuspruch. Sie weiss sich und ihm nicht zu helfen, distanziert sich, verliert sich. Ihre Ehe wird erschüttert, ihr Mann Jack (Stanley Tucci) ist nur noch Beiwerk und Gewohnheit. Er bittet sie, fremdgehen zu dürfen, und sie reagiert gereizt, beleidigt, will die Scheidung. Und dann wird sie mit der Frage konfrontiert, wie sie Adam entgegenkommen will und darf, wie weit sie dafür verantwortlich ist, dass er sich im Stich gelassen fühlt.
Der Film packt Zuschauer, bewegt und konfrontiert: Kann und darf ein Mensch vor seiner Religion, gewissen sektiererischen Vorgaben geschützt werden? Ian McEwans Überzeugung ist klar: «Adams Leben ist mehr wert als seine Würde.»
Nun ist «The Children Act» eigentlich kein Justizdrama, sondern ein Beziehungs-Liebesfilm, ein Plädoyer für das Leben. Die Ehekrise zwischen Fiona und Jack zieht sich wie ein roter Faden durch die dramatische Entwicklung, sie ist sozusagen das emotionale Echo und Ausdruck einer Gemeinsamkeit. Das Melodrama bietet starke intime Bilder, gradlinige Konfrontationen und Dialoge und vor allem herausragende Leistungen der Schauspieler. Emma Thompson hat man seit langem nicht mehr so präsent, so intim ausdruckstark gesehen. Fesselnd.
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Khook
rbr. Mordsmässige Satire. Das Leben ist ungerecht, erst recht im Iran. Hasan Kasmai (Fasan Majuni), angefressener Regisseur, könnte aus der Haut fahren und lebt von einem Wutausbruch zum nächsten. Seit Jahren steht er im Iran auf der schwarzen Liste und kann nur zweit- und drittklassige Werbefilme inszenieren – aufwendig, geschmacklos und ziemlich bescheuert. Hinzu kommt, dass seine angehimmelte Starschauspielerin Shiva (Leila Hatami) die Geduld verliert. Sie will das Angebot eines konkurrierenden Regisseurs annehmen. Diese Entwicklung stösst Hasan in ein grösseres Dilemma: Die Ehe kriselt, seine Tochter kehrt ihm den Rücken und seine Mutter verliert die Orientierung (im Kopf). Und dann das: Ein unbedeutender Filmer namens Mani Haghighi wird umgebracht. Sein grösster Konkurrent, Sohrab Saidi, der seine Shiva bereits am Wickel hatte, wird um einen Kopf kürzer gemacht. Immer wieder auf der Stirn der Opfer das eingeritzte «Khook» (bedeutet auf Iranisch Schwein). Wer ist da das Schwein? Er scheinbar nicht, denn er wird verschont. Als dann noch seine favorisierte Shiva ein grässliches Ende findet, gerät auch Hasan in Verdacht. Ist er der Killer? Hat er sie bestraft, wird er bestraft? Ein Plan muss her, auf Teufel komm raus! Und so könnte ein Tod in der Not nützlich sein.
Mani Haghighi (Buch und Regie) trägt dick auf. Da müssen Statisten für einen Werbespot gallertartige Masse spucken, rollen Köpfe, wird grosses «Theater» vom Kleinen gemacht. Choleriker Hasan motzt herum, badet in Selbstmitleid und versucht seinen Frust, im Luftgitarrespielen abzubauen, selbst in Einzelhaft. Filmer Mani Haghighi gibt zu, dass natürlich auch eigene Befindlichkeiten und Eigenarten wie Luftgitarre in seine deftige Abrechnung eingeflossen sind. Kein Wunder, geht es in seiner schrillen Satire um Filmen und einem Regisseur als Hauptakteur im Iran. «Ich dachte an all die Hürden, die man als iranischer Filmemach täglich in seinem Beruf erlebt: Autokratie und der brutale Hass, den sie in deiner Seele auslöst; die Ungerechtigkeit, wenn man auf die schwarze Liste gesetzt wird; die Sorge, unter Verdacht zu stehen beim Staat und beim Publikum.» All das und mehr verquirlt der Mann aus Teheran in seiner schonungslosen, spitzbübischen Satire, nicht ohne Selbstironie, deftigen Scherzen und bitteren Seitenhieben auch auf soziale Medien. Mordsmässig lustig und bitter.
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McQueen
rbr. Manischer Modeschöpfer. Er war ein Berserker, Besessener, begnadeter Desiger-Rebell und Tabubrecher. Der Mode-Schöpfer und Radikalist Alexander McQueen eruptierte wie ein Vulkan und verglühte. Sein Spruch «Meine Shows sind Sex, Drugs and Rock’n’Roll. Ich will Aufregung und Gänsehaut. Ich will Herzattacken auslösen. Ich will, dass der Notarzt kommt.» Peter Ettedgui und der Genfer Ian Bonhôte rollen das Leben des Mode-Exzentrikers auf – von seinen ersten Näh-und Designertätigkeiten bis zu den extravaganten, überspannten Moderperformances, vom Aufstieg bis zu Ruhm, Einsamkeit und Ende. Für Lee, so riefen ihn Bekannte und Freunde, war der Becher voll, als seine Mutter starb. Ein Tag vor ihrer Beerdigung 2010 schluckte er einen Drogencocktail und erhängte sich.
Warum mit jungen 40 Jahren? Im Dokumentarfilm «McQueen» deutet alles darauf hin, dass er am Erfolg zugrunde ging, sich abschottete, innerlich wie äusserlich veränderte, depressiv wurde, sich selber verlor und im Kokain Zuflucht suchte. Wir erleben seine masslose Arbeitswut und -besessenheit, seine Wahnsinnsphantasien in der Modegestaltung, seine hemmungslosen Inszenierungen, kindliche Freude, seine Erfolge – aber auch krankhafte Dominanz, Düsternis und Verlorenheit. Lee, 1969 geboren, lernte die Schneiderei von Grund auf, gründete sein eigenes «alexandermcqueen»-Label und wurde als 27Jähriger Haut-Couture-Creative-Direktor des renommierten, französischen Modehauses Givenchy. Er nahm sein eingeschworenes Team aus England mit und mischte die Szene auf. Das ging solange gut, bis ihm der Erfolg über den Kopf stieg, er seine Freunde vor den Kopf stiess, sein Äusseres veränderte, abspeckte, im Koks Trost suchte.
Man muss kein Kenner oder Freund der Fashionbranche, Haute-Couture-Shows und des mondänen Zirkus sein – McQueens provokativen, ordinären und abstrusen Kreationen waren eh nur für den Laufsteg (Catwalk) gedacht und sonst kaum tragbar – um vom Film fasziniert zu sein. Ettedgui/Bonhôte blicken hinter die Kulissen, auf Modells und Macher. Dass sie keine Insider sind, kommt ihrem Mode- und Künstlerporträt zugute. Die Statements von Freunden, Begleitern, Mitarbeitern fliessen fast beiläufig ein, sie widerspiegeln die Kreativität, Auswüchse, Triumphe und Nöte des manischer Modeschöpfers, der auch Lady Gaga, David Bowie oder Madonna Kleider ausstattete. Ein Schaustück mit Tief- und Hintersinn.
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BlacKkKlansman
rbr. Zweifelhafte Unterhaltung. Um es vorweg zu sagen: Spike Lees neustes Filmprodukt funktioniert oder besser macht nur Sinn mit dem Nachspann, denn da wird der Bogen von der historischen Begebenheiten zu heute mittels Dokumentaraufnahmen von 2017 vor Augen geführt. Natürlich erkennt der aufmerksame Zuschauer Sidekicks auf Rassismus und Trump heute («America first»), aber das sind nur kleine Pointen. Spike Lee schildert eine sogenannte wahre Begebenheit. Ein Afroamerikaner namens Ron Stallworth (John David Washington, Sohn des bekannten «Equalizer» Denzel Washington) heuert bei der Polizei in Colorado Springs an und stösst als erster schwarzer Polizist auf offenen und versteckten Hass in den frühen Siebzigerjahren. Die schwarzen Bürger und Bürgerinnen mit der riesigen Afro-Haarpracht und ihren Bürgerrechtsanliegen sind vielen weissen Amerikanern ein Dorn im Auge. Spike Lee greift tief in die Geschichtskiste, erinnert an den Sessionskrieg, der offensichtlich auch heute noch nicht überwunden ist, und zitiert Rassenszenen aus D.W. Griffith`s Stummfilmdrama «The Birth of a Nation» (1915).
Sein Undercover-Held Stallworth gelingt es, sich zumindest telefonisch in den örtlichen KuKluxKlan (KKK) einzuschleusen. Sein jüdischer Cop-Kollege Flip (Adam Driver) übernimmt den Part des weissen Doubles, er verkörpert Detective Stallworth bei dem rassistischen Klub, setzt sich mit einem Prolo-Rassisten und dessen tumber Gattin, die ein Attentat planen, und anderen Klan-Mitgliedern auseinander. Als dann der Klan-Guru David Duke (Topher Grace), der übrigens noch heute sein aufhetzerisches rassistisches Unwesen treibt, zu einem Besuch ankündigt und Einschmeichler Stallworth aufzufliegen droht, eskaliert das Versteckspiel.
Spike Lee trägt dick auf, man schüttelt den Kopf ob der irrwitzigen Ermittlungen, der biederen Maskeraden und beschränkten Typen, der Scherze und Überzeichnungen. Nein, dieses klischeehafte KluKluxKlan-Panoptikum zwischen Pophistorie und Krimi, ist historisch ungenau und allzu harmlos, auch wenn am Ende die Polizeiarbeit quasi zunichte gemacht wird. Das Drama, basierend auf den Erinnerungen des Afroamerikaners Ron Stallworths, kann politisch wache Zuschauer nicht befriedigen. Es bleibt trotz Nachspann in den bieder-gefährlichen Siebzigerjahren stecken.
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The Guernsey Literary and Potato Peel Pi Society
rbr. Macht der Literatur und der Liebe. Der Titel klingt kompliziert und verschroben, der Film ist es hingegen nicht, in Deutschland als «Deine Juliet» lanciert. Schauplatz ist eine der britischen Guernsey-Kanalinseln, die als einziges britisches Territorium im Zweiten Weltkrieg von deutschen Soldaten besetzt worden war. Die Londoner Schriftstellerin Julie Ashton (Lily James) trauert ihren Eltern nach und mag nicht so einfach zum Schreiben zurückkehren. Ihr Interesse weckt ein Brief, die sie von einem gewissen Dawsey Adams (Michiel Huisman) bekommen hat und der sie zu einer Lesung auf die Guernsey-Insel einlädt. Juliet braucht unbedingt Luftveränderung, packt ihren Koffer und reist 1946 auf besagtes Eiland. Dort macht sie die Bekanntschaft mit dem Briefschreiber, einem Schweinefarmer, und Mitgliedern der «Literary and Patato Peel Pie Society». Der Name stammt aus der Besatzungszeit, als sich eine Handvoll Menschen zusammenfand, die den Deutschen trotzten, heimlich ein Schwein schlachteten, beinahe aufflogen und in der Not den Buchclub mit dem absonderlichen Namen erfanden, der sich auf den Kartoffelschalenauflauf, einem Notgericht, berief. Der Buchclub existierte eben auch nach dem Krieg, nur die Gründerin Elizabeth McKenna (Jessica Brown Findley) war verschwunden. Das weckte die Neugierde der Schriftstellerin. Sie stiess auf ein Geheimnis, das die Klubgemeinschaft vor ihr verbarg. Elizabeth hatte sich in einen deutschen Soldaten verliebt, mit dem sich auch Schweinezüchter Adams angefreundet hatte. Die Liebschaft flog auf, der Deutsche wurde verhaftet, und Elizabeth folgte ihm, versuchte ihn zu retten und hinterliess ein Kind.
Hartnäckig wie eine Detektivin durchdrang Eindringling Juliet die Mauer des Schweigens im Dorf und deckte die tragische Liebesgeschichte auf. Ein wunderbarer Stoff für ein Buch, doch Juliet versprach, die Beteiligten zu verschonen, aber… Mike Newells fein gesponnener Film basiert auf dem Briefroman der Amerikanerin Mary Ann Shaffer, den sie 2006 fertig gestellt hatte, der von ihrer Nichte Annie Barrows aber nach Shaffers Tod 2008 vollendet wurde. Einfühlsam und fast schon buchstabengetreu entwirft Newell («Vier Hochzeiten und ein Todesfall», «Harry Potter und der Feuerkelch») das Stimmungsbild einer Inselbevölkerung, die sich in Zeiten des Grauens (Weltkrieg) zu überleben suchte, Trost und Halt etwa in einer verschworenen Büchergemeinschaft fand. Der Film erzählt auch davon, dass die Liebe in solchen feindlichen Zeiten ein gefährliches Spiel war und die Solidarität ihre Grenzen hatte. Lily James («Mamma Mia! Here We Go Again» – sie spielte die junge Meryl Streep, «Little Woods», «Baby Driver») ist die perfekte Besetzung der forschen Schriftstellerin wie auch der Holländer Michiel Huisman als stiller Bücherfreund, Bauer und Romantiker. Zudem gelingt es Kameramann Sebastian Edschmid stimmungsvolle Inselbilder einzufangen, gedreht wurde zum Teil an Originalschauplätzen, beispielsweise in Saint Peter Port, dem Hauptort der Guernsey-Insel. Das Drama mit viel Zeitkolorit hat wie schon «The Bookshop» der Spanierin Isabel Coixet etwas sympathisch Altmodisches. Man lässt sich Zeit, widmet sich liebevoll den Figuren, spannt Fäden, die zerreissen und geflickt werden – mit einem Hauch Melancholie umsponnen. Gut zu sehen in heutigen Kinozeiten.
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Christopher Robin
rbr. Winnie Puuh ist zurück. Die Entstehungsgeschichte von «Pu dem Bären» (Original: «Winnie the Pooh») ist mindesten so spannend, wenn nicht spannender als der aktuelle Kinofilm «Christopher Robin». Das putzige, gutmütige Bärchen namens Pu (Pooh) erblickte 1926 das Licht der Bücherwelt. Alan Alexander Milne hatte diese Figur nach dem Vorbild des Teddybären seines Sohnes Christopher Robin Milne erdacht, entwickelt und auf die literarische Reise geschickt. Ein Erfolg, der in den Dreissigerjahren auch international reüssierte. Es erschien der Folgeband «Pu baut ein Haus» (1928). Tatsächlich gab es ein lebendiges Bärenvorbild. Ein kanadischer Veterinäroffizier hatte einen Jungbären «adoptiert», der zum Maskottchen der Zweiten Kanadischen Infanteriebrigade wurde. Der Jungbär sollte nicht mit in den Krieg ziehen und wurde im Londoner Regent’s Park «deponiert». Die Bärin wuchs heran, überlebte den Ersten Weltkrieg schadlos und wurde eine Attraktion des Tiergartens. Pfleger und Besucher nannten sie «Winnie», eine Geste an den Besitzer, der aus Winnipeg stammte. Der vierjährige Christopher lernte 1924 die berühmte Bärin kennen und freundete sich auch mit dem Teddybären-Ersatz an, eben «Winnie-the-Puuh». 1961 hatte die Walt Disney Company die Marktrechte erworben und brachte den drolligen Helden unters Volk. Zwischen 1966 bis 1983 wurde der Buchstoff fünfmal in Zeichentrickfilme (à 25 Minuten) umgewandelt, später kamen Comics, Serien und weitere Filme in Spielfilmlänge hinzu, «Tiggers grosses Abenteuer» (2000) beispielsweise oder «Heffalump – Ein neuer Freund für Winnie Puh» (2005). Im Jahr 2011 entstand der handgezeichnete Film «Winnie Puuh». Und nun hat der Schweizer Marc Forster («Finding Neverland», «All I See Is You») Hand an Winnie gelegt und die Realverfilmung «Christopher Robin» geschaffen. Der Titel deutet es bereits an: Winnie und seine Freunde sind eher Nebenfiguren, aber wichtige und entscheidende. Es geht um besagten Christopher Robin, zuerst als Kind, aber dann entscheidend als Erwachsener, Familienvater, unglücklich im Beruf, auch weil er wohl seine Phantasie verloren hat. Irgendwie kriegen die Freunde aus der Kindheit das mit. Der gealterte Puuh, auch Familienvater, und seine Freunde im Wald brechen auf, das Ferkel Piglet, der Esel I-Ah, das Kaninchen Rabbit, das Kängeruh Känga, die altkluge Eule und selbstverständlich Tigger. Dem Jungen, genauer dem Mann Christopher (Ewan McGregor), muss geholfen werden. Dem fehlt es an Selbstvertrauen, Fortune und wie gesagt an Phantasie.
Marc Forster hat den berühmten, bewährten Stoff adaptiert. Die Mischung vom Plüschtieren und Realschauspielern funktioniert. Die Fantasy-Komödie wirkt etwas altmodisch, aber desto sympathischer. Im Vergleich zu manchen Verfilmungen von «Alice im Wunderland» oder «Peter Pan» ist das Winnie-Christopher-Abenteuer geradezu idyllisch und gemütlich, heimelig und herzig. Es überbordet nicht mit Action und Techno-Firlefanz. Ein Plädoyer für Freundschaft und Solidarität. Wohltuend heutzutage.
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Don’t Worry
rbr. Aus der Bahn geworfen. Er ist ein echter Hallodrio, Nichtsnutz, Säufer. John Callahan lebt in Portland, Oregon, berauscht sich am Leben, masslos und in vollen Zügen, bis der Becher zur Neige geht. Nach einer Sauftour mit Kumpan Dexter (Jack Black) gibt es ein böses Erwachen. Ein Autounfall. Callahan landet zuerst im Spital, dann im Rollstuhl. Gelähmt vom Oberkörper abwärts. Nur eine Hand kann er mühsam bewegen. Nein, mit Abstinenz hat er nichts am Hut, und sein Schicksal will er nicht akzeptieren, lieber krepieren. Doch dann gelingt es dem unerschütterlichen Gönner Donnie (Jonah Hill) und der energischen Therapeutin Annu (Rooney Mara), den Unbeweglichen zu bewegen, in den Kreis der Anonymen Alkoholiker einzuschleusen. Ein Quentchen Mut keimt auf, Gefühle werden geweckt, Liebe ist immer möglich. John lässt sich auf Annu und Donnie ein, der ihm zwölf Stufen vorgibt, sich zu entwickeln und aus dem Selbstmitleid auszubrechen – bis zum Verzeihen, anderen (Stufe 10) und sich selbst (11), letztlich zum Sponsering, das heisst Weitergeben, Weiterhelfen. John erkennt, dass er auch als Behinderter Donnie helfen, ihm etwas zurückgeben kann. Donnie leidet an Aids. Und John Callahan entdeckt an sich eine schlummernde Fähigkeit. Er zeichnet bissige, böse Cartoons, gnadenlose, «unkorrekte» Kommentare zur Gesellschaft, zum menschlichen Verhalten. Beispiel: Jesus hängt am Kreuz. Sprechblase: «Thank God, it’s Friday.» Callahan wurde ein Cartoon-Star in den USA.
Regisseur Gus Van Sant («Good Will Hunting») trug jahrelang den Stoff mit sich herum, er hat Callahan kennengelernt und interviewt. Er schrieb das Drehbuch nach der Autobiographie von John Callahan, der 2010 59jährig verstarb. Van Sant verfilmte es unter dem Titel «Don’t Worry We Won’t Get Far on Foot», mit ironischem Unterton versteht sich. Das Porträt konzentriert sich auf die entscheidende Lebensphase des Behinderten, mit einigen zeitlichen Schwenkern. Ein Drama mit Lust und Leidenschaft, aber ohne Pathos und komödiantischen Zwischentönen wie etwa bei «Ziemlich beste Freunde». Getragen wird der Spielfilm von Joaquin Phoenix, der eine herausragende Leistung im Rollstuhl bietet. Nie war er besser – weder als Johnny Cash in «Walk the Line» und schon gar nicht als Jesus in «Mary Magdalene», in der Rooney Mara überzeugend die Hauptrolle spielte. Sie gibt hier wichtige Impulse als Annu, Pflegerin und Gefährtin. Phoenix hat sich akribisch auf die eingeengte Rolle vorbereitet und eine Zeit lang in einer Rehaklinik verbracht, in der auch Callahan behandelt wurde. Oscarwürdig.
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What Will People Say
rbr. Gefangen. Man kann sich gut vorstellen, dass dieses Schicksal kein Einzelfall ist – heute. Die 15jährige Nisha (Maria Mazhdah) sitzt in einer Zwickmühle: Einerseits spielt sie die Mustertochter einer pakistanischen Familie, streng konservativ und bestimmend. Andererseits lebt sie normal als norwegischer Teenager – ausser Haus. Doch als ihr Vater sie beim Kuscheln mit einem Norweger erwischt, ist es um ihre kleine Freiheit geschehen. Nisha wird von ihrem Vater (Adil Hussain) «entführt» und im fernen Pakistan bei Verwandten platziert. Gefangen in alten Traditionen. Ein Fluchtversuch schlägt fehl, und als sie nachts auf der Gasse einen Cousin küsst, von Sittenpolizisten genötigt und blossgestellt wird, wollen die Verwandten von diesem «amoralischen» Teenager nichts mehr wissen, Nishas Vater muss sie heimholen. Dabei kommt es zu einer fast unerträglichen Szene: Er versucht seine Tochter auf einem Felsvorsprung zum Selbstmord zu animieren. – Der Filmtitel «What Will People Say» ist fast schon programmatisch. Ja, was werden pakistanische Verwandte, Bekannte sagen, denken, wie werden sie sich verhalten, wenn eine Tochter ausschert, «Tabus» bricht, ihren eigenen Weg sucht. Die pakistanisch-norwegischen Regisseurin Iram Haq hat in ihrem einfühlsamen Drama eigene Erlebnisse verarbeitet, auch sie wurde von ihren Eltern gezwungen, anderthalb Jahre in Pakistan zu leben. Ihr Film beschreibt das Dilemma eines Kultur-Crashes, vor allem aber einen Selbstfindungs-, Befreiungsversuch und den Ablösungsprozesses eines Teenagers. Ein nachhaltiges Drama, bei dem das letzte Bild nachklingt: Der Vater steht hinter dem Fenster und lässt los. Auch er hat eine Entwicklung genommen.
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Mission: Impossible – Fallout
rbr. Mit Karacho nach Kaschmir. Das macht ihm so schnell keiner nach: Seit 1996 hetzt, hechelt und hangelt sich Tom Cruise als Agent Ethan Hunt der Geheimorganisation «Impossible Mission Force» (IMF) durch die (Kino-)Welt und riskiert dabei Kopf und Kragen. Denn Cruise, immerhin auch schon 56 Jahre alt, agiert meistens als eigener Stuntman. So hat er sich 2017 bei einer Verfolgungsjagd über den Dächern einen Knöchel gebrochen – und nach sieben Wochen weitergemacht. Die sechste Auflage der spektakulären Actionreihe lässt für Fans solcher hirnrissiger Kinounterhaltung keinen Wunsch offen. Rasante Verfolgungsjagden zu Fuss und in der Luft (mit Fallschirm), mit dem Motorrad, mit Autos und zum Schluss mit Helikoptern – in Berlin, London, Paris, Ramstein und Kaschmir. Die alte Truppe um Ethan Hunt mit Benji (Simon Pegg) und Luther (Ving Rhames) jagt im Auftrag von IMF-Chef Alan Hunley (Alec Baldwin) drei Plutonium-Kugeln, die auf dem Schwarzmarkt kursieren. Die Terrororganisation «Apostel» will daraus Atombomben konstruieren und auf die Welt loslassen – nach dem Motto «Je grösser das Leid, desto grösser der Frieden danach». Wie gesagt: Hirnverbrannt.
Schnell verliert man bei der Actionstory den Überblick, wer gegen wen agiert und ballert und killt. Eines ist klar; Terroristen wie IMF, M16 (mit Rebecca Ferguson als Doppelagentin) und CIA, angeführt von Erica Sloane (Angela Bassett) und ihrem Kettenhund August Walker (Henry Cavill), sowie Hunt hetzen den Plutoniumkapseln nach. Schliesslich muss mal wieder die Welt gerettet werden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei dieser irren Jagd spielt die Waffenhändlerin «Die weisse Witwe» (Vanessa Kirby) – smart, kühl und verführerisch. Ihr sieht man gern bei den raren Auftritten zu. Falls es zur «7. Mission: Impossible»-Auflage kommt, wird sie sicher wieder mitmischen.
Regisseur Christopher McQuarrie lässt in seinem Actiondauerbrenner keine Langeweile aufkommen, mischt auch mal eine witzige Situation dazwischen und spielt wiederholt mit Masken. Man wundert sich nur, wie Hank/Cruise die mörderischen Verfolgungen, Keilereien und Klettereien, Stürze und Schiessereien schier schadlos übersteht. Nachdenken überflüssig. Nach dem finalen Endkampf im Hochgebirge (Kaschmir) geht Hank die Puste aus, und er gönnt sich auf dem Felsen eine Verschnaufpause. Bis zur nächsten unmöglichen Mission?
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Mamma mia – Here We Go Again
I.I. Dancing queens reloaded. Vor zehn Jahren machte das Musical «Mamma mia» mit den ABBA-Songs Furore. Die Ohrwürmer tönen auch nach zehn Jahren noch frisch und beschwingt wie eh und je. So kann man sich getrost zurücklehnen und der Musik frönen, auch mit einiger Wehmut, als seien die Zeiten damals bessere gewesen. Die Mamma mia-Retrospektive bildet den Rahmen für Sophie (Amanda Seyfried), – die Tochter der verstorbenen Donna (Meryl Streep) -, die geheiratet hat und ihre Familie und das inzwischen älter gewordene Männer-Trio Sam (Pierce Brosnan), Harry (Colin Firth) und Bill (Stellan Skarsgard), die jeder als leiblicher Vater infrage kommen, auf die griechische Insel Kalokairi eingeladen. Sophie ist schwanger! Zur Unterstützung lädt sie auch Rosie (Julie Walters) und Tanya (Christine Baranski) ein. Bevor es zum musikalischen Feuerwerk und Finale kommt, wo auch Sophies Grossmutter (Popstar Cher) einen rasanten Auftritt mit «Fernando» hinlegt, erzählen sie der werdenden Mutter Geschichten aus den wilden 1970er Jahren, als Donna (Lily James als junge Donna) unter der Sonne Griechenlands Sam, Harry und Bill kennenlernte.
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Comme des garçons
rbr. Kesser Kick. In grauer Vorzeit – vor der Zeit der Fifa-Selbstdarsteller Blatter oder Infantino – hatten Frauen so viel mit Fussball zu tun wie Männer mit Synchronschwimmen (darüber gibt es demnächst im Kino den amüsanten Schwimmbad-Streifen «Swimming with Men»). Im Jahr 1969 stieg Reims aus der obersten Fussballliga Frankreichs ab. Sportjournalist Paul Coutard (Max Boubil), ein charmanter Bruder Leichtfuss mit dem Hang zur Überheblichkeit, hatte nur Spott und Hohn für den Präsidenten des dahinserbelnden Clubs übrig. Vom neuen Auftrag, mit der etwas steifen, scheinbar biederen Mitarbeiterin Emmanuelle (Vanessa Guide) das alljährliche Wohltätigkeitsfest der Zeitung zu organisieren, ist er alles andere als erbaut, bis er auf die verwegenen Idee kommt, zu diesem Anlass ein Frauen-Fussballteam auf die Beine zu stellen. Wider Erwarten erweist sich Emmanuelle als starke Partnerin und eine bunte Schar weiblicher Kicker – von Hausfrau bis Lesbe, grauer Maus bis Ausputzerin, von Beauty bis Sportkanone – zeigt der hochnäsigen Manneswelt, was Dribbling und Frauenpower heisst. Dabei muss die Jungmannschaft des Clubs ebenso Hiebe einstecken (auf dem Rasen) wie das arrogante Verbandsmanagement. Mit dem Songs «Stollen & Möpse» stürmen kesse Kickerinnen den Rasen.
Julien Hallard erzählt verschmitzt sympathisch die Geschichte der ersten französischen Frauenelf, welche die Bastion Männer eroberte. Heute gibt es im Land des Weltmeisters 160 000 Spielerinnen, und es dürften nun noch mehr werden. Wie singt Aretha Franklin zum Schluss: «Respect». Das kann man auch über das Lustspiel mit dem Ball samt weiblicher Spielfreude sagen: «Comme des garçons» – Wie die Jungs nur charmanter und attraktiver.
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Papillon
rbr. Ein anderes Flüchtlingsdrama. Paris 1931. Henri Charrière (Charlie Hunnam), wegen eines Tattoos «Papillon» genannt, wird wegen angeblichen Totschlags zu lebenslanger Haft verurteilt und mit anderen Sträflingen in die Strafkolonie St. Laurent in Französisch-Guayana, verfrachtet. Der drahtige Kerl gewinnt das Vertrauen des eher schwächlichen, bebrillten Fälschers Louis Dega (Rami Malek), der einen Batzen Geld in einer Kapsel im After schmuggelt. Papillon beschützt ihn, und Dega will seine Flucht «finanzieren». Der erste Fluchtversuch entpuppt sich als Falle, Papillon büsst ihn mit 92 Tage Dunkelhaft. Ein weiterer scheitert zusammen mit Leichtfuss Maturette (der Schweizer Joel Basman), der zu den Fluchtfreunden Papillon und Dega gestossen ist. Papillon überlebt eine fünfjährige Einzelhaft. Letzte Gefangenenstation ist «Die Teufelsinsel». – Kinokenner wissen um die Geschichte des Flüchtlings Henri Charrière, der seine Erinnerungen niedergeschrieben hat. Sie wurden 1973 von Franklin J. Shaffner verfilmt mit Steve McQueen (Papillon) und Dustin Hoffman (Dega) in den Hauptrollen, schon dazumal 144 Minuten lang. Nun also 45 Jahre danach eine Neuverfilmung von Michael Noer, in der sich Charlie Hunnam als Papillon und als allfälliger Bond-Kandidat gut in Szene setzen kann. Nuancen wurden geändert, aber im Grunde ist es die alte Geschichte einer Fluchtexistenz und Freundschaft, die hier zwischen Papillon und Dega stärker hervorgehoben wurde (117 Minuten). Hunnam hat nicht die charismatische Ausstrahlung eines McQueen und Malek nicht die Verschrobenheit eines Hoffman. Die Schauplätze (resp. Drehplätze in Montenegro und Malta) bieten nicht die schwüle erdrückende Atmosphäre der Originalschauplätze (Saint-Laurent-du Maroni, Spanien und Jamaika). Es fehlt eine Spur teuflischer Bedrohung, manches wirkt im neuen «Papillon» vorgeführt und inszeniert. Wer den alten «Papillon» freilich nicht kennt, wird Gefallen an diesem existentiellen Abenteuer finden.
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Los Perros
rbr. Befreiung. Subtil und unaufdringlich blickt die Chilenin Marcela Said hinter die Fassade der chilenischen Bourgeoisie heute. Sie berührt Fragen zur Zeit der Militärdiktatur, die von gewissen Kreisen beharrlich verleugnet, verdrängt, vergessen wird. Die tragische Vergangenheit ist kein Thema, die Opfer der militärischen Diktatur scheinen vergessen, die Täter sind untergetaucht oder werden gedeckt.
Mariana (Antonia Zegers), bestens situiert, aber unglücklich verheiratet, soll nach der Pfeife der Männer, ihres Mannes und ihres Vaters, tanzen und ein Kind bekommen. In der Ehe findet sie keine Erfüllung, und wird vom Ehemann Pedro, Architekt und mit seiner Arbeit vollends beschäftig, lieblos nebensächlich behandelt. Freunde stacheln ihn an und animieren ihn dazu, Mariana zu einer künstlichen Befruchtung zu drängen. Die 40jährige Ehefrau willigt mehr widerwillig als willig ein, um den Schein zu wahren. Ihr sind Pedro, aber auch ihr diktatorische Vater eigentlich gleichgültig. Gutbürgerlich verwöhnt, lebt sie wie in einem Goldenen Käfig. Erst ein Reitkurs weckt neue Lebenslust. Sie lernt, sich freier zu bewegen, ihre Ängste zu bändigen und sich zu widersetzen. Der Kontakt mit dem Pferd, noch mehr aber die Zusammenarbeit mit dem ältlichen Reitlehrer Juan (Alfredo Castro) bestärken Mariana darin, ihren Weg zu gehen, ihren Willen durchzusetzen. Das kann den Männern nicht gefallen, eine eigensinnige Frau!
Mariana sucht und findet Halt beim bald siebzigjährigen, ehemaligen Oberstleutnant Juan. Sie verliebt sich, doch Juan hat eine dunkle Vergangenheit, in die auch ihr Vater verstrickt scheint. Dem Colonel soll der Prozess wegen Menschenrechtsverletzungen gemacht werden. Schuld und Sühne?
Die Suche der Heldin Mariana nach der verborgenen Wahrheit – ihres Vaters, ihres Geliebten – bringt zwar nicht wirklich Licht ins Dunkle der Geschichte, konfrontiert aber Beteiligte mit einer begrabenen Schuld. Parallel dazu schildert die Regisseurin, wie eine Frau um die 40, abgeschottet und benutzt, ihren Weg findet und sich schmerzhaft befreit inmitten von «Hunden» (los Perros). Sensibles und sehenswertes lateinamerikanisches Kinos.
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Searching for Ingmar Bergman
rbr. Dem Genie ganz nah. Diese Bild hat sich eingeprägt: Ein Menschenzug auf einem Bergrücken mit dem Sensemann als Führer vorweg, ein Totenzug, der sich scharf gegen den Horizont abzeichnet. Mit dieser Einstellung aus dem Film «Das siebente Siegel» (1956 – wiederzusehen am 14. Juli auf Tele5, 20.15 Uhr) beginnt Margarethe von Trotta ihre ganz persönliche Spurensuche nach Ingmar Bergman. Der grosse, stilbildende und bedeutende schwedische Regisseur (1918 – 2007) scheint bei der jungen Kinogeneration fast in Vergessenheit geraten zu sein. Sein 100. Geburtstag, just am 14. Juli, und von Trottas Dokumentarfilm bieten Gelegenheit, sich Bilder und Filme Bergmans in Erinnerung zu rufen. Das tut die deutsche Filmerin Margerete von Trotta mit Liebe und Akribie, wobei sie sich – wenn auch nachvollziehbar – allzu häufig selber ins Bild rückt. Sein Werk vom existentiellen Schachspiel zwischen Ritter und dem Tod («Das siebente Siegel») war für sie Ursprung und Antrieb, sich dem Filmen zu verschreiben. Von Trottas Drama «Die bleierne Zeit» (1981) ist der einzige Film einer Regisseurin, den Bergman in die Liste der zehn für ihn bedeutendsten Kinowerke aufgenommen hat – neben Kurosawas «Rashomon», Fellinis «La Strada» und anderen.
Von Trottas Spurensuche verknüpft geschickt Filmbilder und Dokumentaraufnahme (etwa von Dreharbeiten und Theaterinszenierungen) mit Statements und Interviews. Schauspielerin Liv Ullmann, die Deutschen Gaby Dohm und Rita Russek erinnern sich an die gemeinsame Arbeit, Produzentin Katinka Farago schildert ihre heikle, aber erfolgreiche Zusammenarbeit, Regisseur Carlos Saura hebt die Bedeutung Bergmans heraus, und Bergmans Sohn Daniel klärt über die Abwesenheit und Lieblosigkeit des Vaters auf.
Die private Seite des genialen Filmgestalters, seine Ehen, sein Verhältnis zu Frauen werden nur angedeutet. Der Künstler Bergman steht im Fokus, seine Akribie, seine Besessenheit, seine Visionen, aber auch seine dichterische und dramatische Arbeit fürs Theater. Sein Credo «Filme sind Träume von Träumern» hat er gelebt und so Filmgeschichte geschrieben. Von Trottas vertiefendes Künstlerporträt macht Lust auf ein Wiedersehen mit Bergman-Filmen.
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Momo – Nicht ohne Eltern
rbr. Kuckucksnest. Eh man sich versieht, hat ein Kuckuck einem ein Ei ins Nest gelegt. So etwa könnte man die Komödie von «Momo» auf einen Nenner bringen. Als Vorlage diente das Bühnenstück von Sébastien Thiéry, das er nun selbst mit Vincent Lobelle fürs Kino zubereitet hat. Man stelle sich vor: Monsieur Prioux (Christian Clavier), ein Matratzenexperte vor der Pensionierung, begegnet einem schrägen Typen im Supermarkt, der sich nur schwer verständlich machen kann und behauptet, sein Sohn zu sein. Patrick (Sébastien Thiéry), so nennt sich der «Kuckuck», der sich ins gutbürgerliche Nest setzt, nervt und setzt einiges in Bewegung. André Prioux und seine Frau Laurence (Catherine Frot) staunen, zweifeln, grübeln, rätseln. Hat Monsieur in jungen Jahren einen Seitensprung mit Folgen vergessen, verdrängt, verleugnet? Aber es kommt noch besser: Der seltsame Fremdling holt auch gleich seine schwangere Frau Sarah (Pascale Arbillot) mit dem Deutschen Schäferhund Schnell (!) ins Prioux-Haus. André weiss nicht, wie ihm der Kopf steht, und Laurence fällt Gefallen an den «Kuckuckseiern». Trautes Heim nicht mehr allein?
Das klingt luftig, lustig, liebenswürdig – ist es auch über weite Strecken, wenn sich manche Besucher vielleicht an den Witzchen über Behinderte und Blinde stossen, wenn manche Situation hanebüchen und gewisse Konfrontationen etwas grob geschnitzt sind. Christian Clavier spielt zur Familienvater-Hochform auf (wie weiland bei «Monsieur Claude und seine Töchter»), Catherine Front macht mütterliche Miene zum Familienerweiterungsspiel, und Thiéry agiert plump-heiter wie man sich eben einen schrägen, sprachhandicapierten Vogel vorstellt. Das französische Lustspiel mit Lust am Absurden amüsiert passabel und plädiert für die Liebe – auch ohne Vaterschaft.
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Adrift – Die Farbe des Horizonts
rbr. Abgetrieben. Auch das neuste Überlebensseeabenteuer «Adrift» beruht auf einer wahren Begebenheit (nach «The Mercy» mit Colin Firth). Tatsächlich stach die 23jährige Tami Oldham im September 1983 mit ihrem Verlobten Richard Sharp von Tahiti aus in See, um die Luxussegelyacht «Hazana» nach San Diego, Kalifornien, zu überführen. Die beiden Segler gerieten in einen Hurrikan, Richard wurde über Bord gespült, und Tami trieb 41 Tage lang auf offenem Meer. Der deutsche Verleihtitel «Die Farbe des Horizonts» verklärt und färbt das Drama falsch ein.
Am Anfang ist da die junge Wilde Tami (Shailene Woodley) aus San Diego, die sich quasi frei schwimmt, ein unabhängiges Leben führt, bis sie auf Tahiti dem «Seebären» Richard (Sam Clafin) begegnet, sich verknallt und auf einen grossen Segeltörn über dem Pazifik einlässt. Honeymoon auf See. Doch dann gerät das Liebespaar in einen verheerenden Sturm. Der Segelmast ist gebrochen, die Yacht hat ein Leck und niemand hört die Notrufe. Tami erwacht im Wasser unter Deck – allein. Ihr Käptn und Verlobter ist über Bord gespült. Doch in ihrer Phantasie ist er bei ihr, bestärkt sie in ihrem Überlebenswillen: «Wir schaffen das!»
Mit diesen drei Ebenen spielt der isländische Regisseur Baltasar Kormákur (TV-Serie «Trapped – Gefangen in Island»): Die glückliche Zeit des Paares vor der Schicksalsfahrt, die tatsächliche Situation an Bord des manövrierlosen Segelschiffes und Tamis Visionen mit ihrem verletzten Richard, der Tami (passiv) begleitet. Das gelingt phasenweise gut, doch manchmal stören die Momente der Liebesidylle, sie sollen wohl den harten tragischen Überlebenskampf mildern.
Das Drama auf schöner wie brutaler See basiert auf dem autobiografischen Bericht «Red Sky in Mourning: A True Story of Love, Loss And Survival At Sea» (2002) von Tami Oldham Ashcroft. Tami, so ist im Nachspann zu lesen und zu sehen, segelt immer noch mit Leidenschaft.
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Love, Simon
rbr. Schwule Offenbarung. Ein grässliches Wort, aber so wird der Film «Love, Simon» eingeordnet – als «Dramedy». Soll wohl heissen, eine Mischung aus Drama und Komödie. Ein bisschen Drama mag sein aus Teenagersicht, aber von Komödie sind nur Ansätze zu sehen. Im amerikanischen Teenager-Streifen von Greg Berlanti geht es um die Ängste und Nöte des Jünglings Simon Spier (Nick Robinson), der schwer an seinem homosexuellen Geheimnis trägt. Er hat seine Vorliebe für Jungs entdeckt, lässt sich aber gegenüber seinen Eltern und Schwesterchen Nick nichts anmerken. Heimlich knüpft er im Internet Kontakt mit «Blue», einem anonymen Mitschüler. «Jacques» (alias Simon) fühlt sich zum schwulen «Blue» hingezogen, man tauscht sich via Netz aus, doch «Blue» will sich nicht zu erkennen geben und outen. Simons Klassenkollege Martin (Logan Miller) kriegt von der Internet-«Liebe» Wind und erpresst ihn, seine eigenen Flirtbemühungen zur angehimmelten Abby (Alexandra Shipp) zu unterstützen. Das geht natürlich schief, auch weil Simon ausgerechnet Leah (Katherine Langford) verkoppeln will, die ihn liebt.
Langer Rede kurzer Sinn: Simon, in besten bürgerlichen Verhältnissen geborgen, wird an seiner High School in Atlanta, Georgia, als Schwuler geoutet und muss sich jetzt zu seiner Neigung bekennten. Er sehnt sich nach einem Zeichen vom Sinnesfreund «Blue», doch der schweigt, bis es zum Finale auf dem Rummelplatz kommt…
Man muss diesem geschönten, heilen Teenager-Liebesfilm zugutehalten, dass nur einmal gesoffen und gekotzt wird (was sonst in den US-Partykomödien gang und gebe ist). Bis auf den aufdringlichen, ungeliebten Martin ist das Personal lieb und verständig (Eltern eingeschlossen), und so ist es nicht verwunderlich, dass die «Dramedy» nett und versöhnlich ausgeht. Gut gemeint und gutbürgerlich harmlos. Immerhin lässt sich der Sound hören mit Songs von The Kinks, Justin Bieber, Lady Gaga, Amy Shark, Khalid und Normani bis zu Whitney Houston.
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Candelaria
rbr. Liebe in Havanna. Es gibt einen Film mit dem Titel «Maria Candelaria», der in Mexiko spielt und 1943 entstanden ist. Leinwanddiva Dolores del Rio verkörperte eine junge Reporterin, die der Geschichte eines Indio-Modells namens Maria Candeleria nachgeht. Doch ausser dem Namen hat der aktuelle Film nichts mit dem mexikanischen Liebesdrama zu tun.
In «Candeleria – Ein kubanischer Sommer» wird von der alten Liebe der Senioren Candelaria, 75 (Veronica Lynn) und Victor Hugo, 76 (Alden Knight), erzählt, die dank einer Videokamera neu aufblüht.
Havanna 1994. Kuba darbt unter dem Wirtschaftsembargo der USA. Die beiden Alten, Candelaria und Victor, schlagen sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Er dealt mit den begehrten kubanischen Zigarren, sie arbeitet in einer Hotelwäscherei und singt abends in einer Bar. Und sie findet eine Videokamera unter schmutziger Wäsche, wohl von einem Gast vergessen. Das neue «Spielzeug» weckt die Neugier des Paares, es beginnt zu filmen – sich selbst beim Austausch von Zärtlichkeiten, bei der Liebe, bis Victor die Kamera «abhanden kommt». Sie ist beim grossen Schwarzhändler El Carpintero (Philipp Hochmair) gelandet, und der hat ihre Filme entdeckt und schlägt Victor ein Geschäft vor. Er solle noch mehr Filme über ihr Liebesleben liefern, mit mehr Haut und Action, denn ein gewisser Käuferkreis hätte daran grosses Interesse. Dollars locken…
Alter, Armut und Hoffnung – das alte Paar findet neue Lebenslust und alte Liebe. Ein kleines berührendes Alltagsdrama vom Kolumbianer Jhonny Hendrix Hinestroza. Nie wirkt der Spielfilm voyeuristisch oder peinlich, sondern wie aus dem kubanischen Leben gegriffen dank der beiden Protagonisten. Keine absonderliche Romanze, man hat eher das Gefühl, als begegne man einem Stück kubanischer Realität. Das Paar versinnbildet quasi die kubanische Unterschicht in den Neunzigerjahren. Man hält sich über Wasser, etwa mit ein paar Küken (die werden ja mal gross und könnten eine leckere Mahlzeit hergeben), mit kleinen Geschäften – und Lust am Leben trotz allen widrigen Umständen.
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The Rider
rbr. Tiefer Fall. Ein Mann, ein Pferd, ein Film – das muss etwas mit Western zu tun haben, wenn er dann noch in Dakota spielt. Die Regisseurin Chloé Zhao, in Peking geboren, in London und Kalifornien aufgewachsen, erzählt die Geschichte eines Rodeoreiters, der sich schwer verletzt und knapp am Tode vorbeigeschrammt ist. Und so beginnt der Film mit einem Verband, den Brady langsam abnimmt. Darunter sieht man Klammern, die den Schädel zusammenhalten. Beim Sturz wurde er vom Pferdehuf am Kopf getroffen. Man hat ihm eine Platte implantiert. Der passionierte Rodeo-Jungstar ist ans Bett gefesselt und sollte laut ärztlichem Befund nie wieder reiten, geschweige denn Rodeos bestreiten. Doch Brady Blackburn lässt sich nicht von Schläuchen und Prognosen fesseln. Er kehrt zurück auf die armselige Ranch – zu seinem desillusionierten Vater Wayne (Tim Jandreau) und seiner behinderten Schwester Lilly (Lilly Jandreau). Das Verhältnis zum Vater, der sein Heil beim Trinken und Spielen sucht, ist eher kantig, grob, das zu seiner 15jährigen Schwester liebevoll und fürsorglich. Er kümmert sich um sie mit dergleichen Liebe und Verständnis wie bei Pferden. Das ist keineswegs despektierlich gemeint, sondern entspricht seinem Wesen. Er pflegt auch weiterhin Kontakt zu seinem Rodeo-Freund Lane (Lane Scott), der im Pflegeheim vegetiert und querschnittsgelähmt sich kaum verständigen kann.
Brady ist ein Pferdenarr und Pferdeflüsterer. Keiner versteht es wie er, selbst bockige Biester zu bändigen und das Vertrauen schwieriger, scheinbar unnahbarer Pferde zu gewinnen. Und nun wurde ihm mit dem Sturz der Boden unter den Füssen beziehungswese Hufen weggezogen. Rodeo und Pferde sind für ihn lebenswichtig, geben ihm Lebenssinn. Sein Trost: Er ist gefragt als Zureiter und Pferdetrainer. Doch dann setzen ihm neue Nackenschläge zu. Erst verkauft sein Vater das geliebte Ross Gus, um Schulden zu tilgen, dann verdingt sich Brad als Angestellter in einem Supermarkt. Sein Vater besorgt ihm als Wiedergutmachung das Pferd Apollo, das Brad ins Herz geschlossen hat. Ein erneuter Sturz, dem auch Apollo zum Opfer fällt. Aus Trotz und Verzweiflung meldet sich der unverbesserliche, todunglückliche Reiter nochmals bei einem Rodeo an.
Ein Western aus unseren Tagen, wobei nur ein (Gnaden)-Schuss fällt. Es ist ein Drama mit Westernbildern (Kamera Joshua James Richards, der nur mit natürlichem Licht drehte) über Dakota, Männer am Rande, ihr Lebenssinn abseits der Konsumgesellschaft (deswegen wirkt Brad im Shoppingcenter auch so verloren und fehl am Platze), ihr Verständnis und Zugehörigkeit. Chloé Zhao beschreibt unspektakulär und fast beiläufig die Liebe von Mensch und Tier, von Vater und Sohn, Bruder und Schwester, die Geschichte von Verlust und Identität. Der Umgang der Rodeomänner, der Umgang mit Pferden scheint so weit weg von der urbanen Welt, und doch ist der Film in einer realen Welt verankert, im Pine Ridge Reservat, South Dakota. Das Wort authentisch wird oft überproduziert, doch hier trifft es den Kern. Brady Jandreau, ein Nachkomme der Lakota-Sioux-Indianer, und seine Familie spielen sich selbst wie auch Lane Scott (der allerdings infolge eines Autounfalls gelähmt ist). Das Haus der Jandreaus war Drehort, und Brady arbeitet tatsächlich als Trainer für Wildpferde. Die hohe Qualität von «The Rider» basiert nicht nur auf diese Nähe zur Wirklichkeit, zu den Menschen, sondern auch auf der Sensibilität der Regisseurin und ihre Fähigkeit, die Seele, das Empfinden ohne grosse Gesten sichtbar und spürbar zu machen. Ein unvergleichlicher Neo-Western, von Wehmut und Liebe getragen, der u.a. anderem mit dem Werner-Herzog-Filmpreis ausgezeichnet wurde, der «Mut, Entschlossenheit und Visionen» honoriert.
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Una questione privata
rbr. Liebe im Partisanenkrieg. Eine Frau und zwei Männer, die sie beide lieben, die sie trennt und vereint, davon erzählen die Brüder Taviani in ihrem letzten Film. In Zeiten des Krieges, des Zweiten Weltkriegs in Italien, wird die Liebe zum Traum und Trauma. Partisan Milton (Luca Marinelli) kämpft um das Leben seines Freundes Giorgio (Lorenzo Richelmy), der in die Hände der Schwarzhemden, der Faschisten, geraten ist. Ein Todeskandidat. So versucht Milton, eine «Kakerlake», eben ein Schwarzhemd, zu fassen, um ihn dann gegen Giorgio auszutauschen. Ein Schwachsinniger, der Luftgitarre spielt, ist ungeeignet. Ein Offizier, den er in einem Dorf überwältigt, entwischt – tödlich.
Auf seiner Suche in abgelegenen Winkeln der piemontesischen Langhe wird Milton an glückliche Zeiten mit Fulvia und Giorgio erinnert. An Momente des Beisammenseins, der Verliebtheit. Er, der Städter, ein bisschen Dandy, ein bisschen Poet, hat sich in das Mädchen Fulvia verliebt, das aber auch von Giorgio Clerici, dem schönen Jüngling aus gutem Hause, verehrt wird. Sie, die Geliebte, flieht vor dem Krieg. Die beiden Verehrer schliessen sich den Partisanen an, die gegen Faschisten und deutschen Besetzer kämpfen.
Der Krieg diktiert das Geschehen, die Schicksale. In wenigen, aber eindrücklichen Szenen zeigt er sein Gesicht, etwa wenn um einen Bauernhof Leichen liegen, ein Mädchen aufsteht, Wasser trinkt und sich dann wieder neben seine tote Mutter legt. Oft ziehen Nebelschwaden durch die Landschaft, vernebeln quasi das mörderische Jagen.
Die Brüder Taviani nehmen das Thema des Widerstands auf wie schon 1982 in «La notte di San Lorenzo» (unvergesslich die Aufführung auf der Piazza Grande Locarno vor 8000 Zuschauern). Sie sind der Meinung, dem neuen Populismus heute, neuen faschistischen Tendenzen Widerstand entgegenzusetzen und wollen mit «Una questione privata» ein filmisches Zeichen setzen. Ihr Filmtitel meint eben auch, dass der Krieg Privates vereinnahmt und eben keine private Frage ist. Ihr Melodram, das letztlich doch nicht ganz befriedigt, merkwürdig vage und verloren bleibt, ist die letzte gemeinsame Arbeit der Brüder, die über zwanzig Filme gemeinsam geschaffen haben. Vittorio Taviani wurde von einem Auto angefahren, konnte selber nicht mehr Regie führen. Er starb im April 2018. Sein Bruder Paolo Taviani vollendet den Film, der auf dem Roman von Beppe Fenoglio (1963) basiert. Die Reise in die Vergangenheit, der Rückblick auf Kriegszeiten will die Gegenwart einbeziehen, will mahnen, den Anfängen zu wehren. Hoffnung bleibt, das tönt im Lied «Somewhere Over the Rainbow» von Judy Garland an. Jenseits des Regenbogens werden Träumen wahr…
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Lola Pater
rbr. Wenn der Vater zur Frau wird. Er steht am Totenbett und sinniert. Nach der Beerdigung seiner Mutter fährt Zino Chekib (Tewfik Jallab) mit seinem Motorrad ans Meer und fasst einen Entschluss. Er will seinen Vater Farid ausfindig machen, der sich vor zwanzig Jahren aus dem Staub gemacht hat. Zino, 27 Jahre alt, von Beruf Klavierstrimmer in Paris, macht sich auf den Weg nach Süden Frankreichs und stösst auf den Namen Chekib. Er begegnet einer Frau, Lola, die Bauchtanz unterrichtet und Chekib heisst. Hier gäbe es keinen Farid Chekib, weist sie ihn ab. Doch wir Zuschauer wissen es besser: Lola ist Farid und hat sich nach der Trennung von seiner Familie in eine Frau umgewandelt. Zino fährt zurück nach Paris, und sie reist ihrem Sohn nach, stellt ihm nach. Endlich hat sie die Kraft, ihm zu gestehen, dass sie sein Vater ist. Zino ist schockiert und will es nicht akzeptieren. Er weist sie schroff zurück.
Nadir Moknèche, Buch und Regie, spiel auf zwei Klaviaturen, hier die Tänzerin Lola, die einst ein Mann war, und dort Zino, der sich verraten und im Stich gelassen fühlt. Diese beiden Ebenen verwebt der Regisseur algerisch-französischer Abstammung je länger je enger. Dazu mischt er arabischen Touch und Zigeunerblut bei. Kristallisationspunkt ist Lola/Farid, der Mann, der seinen Körper als Gefängnis empfand und daraus ausgebrochen ist. Als Frau fand er (Farid) seine Erfüllung und sie (Lola) hofft auf Gnade, Verständnis und Liebe ihres Sohnes.
Auf sie ist das Beziehungsdrama zugeschnitten, auf Fanny Ardant. Die Rolle als Lola wurde zum Glanzstück der 69-Jährigen. Ihre Präsenz, ihre Darstellung, ihre suggestive Überzeugungskraft sind faszinierend. Eine sensible tragikomische Liebesgeschichte. Gleichwohl kann man sich nur schwer vorstellen, wie aus dem Mann Farid diese Lola werden konnte.
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Je vais mieux
rbr. Der Kopf macht krank. Ihn zwickt es sichtbar. Wuschelkopf Laurent hat kein Rückgrat. Nein, nicht im übertragenen Sinn, sondern er leidet an rätselhaften Rückenschmerzen, kann nur bücklings, buckelnd durch den Alltag laufen. Von heute auf morgen wurde der nette Mensch befallen. Da helfen keine guten Ratschläge von Frau und Freunden, keine Untersuchungen und Therapien. Da dämmert’s dem Pariser Architekten: Vielleicht ist sein Rückenleiden nicht stressbedingt, sondern Kopfsache. Vielleicht ist er selber schuld an der Malaise? Er ist ein Duckeberger, der’s allen recht machen will und nicht vorankommt – privat wie beruflich. Sein Leiden tut anderen gut, beispielsweise seinem Freund, dem Zahnarzt. Aber es dauert, bis Laurent wieder ins Lot beziehungsweise gerade gebogen wird.
In der luftigen Komödie «Je vais mieux» von Jean-Pierre Améris braucht es seine Zeit, bis Laurent sagen kann «Mir geht’s besser». Dank dem sympathischen Mimen Eric Elmosnino («Gainsbourg») wird der Leidensweg des Helden nie langweilig, sondern sorgt für heitere, aber auch sinnliche und besinnliche Momente. Ein Film für den Sommer auch ohne blauem Himmel und Meer.
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