FRONTPAGE

«Im Brennglas»

Von Daniele Muscionico

Ein neues, grossartiges Buch erzählt die Schweizer Fotogeschichte radikal anders. Die Steigerungsform von Bibliophilie ist die Bibliomanie. Und dann?

 

Dann hilft nur noch ein Kompendium, das 70 Bücher zwischen zwei Deckeln bewahrt. Die Fussnoten nicht mitgerechnet, die auf weitere 200 Publikationen verweisen. Die Abbildungen nicht mitgemeint, die auf verschwenderischen Doppelseiten die Referenzbände vor unseren Augen aufblättern, damit wir durch die Bücher wandern können wie durch eine schöne Wohnausstellung. Kurzum:

 

«Schweizer Fotobücher 1927 bis heute – eine andere Geschichte der Fotografie», das Fotobuch der Fotobücher, das sich dieFotostiftung Schweiz zu ihrem 40. Jubiläum schenkt, ist das körperhafte Objekt, das im Lexikon der erotischen Vergnügungen noch gefehlt hat.

 

Das ist eine Überraschung aus dem Hinterhalt. Zumal von einer Herausgeberschaft, die im Auftrag des Bundes das fotografische Erbe der Schweiz verwaltet. Nüchternheit und wissenschaftliche Akribie steht auf ihrer Visitenkarte. Für Eigensinn und Innovationsgeist zahlt die Eidgenossenschaft keine Boni. Und hoffentlich doch, in diesem Fall. Nach jahrelanger Selektion und Reduktion erweisen sich die Experten um Peter Pfrunder als Bilderstürmer. Denn was das Buch mit seinen aberhundert Seiten und klugen Essays tatsächlich auf die Waage bringt, ist nicht das, was sich messen lässt. Es ist Pfrunders Courage, lediglich 70 Autorenbücher zu lebendigen Leitfossilien zu erküren und sie als kunst- und kulturhistorisch exemplarische Marksteine einer neuen Geschichte der Schweizer Fotografie auszurufen.

 

Dass die erste gedruckte Übersicht zu diesem Thema erst heute vorliegt, ist auf den zweiten Blick frappant. Die Schweiz besass schon sehr früh dank technischer Innovationen wie dem Tiefdruck – und der Vertriebsform des Buchklubs – eine reiche Fotobuch-Tradition. Wahrgenommen wurde sie von jeher international. Heute vor allem durch verlegerische Seismografen wie Lars Müller, Walter Keller oder Patrick Frey; ersterer auch als Multiplikator der Fotobuchkunst an der Universität Harvard. Schweizer Fotografen haben durch ihre Bilder dem Land zu jeder Zeit ein Fenster zur Welt geöffnet. Werner Bischof auf Japan (1954), Gotthard Schuh im Zweiten Weltkrieg auf Java, Sumatra und Bali mit Insel der Götter, eines der erfolgreichsten Fotobücher der Schweizer Fotogeschichte. Eine Generation früher war Martin Hürlimann, weltreisender Sohn einer vermögenden Brauereifamilie aus Zürich, der zeitgeistigen Indien-Euphorie verfallen. Sein Bildband Indien. Baukunst, Landschaft und Volksleben erschien 1928 im Berliner Verlag von Ernst Wasmuth. Hürlimann vertritt eine der ältesten Positionen im chronologischen Referenzwerk, und seine Wiederentdeckung gehört zu den lohnenden.

 

Dank dem neuen Bilder-Wälzer wissen wir auch, dass Le Corbusier ein Werk namens Aircraft (1935) publizierte, nicht als Promotion in eigener Sache und nicht als Kunstprojekt. Der historische Sonderflug war eine Auftragsarbeit des Londoner Verlagshauses The Studio, und der Architekt sagte zu, weil er die Luftfahrt als Stimulus zur »Eroberung einer neuen Zivilisation« verstand. Doch bald wurde das Flugzeug für Le Corbusier zum Instrument der Anklage (der französische Untertitel des Buches: L’avion accuse) als er mitfliegt und von oben die planlose Zersiedelung der Erde wahrnimmt. Das war 1935.

 

Vierzig Jahre später erhebt sich der Fotograf Georg Gerster in die Lüfte. (Überhaupt scheint die Schweiz ein Land von Fliegern zu sein, im Gefolge des Ballon- und FotopioniersEduard Spelterini, der Ende der zwanziger Jahre zweisprachig mit dem Fotoband Über den Wolken geehrt wurde.) Gersters Publikation Der Mensch auf seiner Erde erschien fünfsprachig, wurde 1976 mit dem Prix Nadar als bestes Fotobuch ausgezeichnet und war wegweisend in vielerlei Hinsicht. Ein Fotograf als Moralist, der aus Übersicht Einsicht und schließlich Rücksicht gewinnen wollte. Ein frommer Wunsch, wie wir heute wissen, doch den Mahner nun in den offiziellen Kanon einzureihen, ist vornehm.

 

Genauso, wie ein Versäumnis nachzuholen. Es ist dasEuropäische Fotobuch und sollte das Material von Werner Bischof über die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs versammeln. Ergänzt durch einen Text von Ortega y Gasset, so sah es Conzett & Huber im Februar 1946 vor. Das Buch erschien nie, im Kalten Krieg verlor der Verlag schon bald den Mut, anklagende Bilder zu publizieren. Arnold Kübler zeigte einen Teil davon in der Zeitschrift Du, und Bischofs Arbeit regte die Schweizer immerhin zu einer Spendenaktion an, die bis heute zu den erfolgreichsten zählt.

 

Fotobuchgeschichte ist Geschichte unter dem Brennglas der Kunst. Das gilt für Jakob Tuggeners fotografischen Essay Die Fabrik (1943), René BurrisDie Deutschen (1962) wie später für Andreas Seiberts: From Somewhere to Nowhere (2008), ein Stück Kapitalismuskritik aus China. Robert Frank entdeckte uns das andere Amerika The Americans (1958/59), das Kultbuch, das bei Erscheinen als antiamerikanisch geschmäht wurde. Sein Amerika – der wachsende Unmut über die politische Führung, die Skepsis gegenüber der Konsumkultur – ist das Amerika von heute.

 

Doch wie zeitlos ist, was in der Gegenwart fotografiert und publiziert wird? Die neue Sicht auf die Schweizer Fotogeschichte fasst das aktuelle Jahrtausend unter das Motto »Parallelwelten« und wagt eine Kategorisierung. Hier Künstler, die »Widerstand auf höchstem Niveau« leisten und der analogen Fotografie verpflichtet bleiben; dort andere, die die Fotochemie gegen Chip und Plotter eingetauscht haben. Thomas Flechtnerals Vertreter der ersten Gruppe und sein Erstling SNOW (2001) stehen für den Neubeginn in der Landschaftsfotografie. Doch für jüngere Fotografen ist Landschaft bestenfalls noch als Zeichen-Karaoke gültig. The Great Unreal (2009), eine Amerika-Odyssee als Roadmovie von Taiyo Onorato und Nico Krebs,erzählt davon, dass nichts echter als die Täuschung ist. Kreativitätsgewinn durch Realitätsverlust. Wenn das nicht hoffen lässt?

 

Courtesy: DIE ZEIT, 20.10.2011 Nr. 43

«Schweizer Fotobücher 1927 bis heute – eine andere Geschichte der Fotografie» hrsg. von Peter Pfrunder, Martin Gasser und Sabine Münzenmaier.

Lars Müller Publishers, Baden, 640 Seiten, 700 Abb.

(deutsch mit Übersetzungen englisch/französisch), CHF 98.-.

Die Ausstellung in der Fotostiftung Winterthur dauert bis am 19. Februar 2012.

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