FRONTPAGE

«Return to Montauk: Hommage an Frisch»

Von Rolf Breiner

 

Der deutsche Regisseur Volker Schlöndorff («Homo Faber», «Die Blechtrommel») ist ein erwiesener Max Frisch-Kenner und -Freund. Nun hat er sich der Frisch-Erzählung «Montauk» angenommen. Aus den biografischen Aufzeichnungen hat Schlöndorff die Liebesgeschichte des Autors herausdestilliert: «Return to Montauk».

Stellan Skarsgård spielt einen Schriftsteller, der in New York eine alte Liebschaft neu entfachen möchte. Nina Hoss brilliert als verflossene Liebe Rebecca. Ein moderates Melodram um verpasste Chancen, falsche Hoffnungen und männliche Trugschlüsse.
Seit über 50 Jahren («Der junge Törless», 1965) ist Volker Schlöndorff, 1939 in Wiesbaden geboren, im Filmgeschäft tätig – als Regisseur, Autor, Produzent und Dozent. 1979 wurde er für die Grass-Verfilmung «Die Blechtrommel» in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, 1980 mit einem Oscar. Er hat sich intensiv mit Max Frisch befasst und «Homo Faber» 1990 verfilmt. Die autobiografische Erzählung «Montauk» (1975, beim Suhrkamp Verlag 2016 in der 29. Auflage) sei ein «aufrichtiges Buch», so der Autor im Vorspann. Es befasst sich mit dem Autor, seinen Beziehungen und Reflexionen über Freunde, Frauen, seinen Liebschaften und mehr. Sozusagen als roter Faden zieht sich die verlorene Liebe des Autors zu einer gewissen Lynn und ihrem Wochenendausflug nach Montauk aus Long Island durch die splitterartigen Aufzeichnungen. Der Versuch einer Liebeswiederbelebung. Schlöndorffs «Return to Montauk» feierte an den Berliner Filmfestspielen Premiere (siehe Filmtipp). Nun hat er den Spielfilm zu diversen Aufführungen in der Schweiz begleitet, wir trafen ihn Zürich zu einem Gespräch.

 

Sie sind auf Promotour in der Schweiz. Max Frisch schnödete in seiner Erzählung «Montauk» über Lesereisen und öffentliche Auftritte. Wie gehen Sie selber damit um, sind diese organisierten Publikumskontakte Pflicht, Routine oder gar ein Bedürfnis?
Volker Schlöndorff: Immer wenn ich aufbrechen muss, verfluche ich solche Pflichten. Doch wenn man dann da ist, dabei ist, wird es doch immer sehr spannend. Man trifft ja nicht nur Journalisten, sondern auch Publikum. Und man merkt immer wieder, dass der Film im Kopf des Zuschauers entsteht. Wo man auch hinkommt: Es scheint, dass die Leute einen anderen Film gesehen haben. Das macht diese Reisen interessant. Es ist eine Bestätigung, auch wenn der Film nicht ankommt. In Stuttgart habe ich eine Publikumsdiskussion erlebt, die zur Publikumsbeschimpfung wurde, heisst: das Publikum hat mich beschimpft. In Zürich dagegen habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. Das fing damals schon mit dem «Jungen Törless» an. Schwierig war’s nur bei «Homo Faber» in Zürich, wohl auch weil so viele Freunde und Bekannte von Frisch dabei waren. Das war allerdings kein Lunchkino, sondern eine Abendvorführung mit geladenen Gästen. Viele haben nicht verstanden, was ein Sam Shepard in einer Frisch-Figur zu suchen hatte.

 

Frischs «Montauk» ist vor 42 Jahren erschienen. Was hat Sie gereizt, Partikel dieser Erzählung zu einem Filmstoff zu verdichten? Von einer Literaturverfilmung würde ich nicht reden.
Ich auch nicht. Es ist zwar ein literarischer Film, aber keine Literaturverfilmung. Darüber habe ich mit Frisch schon Lebzeiten gesprochen, dass sich «Montauk» wohl am allerwenigsten zu einer Verfilmung eignet, auch weil die Vorlage Tagebuchcharakter hat. Was Frisch erzählt, eignete sich eher für einen Dokumentarfilm als für eine Fiktion.

 

Was war Ihre Absicht?
Ich dachte: Mach doch mal so etwas Ähnliches und verwende Selbsterlebtes, nicht seine Rückblicke und Überlegungen.

 

In einem Interview haben Sie geäussert, dass Sie einen Film machen wollten, Augenblicke zu beschreiben, ein Stück Leben einzufangen. Darin sind Sie sich Frisch und seiner Erzählung sehr ähnlich.
Frisch hatte sich ein Ziel gesetzt: Nichts hinzuzufügen und nichts wegzulassen, im Sinne von Nichts zu dramatisieren. Das ist eigentlich fatal für einen Film, denn der sollte ja ein Drama sein. Dem zu widerstehen beim Schreiben und Inszenieren, ist schwierig. Alles sollte wie selbstverständlich passieren – ohne Vorwarnung.

 

Die literarische Figur Max verhält sich ganz unterschiedlich zu den drei Frauen, die ihn umgeben, zur Assistentin Lindsey, Lebenspartnerin Clara und zur ehemaligen Geliebten Rebecca. Letztlich kommt Max nicht sehr sympathisch rüber.
Er verhält sich jedes Mal anders, ist ein anderer. Gegenüber der ehemaligen Geliebten ist er ganz klein und eingeschüchtert und schuldbewusst. Der Afroamerikanerin Lindsey gegenüber gibt er sich als der welterfahrene Lebemann, der über den Dingen steht. Die Kategorie sympathisch habe ich nicht berücksichtigt. Ich habe mich immer nur gefragt: Was macht er jetzt, was sagt er jetzt? Wie verhält er sich da und dort? Ich habe nicht bedacht, dass dabei unterm Strich ein ziemlich unsympathischer Kerl herauskommt. Mir war es eben wichtig, dass er wahrhaftig ist.

 

Dieser Mann müsste doch für Frauen eine Zumutung sein…
Das ist eine Qualität, die ich nicht angestrebt habe, denn man hat ja lieber eine sympathische Hauptfigur. Andererseits wären die Frauen nicht so stark, wenn er nicht manchmal so jämmerlich wäre.

 

Wieviel Frisch und wieviel Schlöndorff stecken denn in Ihrem Film?
Szene für Szene könnte ich das schon auseinander dividieren, aber das wäre eine ziemlich langweilige Übung. Ich habe nur versucht, eine Grundhaltung wie Frisch zu haben, das eigene Leben und das eigene Verhalten nicht zu beschönigen, egal was dieser Max dabei für eine Figur abgibt.

 

Es ist also weniger ein Film über Frisch, sondern eher ein Film dank Frisch.
Ja, dank Frisch, ganz bestimmt. Ich hätte ja auch eine andere Vorlage aus meinem Leben nehmen können, als gerade diese. Ich habe da eine Art Wahlverwandtschaft gespürt. Inspiriert von Frisch. Er hatte den Mut, dieses Wochenende zu beschreiben, ohne etwas dazu zu erfinden. Und so beschreibe ich fünf Tage New York möglichst unspektakulär.

 

Ich habe «Montauk» nach der Filmvisionierung zur Hand genommen und festgestellt, dass dies zwei Welten sind. Viele Assoziationen, Reflexionen, Begegnungen finden nicht statt. Seine Frau Ingeborg Bachmann bleibt eine Randerscheinung, sein Kunstfreund und Förderer W. dagegen ist präsent.
Der Walter ist fast eins zu eins aus der Erzählung übernommen. Da ist der Film am nächsten an der Buchvorlage.

 

Angesichts der Fülle des Frisch-Materials in «Montauk» haben Sie sich komprimiert auf die Beziehung Clara (im Buch Lynn) und Max Zorn (Frisch) konzentriert.
Als ich mit Colm Tóibín am Drehbuch geschrieben habe, habe ich gar nicht mehr ins Buch geschaut. Das ganze Projekt hat sich über fast sieben Jahre hingezogen. Es ist immer die Geschichte einer Rückkehr, einer Wiederbegegnung geblieben. Da wird einem körperlich vor Augen geführt, was hätte sein können, was wäre aus meinem Leben geworden, was wäre ich heute, wenn alles anders verlaufen wäre. Es ist wie die Geschichte vom Flügelschlag des Schmetterlings, der alles verändert. Eine winzige Kleinigkeit hätte alles verändert, und Max wäre ein ganz anderer geworden. Man verändert sich ja durch das, was man erlebt.

 

Aber eigentlich hätte man auch auf Frisch und den Schauplatz Montauk verzichten können.
Am Schauplatz Montauk habe ich einfach einen Narren gefressen. Es ist einfach ein tolles Filmmotiv. Ich fand das Chaos New York wichtig, das auch zu einem Chaos der Gefühle verleitet. Und wenn man raus aus der Stadt in dieser Landschaft ist, findet man diese Ruhe und ist vollkommen allein, sich selbst überlassen und merkt, was man in diesem Chaos angerichtet hat. Und wenn Max im Film zurückkommt, ist er ein Nichts mehr.

 

«Return to Montauk», von Melancholie und Poesie geprägt, ist ein Film über eine gescheiterte Liebe…
Und ob man das wieder gutmachen kann. Jeder sagt einem: Das geht nicht. Aber ich gehöre zu den Unverbesserlichen, die sagen, aber vielleicht geht’s ja doch. Max will es nicht wahrhaben und schlägt ihr vor, es nochmals zu versuchen. Er jagt einem Traum nach, nicht einer versäumten Beziehung, sondern einer Beziehung, die er nicht richtig gelebt hat.

 

Der Held ist ein Träumer, und die Frauen sind Realisten.
So ist es, davon bin ich überzeugt.

 

War Nina Hoss von Anfang an Ihre Traumfrau für Ihren Film?
Ja, für diese Rolle absolut. Ich gehe oft ins Theater, habe sie dort und im Film gesehen, habe sie immer bewundert und gedacht, können wir nicht zusammen etwas machen. Als das Projekt Realität annahm, habe ich ihr das Buch zu lesen gegeben und war sehr erleichtert und hocherfreut, dass sie gleich zugesagt hat: Das möchte ich gerne spielen.

 

Es gibt zwei Versionen Ihres Films, sprachlich gesehen, die Original- und die Synchronfassung. Welches ist denn die Originalversion?
Ich habe schon mehrfach eigene Filme ins Deutsche synchronisiert, etwa mit Otto Sander (als Dustin Hoffman) den «Tod des Handlungsreisenden», hart daran gearbeitet und zum Schluss blieb es immer hinter dem Original zurück. Wir sind eher widerwillig die Synchronfassung angegangen, aber Nina Hoss meinte, sie sei im Deutschen doch besser, weil es eben ihre Muttersprache sei. Insofern gibt es ein Dilemma, denn ich bin als Regisseur immer für die Originalfassung, also der englische hier. Andererseits kann man sich wie Nina Hoss besser dem Klang der Stimme hingeben.

 

Eine fast letzte Frage, gab es Gespräche oder Interviews in jüngster Zeit, wonach Sie nicht nach «Homo Faber» oder «Die Blechtrommel» gefragt wurden?
Ich glaube nicht.

 

Nun denn heute für einmal. Was dürfen wir demnächst von Ihnen erwarten?
Ich habe einen Krimi fürs ZDF mit der Schweizerin Ursina Lardi und Devid Striesow abgedreht. Er heisst «Der namenlose Tag» nach dem Roman von Friedrich Ani.

 

 

«70. Locarno Festival 2017: Jubiläum am Lago Maggiore»

 

Mögen Moskau und Venedig auch älter sein (beide Festivals wurden in den 1930er Jahren gegründet), hat Locarno doch einen wichtigen Platz in Europa erobert – als kleinstes der grossen und grösstes, vielleicht schönstes der kleinen Festivals. Und so feiert Locarno 2017 ein markantes Jubiläum: Das 70. Locarno Festival – vom 2. bis 12. August 2017. Wie erwartet, wartet es wieder mit einem üppigen Programm (über 200 Filme), Wettbewerben, zahlreichen Ehrungen, Filmern, Filmschaffenden und Prominenz auf – wie Schauspieler Adrien Brody (Leopard Club Award), Regisseur Jean-Marie Straub (Ehren-Leopard) oder Schauspielerin Marie Leuenberger («Die göttliche Ordnung») als Jurypräsidentin.

 

Von Rolf Breiner

 

Alles begann kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, im Sommer 1946. Ein Stelldichein im idyllischen Park des Grand Hotel (das indes seit Jahren in einen Dornröschenschlaf verfallen ist). Acht auf sieben Meter war die Leinwand gross, und der Grosse Preis ging 1948 an Roberto Rossellini («Germania, anno zero»). Als beste Schauspielerin wurde Hildegard Knef ausgezeichnet. Das Insidertreffen entwickelte sich zum Festival und wuchs kontinuierlich. Und so kann es, neu unter dem Kürzel Festival Locarno, nun seinen 70. Geburtstag feiern (2. bis 12. August 2017). Nach der Ära Raimondo Rezzonico hat Marco Solari im Jahr 2000 das Präsidium übernommen. Und er führt den Grossanlass seit 17 Jahren mit über 160 000 Besuchern jährlich sicher durch die Gezeiten. Es sei ein einziges Crescendo gewesen, meinte Festivalpräsident Solari an der Pressekonferenz im Vorfeld des Festivals 2017. Er empfinde Befriedigung, aber auch einen Ansatz von Sorge. Er verwies auf die künstlerische, operative und finanzielle Krise im Jahr 2000. Nun, das ist Vergangenheit. Im Jubiläumsjahr 70 ist das (Film)-Festival Locarno gesichert, etabliert, «selbstbewusst und «stärker denn je» (Solari). Es sei ein «Symbol für die Kreativität in der Schweiz geworden». Verschmitzt wies er daraufhin, dass das Locarno-Jubiläum auf einer 100-Briefmarke (Leopard für 1 Franken) und Banknote (20 Franken mit Piazza Grande) Niederschlag gefunden habe.
Um Infrastruktur und «Geselligkeit» (Treffpunk) zu verbessern, wurden Anstrengungen unternommen. Das in die Jahre gekommene Kino Rex (Eröffnung 1966), vor allem als Aufführungsstätte für die Retrospektive genutzt, wurde gerettet und restauriert, letztlich ins GranRex verwandelt – mit 450 Plätzen auf 20 Reihen verteilt, gekrümmter Leinwand und neuster technischer Ausrüstung für Digital, Classic und Electronic Cinema (Neueröffnung am 29. Juli 2017). Hauptsitz des Festivals ist neu das PalaCinema mit drei neuen Sälen. Neu lanciert wurde auch das Festivaldorf LaRotonda, eröffnet am 28. Juli. Es folgen 17 Abende mit Konzerten, Unterhaltung, kulinarischen Angeboten und Marktständen, nun unter Festivalleitung. Grand Hotel Swisscom lädt ein: Der Festivalclub will mit «Silent Parties» zum Schwofen animiert (bis 3 Uhr morgens). Musikalisches und Kulinarisches bietet auch der Festivalgarten «Locarno Garden la Mobiliare» (17 bis 3.00 Uhr). Dreimal dürfen Sie raten, wer dahinter steckt. Genau: Festival-Partner La Mobiliare lässt sich nicht lumpen.

 

 

Zurück zum eigentlichen Kernstück des Festivals zwischen Piazza Grande, Gran Rex, PalaCinema und Fevi: die Filme, wohl über 200 an der Zahl. Direktor Carlo Chatrian, Nadia Dresti, stellvertretende künstlerische Leiterin, und ihr Team haben wieder ein imposantes Programm zusammengetragen. 17 Filme wurde für den Internationalen Wettbewerb um die Leoparden nominiert, unter anderem ein Werk aus der Vergangenheit (1990) von Raul Ruiz und Valeria Sarmiento, das erst jetzt fertiggestellt wurde: «La Telenova Errante». Mit von dieser Wettbewerbspartie sind auch der Schweizer Spielfilm «Goliath» von Dominik Locher, «Freiheit» (De) von Jan Speckenbach, «Good Luck» (Fr/De) mit Harry Dean Stanton von Ben Russell, «Lucky» (USA) von John Carroll Lynch, «Mrs. Fang» (Fr/China/De) oder «Ta peau si lisse» (Kanada/Schweiz) von Denis Coté.
Auch der Wettbewerb Cineasti del presente kann sich sehen lassen mit 16 Filmen. Die Schweiz ist mit «Dene wos guet geit» von Cyril Schäublin vertreten. Die Schweizer Präsenz ist nicht überwältigend, aber zufriedenstellend. Im Panorama Suisse werden echs Dokumentarfilme aufgeführt, etwa «L’opéra de Paris» von Jean-Stéphane Bron, «Almost There» von Jacqueline Zünd, «Das Mädchen vom Änziloch» von Alice Schmid oder «unerhört jenisch» von Karoline Arn und Martina Rieder. Drei Spielfilme stehen auf diesem Programm: «Miséricorde» von Fulvio Bernasconi sowie die erfolgreichen Kinofilme «Finsteres Glück» von Stefan Haupt und «Die göttliche Ordnung» von Petra Volpe.

Anziehungsmagnet und Herz des Festivals ist und bleibt die Piazza Grande mit dem grössten, illustren Openair-Kino der Welt. Eröffnet wird das Festival am 2. August mit «Demain et tous les autres jours» (Fr) von Noëmi Lvosky und am 3. August mit «Lola Pater» (Nadir Moknèche (Fr) mit Nastassja Kinski. Weitere mögliche Highlights: «Drei Zinnen» (De/It) und «Laissez bronzer les cadavres» (Belgien/Fr) am 4. August, «Sparring» (Fr) und «Good Time» (USA) am 5. August, «Chien» (Fr) am 7. August, «The Song of Scorpions» (Schweiz) von Anup Singh am 9. August, «The Big Sick» (USA) und «I Walked with a Zombie» (USA) am 10. August, «Atomic Blonde» (USA) und «Silicia!» am 11. August sowie «Gotthard – One Life, One Soul» (Schweiz) am 12. August.

 

Immer wieder für Überraschungen gut und beim eingefleischten Fachpublikum hoch geschätzt, ist die Filmkritikerwoche (Semaine de la critique, 4. bis 10. August im Cinema Teatro Kursaal): Sieben Dokumentarfilm aus Argentinien («Las cinéphilas»), Taiwan/Burma («Blood Amber»), Deutschland/Emirates («The Poetess») oder der Schweiz («Favela Olimpica» und «Das Kongo Tribunal») und mehr sind zu entdecken.

Die Retrospektive ist dem Pariser Filmregisseur Jacques Tourneur (1904-1977) gewidmet, dessen bekanntesten Werke wohl «Cat People», «I Walked with a Zombie» sind. Carlo Chatrian, künstlerischer Festivaleiter kommentiert: «Der Name Tourneur ist den meisten Kinofans ein Begriff, und einige seiner Filme sind untrennbar mit der faszinierenden Nachkriegszeit in Amerika verbunden. Das gilt aber nicht für sein Gesamtwerk, obwohl es von hoher Qualität ist. Diese Retrospektive soll eine Gelegenheit sein, um den neuen Generationen die Kraft eines Regisseurs aufzuzeigen, der ein Kino mitgestaltet hat, das seine Ausdruckskraft weniger in Worten als vielmehr in Bildern, in Einstellungen, in der Bewegung von Maschinen, dem Einsatz von Licht, Ton und Farben fand.»

Was wäre Locarno ohne seine zahlreichen Awards? Ehren-Leoparden bekommen in diesem Jahr der Amerikaner Todd Haynes, Regisseur Autor und Produzent («Wonderstruck») und Filmschöpfer Jean-Marie Straub. Den Rezzonico-Produzentenpreis erhält der Genfer Michel Merkt («Elle», «Ma vie de Courgette»). Der Leopard Club Award geht an den Schauspieler Adrien Brody («The Pianist»).
Was wäre ein Festival ohne Gespräche und Diskussionen? Auch dazu bietet Locarno reichlich Gelegenheit. Etwa bei den Locarno Talks la Mobiliare (6. Bis11. August) im Spazio Cinema. Die Gäste heissen Carla del Ponte, Architekt Diébédo Francis Kéré aus Burkina Faso die kanadische Künstlerin Peaches und der englische Astrophysiker Ben Moore. Sie diskutieren über das Thema «Heimat».

Eingestimmt wird das (einheimische) Publikum bereits am 30. und 31. Juli – mit Gratisaufführungen auf der Piazza Grande: mit James Bond und «Goldfinger» (1964) und «Due Soldati» (2017) von Marco Tullio (31. Juli).

www.pardo.ch

 

 

«Locarno: Volle Säle und fragwürdige Programmierung»
 
Von Rolf Breiner

Ein rundes Ereignis: Locarno feierte die 70. Ausgabe des Filmfestivals – in neuen Sälen. Das Publikum strömte zuhauf. Die Veranstalter sprechen von 174 000 Festivalgästen. Alles wie gehabt, die Programmierung war weder auf der Piazza noch im Wettbewerb über alle Zweifel erhaben. Den Goldenen Leoparden erhielt wider Erwarten der chinesische Beitrag «Mrs. Fang» von Wang Bing, der das Ableben einer an Alzheimer erkrankten Bäuerin dokumentierte.

 

 

Das Filmfestival am Lago Maggiore (2. bis 12. August 2017), neu kurz als Festival Locarno lanciert, war und ist seit Jahren ein Magnet für Medienschaffende, Cineasten, Gästen (vor allem der Sponsoren) und Touristen, die im Alltag eher weniger ins Kino gehen. Die grosse Attraktion sind die Aufführungen allabendlich auf der Piazza Grande. Doch auch die Jubiläumsausgabe 2017 gab zu Diskussionen und Kopfschütteln Anlass. Festivaldirektor Carlo Chatrian, nunmehr im fünften Amtsjahr, bot ein Piazza-Programm, das begeisterte und verstörte, unterhielt und langweilte. Das krasse belgische Drama «Chien» – ein Mann wird zum Hund – entpuppte sich als Provokation, Ärgernis – ein Fehlgriff. Andere Filme waren eher publikumskonform wie das grosse indische Liebesdrama «The Song of Scorpions» über verletzte Gefühle und eine perfide Rache – bildgewaltig, dramatisch, etwas kitschig, aber ein Hingucker allein wegen der Hauptdarstellerin, der Perserin Golshiften Farahani. Das elementare Alpenabenteuer «Iceman» mit Jürgen Vogel punktete mit Phantasie, weniger mit Glaubwürdigkeit. Eine Geschichte aus der Jungsteinzeit über das mögliche Schicksal des bekannten Ötzi.

 

 

Ein weiteres Bergdrama spielte in den Dolomiten: «Drei Zinnen» vom Berliner Jan Zabeil. Ein Mann versucht, Liebe und Vertrauen des achtjährigen Sohns seiner Freundin zu zu gewinnen und geht fast dabei drauf. Als wahrer Beziehungsclinch entpuppt sich «Lola Pater», in dem ein Sohn erfahren muss, dass sein Vater eine Frau geworden ist. Richtig zur Sache ging es im Agentenspektakel «Atomic Blonde», dabei erweist sich Charlize Theron als der härtere Bond. Den Publikumspreis errang schliesslich der witzige Liebesfilm «The Big Sick» vom Amerikaner Michael Showalter. Der Möchtegernkomiker Kumail, pakistanischer Herkunft, sucht das Herz der Amerikanein Emily zu erobern, das gelingt auch, aber seine traditionsbewusste Familie ist strikt gegen diese Verbindung. Diese Romanze mit gesellschaftskritischen Zwischentönen hat sich wirklich zugetragen Emily V. Gordon und Kumail Nanjani, der auch die Hauptrolle spielt, haben sie am eigenen Leib erlebt und schrieben das Drehbuch. Einen rockigen Schlusspunkt setzte der Dokumentarfilm «Gotthard – One Life, One Soul» von Kevin Merz auf der Piazza. Er war der erfolgreichen Tessiner Erfolgsband Gotthard gewidmet, die sich es sich nicht nehmen liess, sich auf der Piazza feiern zu lassen.
Ein Film freilich fehlte, welcher der Piazza gut angestanden hätte: «Wonderstruck», eine märchenhaften Zeitreise zwischen 1927 und 1977 um zwei Kinder, die suchen und finden – nach dem Buch von Brian Selznick. Er wurde zu Ehren des Ehrenpreisträgers Todd Haynes aufgeführt – aber eben nicht auf der Pizza. Im Gegensatz zu den Piazza-Filmen, die alle ihren Weg ins Kino finden werden, ist das bei den Wettbewerbsfilmen eher selten der Fall. Das trifft wahrscheinlich auch auf das dokumentierte Alzheimerdrama «Mrs. Fang» des Chinesen Wang Bing, dem Locarno-Gwinner, zu, der eine sterbende Bäuerin begleitete. Das Schicksal dürften auch der brasilianischen Beitrag «As Boas Maneiras» (Spezialpreis der Jury) oder der französischen Film «9 Doigts» von F.J. Ossang (Pardo für beste Regie) erfahren. Dagegen wird es ein Wiedersehen im Kino mit Isabelle Huppert (Pardo für beste Darstellung) geben: «Madame Hyde» handelt von einer verschrobenen Lehrerin, die vom Blitz getroffen wird. Ein Kuriosum im Wettbewerb waren Relikte einer chilenischen Seifenoper von Raul Ruiz. Seit 1990 verschollen, wurden sie nun wiederentdeckt und zusammengekleistert: «La telenovela errante». Weder der deutsche Concorso-Beitrag «Freiheit» von Jan Speckenbach mit einer bemerkenswerten Johanna Wokalek als Frau, die ihre Familien Knall auf Fall verlässt, noch der Schweizer Film «Goliath» von Dominik Locher über muskulöse Männlichkeit, die als Selbstwertsteigerung dienen soll, rissen irgendwelche Stricke aus.
Der Film, der als heimlicher Favorit gehandelt wurde, ging fast leer aus (Preis der Ökumenischen Jury). Er heisst «Lucky», ein Spielfilm über einen Mann über 90, der stoisch seinen Lebensabendweg geht. Harry Dean Stanton («Paris, Texas»), selber 91 Jahre alt, verkörpert diesen Überlebenden mit Gelassenheit und einem Lebensweisheits-Lächeln zum Schluss, by the way, er trifft auf einen alten Bekannten: David Lynch («Twin Peaks»). Witzigerweise heisst der «Lucky»-Regisseur John Carroll Lynch, ist aber, soweit bekannt, nicht mit eben diesem berühmten Regisseur und Künstler David Lynch verwandt.
Locarno ist bekannt für Entdeckungen. Das war im Jubeljahr 2017 nicht anders. Dazu gehörte auch der intelligente SF-Thriller «What Happened to Monday?» von Tommy Wirkola auf der Piazza, in dem Noomi Rapace gleich sieben Rollen übernimmt. Witzig und irgendwie tragisch zugleich ist die Reportage über den afghanischen Produzenten, Regisseur und Star Salim Shaheen, der pausenlos Trashfilme dreht. Es gäbe Hollywood, Bollywood und eben Nothingwood, meinte Shaheen: Afghanistan habe eben nichts. Sonia Kronlung hat den Exzentriker inmitten eines vom unentwegten Krieg erschütterten Land begleitet.
Ein nachhaltiges Erlebnis war die Begegnung mit der Poetin aus Saudi-Arabien, Hissa Hilal, die viel Aufmerksamkeit in Locarno fand. Stefanie Brockhaus und Andreas Wolff haben ihre «Karriere» als Dichterin verfolgt, die am arabischen TV-Wettbewerb «Million’s Poet» berühmt wurde – als Frau und gesellschaftskritische Poetin: «The Poetess». Sie war selber in Locarno mit ihren Töchtern anwesend, zeigte sich bei der Publikumsdiskussion im Rahmen der «Semaine de la critique» verschleiert, aber nicht um den Kanton Tessin so provozieren, wo es verboten ist, wie sie ausdrücklich versicherte, sondern um sich vor Fotografen und Kameraleuten zu schützen. Abseits des Rummels sprachen wir mit ihr im Café – unverschleiert.
Es hat schon so etwas wie Tradition, dass die sieben Film, die im Programm der «Semaine de la critique» in Locarno gezeigt werden, grosse Anziehung ausüben. Beim Kursaal bildeten sich jeweils lange Schlangen, dennoch mussten viele Besucher abgewiesen werden. Locarno zeigt sich jedoch weiter uneinsichtig und bietet für diese Veranstaltung nicht den grossen Saal im neuen PalaCinema an. Das erging auch auf dem Schweizer Dokumentarfilm «Das Kongo Tribunal» von Milo Rau so. De Andrang war enorm. Überhaupt waren Schweizer Film – im Gegensatz zum Kinoalltag – in Locarno begehrt. Das war besonders bei Sabine Gisigers «Willkommen in der Schweiz» der Fall, einer Fallstudie über die Gemeinde Oberwil-Lieli, die sich weigerte, zehn Flüchtlinge aufzunehmen (wir kommen bei Kinostart im Oktober auf diese Dokumentation zurück). Das genügten selbst vier Vorstellungen kaum. Der «alte Filmkämpe» Villi Hermann stellte seine neuste Dokumentation über Menschen vor, die während des Algerienkrieges zwischen 1954 und 1962 desertierten und teilweise in der Schweiz problemlos (!) Zuflucht fanden. Er hat Algerien heute besucht, einige von ihnen und Bewohner wiedergetroffen: «CHoisir à vingt ans». Eine spannende Begegnung und bedeutsam, erst recht heute.

Die Schweizer Filmpräsenz war solide, wenn auch nicht überragend. Dabei soll ein Film nicht unerwähnt bleiben, der eine eigene Handschrift trägt und sich stilistische abhebt (Sektion Concorso Cineasti del presente). Der Zürcher Cyril Schäublin entwirft ein kühles Stimmungsbild der Limmatstadt: Alice, Mitarbeiterin eines Callcenters, belügt und betrügt ältere Leute, um an ihr Geld zu kommen. Diese «harmlose» Geschichte nutzt der Regisseur, um Orte und Menschen (Betreuer, Polizisten, alte Leute) zu erkunden. Sein Spielfilm «Dene wos guet geit» erweist sich als unaufgeregtes Zeitbild im lakonischen Stil.
«Die langen Schlangen vor dem neuen Filmpalast PalaCinema oder der volle Saal im renovierten GranRex für die Retrospektive (Jacques Tourneur), die den Nagel auf den Kopf getroffen hat, erfüllt uns mit grosser Freude und lässt uns mit Optimismus in die Zukunft blicken», bilanziert Festivaldirektor Carlo Chatrian. 26 Filme in elf Tagen – das kann sich sehen lassen. Positiv ist sicher die Tatsache, dass viele Filme mehrfache Aufführungsmöglichkeiten hatten. Eher negativ war die Entwicklung des «Showacts» vor der Piazza-Aufführung, der zog sich in die Länge bis zu 50 Minuten. Denn die Liste der Ehrungen und Preise wird immer länger und mühsamer. Auf einen Auftritt wie dem von Nastassja Kinski, die kaum einen Satz auf die Reihe kriegte, kann man gern verzichten, auch auf die Filmschnitzel Movieofmylife. Das waren 70-Sekunden-Produkte eines digitalen Wettbewerbs, in dem ein Film(ausschnitt) skizziert wird, der das eigene Leben verändert hat. Manche Beiträge waren freilich banal oder unterirdisch unverständlich.
Rundum scheint das Festival mit sich zufrieden, steht dank des Präsidenten Marco Solari auf solidem Fundament und schaut optimistisch in die Zukunft, wobei es bei der 71. Ausgabe (1. bis 1. August 2018) durchaus etwas mehr weniger sein dürfte.

Preise Festival Locarno 2017

Goldener Leopard
«Mrs. Fang» von Wang Bing, China

Spezialpreis der Jury
«As boas maneiras» von Juliana Rojas, Marco Dutra, Brasilien,

Beste Regie
F.J. Ossang für «9 Doigts», Portugal

Beste Darstellerin
Isabelle Huppert für «Madame Hyde», Frankreich

Bester Darsteller
Elliott Crosset Hove für «Vinterbrødre», Dänemark

Goldener Leopard Cineasti del presente
«3/4» von Ilian Metev, Bulgarien

Spezialpreis der Jury
«Milla» von Valerie Massadian, Frankreich

Bester Film Signs of Life
«Cocote» von Nelson Carlo De Los Santos Arias, Dominik. Republik

Pardi di domani, Internationaler Wettbewerb
Goldener Leopard: «António e Catarina» von Cristina Hanes, Portugal
Silberner Leopard: «Shmama» von Miki Polonski, Portugal

Pardi di domani, Nationaler Wettbewerb
Goldener Leopard: «Rewind Forward» von Justin Stoneham
Silberner Leopard: «59 Secondes» von Mauro Carraro

Prix du Public
«The Big Sick» von Michael Showalter, USA

Preis der Ökumenischen Jury
«Lucky» von John Carroll Lynch, USA

 

 

 

Filmtipps

 

 

Final Portrait

I.I. Das letzte Porträt von Giacometti galt 1964 dem amerikanischen Schriftsteller James Lord. Zwei Stunden nur, vielleicht drei, allerhöchstens ein Nachmittag, länger werde die Porträt-Sitzung nicht dauern, versprach Giacometti (Geoffrey Rush) dem 42-jährigen James Lord (Armie Hammer), als dieser ihn in Paris besuchte. Lord, der Giacometti 1952 im Pariser Café Deux Magots kennengelernt hatte, fühlte sich geschmeichelt, in das Atelier an der Maindron 46 eingeladen zu werden. Und genau in diesem (authentisch nachgebauten) Atelier, inmitten von Büsten, seinen langgezogenen Skulpturen und Giacomettis Bohème-Leben mit der 22 Jahre jüngeren Ehefrau Annette (Sylvie Testud) und seiner Geliebten Caroline (Clémence Poésy), sollten sich die Porträtsitzungen auf insgesamt 18 Tage ausweiten. Giacometti, mit krausem Haar, – Geoffrey Rush sieht ihm verblüffend ähnlich und hat sich auch die Gestik und Haltung des Bildhauers zu eigen gemacht -, seine Kleidung ist gipsbestaubt und unordentlich, eine Zigarette hängt meist in seinem Mundwinkel. Und doch geht eine grosse Faszination auf die Menschen in seiner Umgebung von ihm aus. Lord lernt die Personen kennen, die sich in Giacomettis Umfeld bewegen, vor allem seinen Bruder Diego (Tony Shalhoub), selbst Künstler und Designer, der sich als Assistent um das künstlerische Genie seines Bruders kümmert. Er weiss um die Ungeduld und nagenden Selbstzweifel, die auch Lord kennenlernt, mehr als einmal übermalt Giacometti sein Porträt, weil es ihm noch nicht gut genug erscheint. Auf langen Spaziergängen über den Friedhof von Montmartre unterhalten sich die beiden Männer über Gott und die Welt und Giacometti fragt Lord, ob er nicht auch einmal daran gedacht habe, ein Baum zu sein. Sie sitzen mit Pierre Matisse und Künstlern in den Bars und Cafés, trinken Wein, Giacometti verschlingt Ei und Schinken und eilt dann besessen in sein Atelier zurück. Längst ist er berühmt, Geld spielt keine Rolle, er kauft seiner Muse und Geliebten einen roten Sportwagen und knausert bei der Ehefrau, die nach 15-jähriger Ehe zermürbt scheint. Lord kommt Giacometti so nahe wie wenige andere Menschen und seine Sitzungen sind der Anlass für seine nun von Regisseur Stanley Tucci unterhaltsam atmosphärisch verfilmte Biographie «A Giacometti Portrait» von 1965, an der Lord bis 1986 arbeitete. Sein Porträt überreicht Giacometti James Lord als Geschenk. Giacometti starb zwei Jahre später 1966. Das letzte Gemälde Giacomettis wurde 1990 für 20 Millionen Dollar verkauft. 2009 starb Lord in Paris.
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In Zeiten des abnehmenden Lichts
rbr. Herbstdämmerung in der DDR. Da steht er nun und kann nicht anders, der Jublilar Wilhelm Powileit (souverän und grandios gespielt von Bruno Ganz). Der alte SED-Parteigenosse wird 90 Jahre alt und soll entsprechend parteikonform und familiär gefeiert werden. Doch der grantelnde Jubilar hat keinen Bock auf diese Rituale. Doch die aufgebotenen Parteibonzen, der für ein Ständchen aufgebotene Chor der Pioniere lassen sich nicht aufhalten. Der Geburtstagsgreis erträgt’s mit zynischen Kommentaren. In seiner Ostberliner Villa haben sich – notgedrungen auch Verwandte und Bekannte eingefunden. Natürlich seine Frau Charlotte (Hildegard Schmahl), sein Sohn Kurt (Sylvester Groth) und seine alkoholisierte Frau Irina (Evgenia Dodina) sowie Schwiegertochter Melitta (Natalia Beliski). Nur einer fehlt, Enkel Sascha (Alexander Fehling), Kurts Sohn. Er hat sich in aus dem Staub gemacht – nach Westen. Doch bis das an diesem Abend rauskommt, ist vieles aus dem Ruder gelaufen, sind Fassaden gebröckelt, kommen prekäre Verhältnisse ans Licht.
Nicht nur dieser Festakt im Herbst 1989 scheitert, sondern ein ganzer Staat und ein sozialistisches System à la DDR. Der Roman «In Zeiten des abnehmendes Lichts» (2011) von Eugen Ruge spiegelt in der Familiengeschichte die Entwicklung der DDR. Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase und Regisseur Matti Geschonneck konzentrieren sich auf einen Abend vor dem Fall der Berliner Mauer 1989. Sie haben sich vom umfassenden Roman gelöst und bündeln quasi die Schicksale, die drei Generationen umfassen. Es ist wie der Mauerfall im Rahmen einer Familie, in der sich eben auch der Verfall der DDR wiederspiegelt. Die Veränderung ist nicht aufzuhalten. Mit Liebe zum Detail und zu den Figuren haben Geschonneck und seine Crew diese Moment des Niedergangs, der Auflösung und Zerrüttung gebannt – in einem Kammerspiel mit tragischen und komischen Nuancen. Da stimmt jede Kleinigkeit, jede Geste. Getragen und realisiert von einem einem grossartigen Ensemble – von Sylvester Groth als leidendem Mitwisser bis zu Bruno Ganz als Jubilar mit Durchblick. Ein packendes konzentriertes Kinostück, das in seiner Art an das britische Beispiel «The Party», ebenfalls mit Bruno Ganz, erinnert.
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David Lynch – The Art Life
rbr. Der Weg zum Film. Vor vierzig Jahren wartete ein junger Mann namens David Lynch mit einem verstörenden Kinofilm auf: «Eraserhead». Es folgten weitere markante eigenwillige Filme und TV-Werke wie «Blue Velvet», «Wild At Heart» oder «Twin Peaks». Doch im Dokumentarfilm «David Lynch – The Art Life» stehen nicht Regisseur und seine Filme im Vordergrund, sondern seine künstlerischen Ambitionen und sein Weg zum Film. Sein Interesse für die Anatomie von Kleintieren und Insekten, für Verfall und Verderben wurden bereits in der Kindheit geweckt. Sein Vater war Agrarwissenschaftler, und der junge David Lynch, 1946 in Montana geboren, war von dieser organischen Welt fasziniert. Das Dunkle zog ihn an. Sehr früh drückte er sich in Zeichnungen, Gemälden aus. Mit 14 wurde die Malerei seine Obsession, sein Ausdrucksmittel. Zusammen mit seinem Freund Jack Fisk reiste er nach Europa, war Student in Salzburg an der Sommerakademie Oskar Kokoschka, über Paris und Athen ging’s zurück in die Heimat, in die USA. Er hielt sich zu dieser Zeit mit Nebenjobs über Wasser und bewarb sich an der Pennsylvania Academy of Fine Arts in Philadelphia. Ihm wurde bewusst, dass ihm die Malerei nicht genügte. Ihm fehlten Ton und Bewegung und entwickelte eine Art «Moving Painting». 1967/68 startete er erste Filmversuche. Es entstand der Kurzfilm «The Alphabet» (1968), der Lynch das Stipendium-Tor zum American Film Institut (AFI) öffnete. 1970 zog er mit seiner Familie nach Los Angeles, wo er heute noch lebt.
Dieser Lebensabschnitt mitsamt der Arbeit am Kurzfilm «The Grandmother» und der Entwicklung von «Eraserhead» (1972/74) deckt das Lynch-Porträt von Jon Nguyen, Rick Barnes und Olivia Neergaard-Holm mehr oder weniger ab. Tief tauchen die Filmer in das Werk David Lynchs ein, seine Gedankenwelt und Erinnerungen. Der Maler und Multimediakünstler Lynch wird zum Erzähler – seiner eigenen Geschichte, Ursprünge, Intentionen und Visionen. Paffend wie ein Schlot, abgeklärt wie ein Guru und rätselhaft wie eine Sphinx nimmt er uns mit auf eine Reise zu den Hinter- und Abgründen seiner Bilder, Collagen, Skulpturen. Sie werden zu Boten und Gestalten seiner bewegten Bilder, seiner späteren Filme. Er erklärt nicht, sondern eröffnet nur Sichtweisen, skizziert Empfindungen. Film und Lynch sprechen für sich. Kein Kommentar, keine Vernetzung zu späteren Filmen, sparsame Statements zur eigenen Familien, mehr Aussagen indes zu seinen Eltern und zur prägenden Kindheit – der Dokumentarfilm, bezeichnend als «The Art Life» betitelt, löst das Rätsel und das Mysterium des surrealistischen Kultregisseurs nicht, erhellt es aber punktuell und faszinierend wie seine Filme. Seine Erscheinung, seine Beziehungen zur Musik und zu bestimmten Personen lassen sich in zwei anderen Filmen über und mit Harry Dean Stanton nachsehen, der auch in Lynchs neuer «Twin Peaks»-TV-Serie mitwirkt: in «Partly Fiction» (2012) der Schweizerin Sophie Huber und in «Lucky» (2016) von John Carrell Lynch, offensichtlich nicht verwandt mit David Lynch und just am Festival Locarno aufgeführt. Lynch ist Gesprächspartner und Fragesteller.
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Almost There
rbr. Wendepunkte im Herbst. Drei Rentner wagen eine Wende in ihrem Leben, suchen neue Perspektiven und Lebensqualitäten. Steve, englische Drag Queen und Stand-up Comedian, sucht sein Heil im spanischen Rentnerparadies Benidorm. Bob bricht mit seinem Wohnmobil in die kalifornische Wüste auf, und der pensionierte Japaner Yamada gewinnt der Aufgabe als Kinderbuch-Vorleser neue Lebensqualitäten ab. Der Amerikaner Bob hat seine Wohnung gegen ein Wohnmobil eingetauscht und kurvt durch unwirtliche Landschaften Kaliforniens. Auf der Suche (nach was?), immer der Strasse, der eigenen Laune und Stimmung nach. Es scheint, als versuchte der pensionierte Robert «Bob» Pearson Bewegung in den Stillstand seines Lebens zu bringen. Als Revuestar hochgetakelt, schleift die englische Drag Queen Steve im Morgengrauen einen Koffer hinter sich her – von englischen Seebädern wie Brighton nach Benidorm. In diesem spanischen Endzeitparadies für Rentner und andere Oldies sucht Steve Phillips einen Neuanfang im Herbst seines Lebens. Der Nachtklub-Entertainer, seine Spezialitäten Witze und Zoten, findet dort offensichtlich seinen Frieden – mit sich. Der Japaner Genji Yamada hat sein Lebtag für seine Firma in Tokio gelebt, seine Frau und Kinder fast nicht richtig wahrgenommen und nun? Kollegen machen ihn auf einen Job aufmerksam – als Vorleser von Kinderbüchern für Kinder. Er findet daran Gefallen und die Kinder an ihm.
Die Zürcher Filmautorin Jacqueline Zünd hat lange nach ihren Protagonisten gesucht oder suchen lassen, etwa in Japan. Ihr Dokumentarfilm «Almost There» ist kein Zufallsprodukt, sondern geplant und in gewissen Momenten inszeniert, aber deswegen nichts weniger wahr und wirklich. Dass Schriftstellerin Sibylle Berg einige Texte beigetragen hat und vortragen lässt, fällt nicht weiter auf und ist auch nur eine Nebenbemerkung wert. Zünds Film geht Fragen nach Einsamkeit, nach Lebenssinn im Alter, also nach einem gelebten Leben, nach. Melancholische Momente, poetisch angehaucht.
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Rester vertical

rbr. Aufrecht bleiben, nicht nur bei Wölfen. Der französische Filmemacher Alain Guiraudie taucht gern in die Natur ein und beschäftigt sich mit Sexualität. So auch in seinem herben Melodram «Rester vertical». Die herbe Landschaft im Languedoc-Roussillon ist der Schauplatz, auf dem sich Empfindungen, Sehnsüchte und Eigenarten von Männern entfalten. Wölfe heulen. Man sieht sie kaum, und doch sind sie eine ständige Gefahr für Schafe und ihre Hüter. Ein Städter streift zu Fuss durch eine herbe Berglandschaft: Léo (Damien Bonnard), Drehbuchautor, ist Wölfen auf die Spur und begegnet der Schäferin Marie (India Hair). Es kommt zum Schäferstündchen. Marie wird schwanger. Regisseur Alain Guiraudie und seine Kamerafrau Claire Quainon sind nicht zimperlich und halten ungeniert drauf bei der Geburt – schamlos wie schon beim Liebesakt zwischen Marie und Léo, bei gerissenen Schafen oder einem getötetem Schäferhund.
Die Situation: Léo sitzt in der Patsche mit einem Baby, Marie hat das Weite gesucht und ist in die Stadt abgehauen. Er gewinnt Gefallen am Vatersein, richtet sich in der Einöde ein und verschafft dem Greis Marcel (Musikliebhaber von Pink Floyd), einen lustvollen Tod, Aber das ist eine andere Geschichte. Guiraudies Melodrama hat etwas Märchenhaftes, Skurriles, Abseitiges. Traum, auch Alptraum und Wirklichkeit versuchte der Regisseur verbinden. Natur und geschützter Raum, versteckte und gelebte Sehnsüchte, Liebe und Tod – «Rester vertical» ist ein leicht verschrobener, aber ungeschminkter Film über Einsamkeit der Männer des Wolfes. Er beschreibt auch, wie der Wolfssympathisant Léo sich wandelt – vom getriebenen Städter zum verantwortungsbewussten Vater, der sein Kind allein gross ziehen will. «Aufrecht bleiben» – das soll man nicht nur bei Begegnungen mit Wölfen, wie überliefert wird, sondern überhaupt politisch, menschlich, existentiell, meint der Film. Kino abseits vom Gängigen – diskutabel und spannend.
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The History of Love
rbr. Trauer um eine verlorene Liebe und Manuskripte. Ein grosser Titel für eine komplizierte Liebesgeschichte. Nach der Buchvorlage «Die Geschichte der Liebe» (2006) von Nicole Krauss entwickelte der gebürtige Rumäne Radu Mihaileanu (59) seinen komplexen Spielfilm. Regisseur und Autorin verbinden einige biografische Punkte. Beide sind jüdischer Herkunft, Krauss verarbeitet in ihrem Roman autobiografische Geschichten ihrer Grosseltern, denen die Flucht aus Europa gelang. Mihaileanu, 1958 in Bukarest unter dem Ceausescu-Regime geboren, emigrierte nach Frankreich und avancierte zum erfolgreichen Filmer («Le train de vie – Zug des Levebens», 1998; «Le concert», 2009). Schicksale von Verfolgten, Emigrierten, jüdische Lebensläufe haben ihn immer wieder interessiert. Das lässt sich auch an dem Liebesdrama «The History of Love» ablesen. Auf drei verschiedenen Zeit- und Erzählebenen beschreibt Mihaileanu (Regie, Drehbuch, Produktion) die Geschichte verlorener, respektive angeeigneter Bücher und einer ersehnten, aber ungelebten Liebe. Alles beginnt wie ein Märchen. Es war einmal ein Junge in einem polnischen Shtetl (Dorf) vor dem Zweiten Weltkrieg, der war verliebt, aber nicht allein. Drei Jünglinge buhlen um die schöne Alma: Léo, Bruno und Zvi. Léo schwört seiner Angebeteten, seiner «meistgeliebten Frau der Welt», ewige Liebe. Die Nazis rücken näher, Juden werden verfolgt. Alma wird von ihrem Vater nach Amerika geschickt. Léo (Derek Jacobi) harrt aus, verspricht ihr Briefe und so entsteht quasi die Geschichte ihrer Liebe. Er kann ihr erst Jahre später nach New York folgen und erlebt die grösste Enttäuschung seines Lebens: Alma (Gemma Arterton) ist verheiratet, hielt Léo für verschollen, tot. Léo wahrt Distanz, und es kommt erst wieder zu einem letzten Wiedersehen 1995, als Alma im Sterben liegt. Léo wohnt auch noch 2006 in Chinatown. Sein einziger streitlustiger Gefährte ist Bruno (Elliott Gould) – sein Alter ego. Zu dieser Zeit erhält die Junge Alma Singer (Sophie Nélisse) den Auftrag das Buch «Historia del Amor» aus dem Spanischen ins Englische zu übersetzen. Auch Léo sucht seit Jahren seine «Geschichte der Liebe», es sind Manuskripte, die er seinem Freund Zvi (Claudiu Maier) mit auf seiner Reise mitgegeben hat, um es Alma in New York auszuhändigen. Zvi erkennt die literarische Qualität der Texte und veröffentlicht sie unter seinem Namen in Chile. Und so löst sich der verzwickte Knoten Schlaufe um Schlaufe, führt Vater Léo und seinen Sohn Isaac aus der Liebschaft mit Alma zumindest geistig zusammen. Auch die Übersetzerin Alma trägt ihren Teil zur Klärung und zum späten stillen Glück bei. «The History of Love» ist ein vielschichtiges, verzwicktes Liebes- und Familiendrama, das dem Zuschauer einige Wachheit und Kombinationsgabe abverlangt. Die Zeitsprünge, Rückblenden (leicht vergilbte Bilder in der polnischen Heimat), offene und versteckten Beziehungen sind wie Mosaiksteine angelegt. Ein komplexer, empfindsamer Film über den Glauben an die Liebe, über Familienbande und späte Erfüllung mit leicht verklärtem, romantischem Touch.
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Baby Driver

rbr. Heisse Reifen, heisse Musik. Es ist wohl nicht der letzte, aber wohl der beste aller Driver-Streifen. 1978 klemmte sich Ryan O’Neal in «The Driver» hinters Lenkrad, gejagt vom Bullen (Bruce Dern). Ein abgefahrener Thriller von Walter Hill, der die Jagd auf Rädern als grosses Duell arrangiert. 2011 agierte Ryan Gosling als Fluchtfahrer in «Drive» von Nicolas Winding Refn, der Gangster in Los Angeles kutschiert. Noch cooler, abgeklärter und ausgekochter erscheint der jüngste Driver, verkörpert von Ansel Elgort, der ausserhalb der Filmerei auch als Sänger aktiv ist (Album «Thief», 2017). Er wird Baby Driver genannt, ständig mit Musik im Ohr, ein Einzelgänger und Sonderling mit autistischen Zügen. Er betreut einen alten Mann und setzt sich auf Abruf hinters Steuer. Seine Einsätze bestimmt Doc (Kevin Spacey), bei dem er wegen eines Mercedes-Raubes in der Kreide steht. Seine Flamme Deborah (Lily James) bestärkt ihn darin auszusteigen. Doch der Gangsterboss Doc will nicht auf seinen besten Fahrer in Town (Atlanta) verzichten. Edgar Wright (Regie, Buch, Produktion) lieferte einen abgefahrenen Actionfilm mit kerniger Besetzung – Eiza Gonzales als abgezockte Gangsterbraut Darling, Jon Hamm als Buddy oder Jamie Foxx als Bats. Hier geht’s neben heissen Reifen und Speed, speziell um einen Typ, der stoisch seinen Weg geht beziehungsweise steuert – nicht ohne Musik. Die spielt eine tragende Rolle in diesem Driver-Spektakel. Sie ist der Stoff, den Baby Driver zum Leben braucht, der ihn antreibt und den Film zum Rocken bringt – von «Bellbottoms» der Jon Spencer Blues Explosion über «Harlem Shuffle» von Bob & Earl und «Egyptian Reggae» von Jonathan Richman & The Modern Lovers bis zu «Debora» von T.Rex, «Brighton Rock» von Queen und «Baby Driver» von Simon & Garfunkel. Kino mit Knalleffekt in mehrerer Hinsicht.
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This Beautiful Fantastic
rbr. «Der wunderbare Garten der Bella Brown». Der deutsche Filmtitel deutet bereits an, dass es sich hier um eine liebenswürdige Romanze handelt. Die schöne scheue Bella Brown (Jessica Brown Findley) ist weltfremd, einsam und anders. Sie lebt in London, einsiedlerhaft in einem idyllischen Haus, und führt ein stilles Dasein als Bibliothekarin. Bei ihr muss alles seine Ordnung haben – von den Zahnbürsten im Regal, über streng aufgereihte Konserven bis zur akkuraten Tellerordnung (jeder Spargel an seinen Platz). Die Tür ist mehrfach gesichert, der Garten verwildert. Mit ihrem grantigen Nachbarn Alfred «Alfie» Stephenson (Tom Wilkinson) steht sie auf Kriegsfuss wie auch mit ihrem verwilderten Garten. Bella ist Mieterin, der ein Aufsichtsbeamter auf den Pelz rückt und mit Rauswurf droht, wenn sie die Wildnis nicht bearbeitet. Natur, Pflanzen, Hecken, Büsche in ihrem Garten empfindet sie als Bedrohung. Im Streit mit dem groben Alten von nebenan wechselt Vernon (Andrew Scott), Haushaltshilfe und Koch bei Alfie, die Fronten und stellt sich auf Bellas Seite. Ein Lichtblick in ihrem eher tristen Leben. Zum Hoffnungsschimmer wird der Tüftler Billy (Jeremy Irvine), in den sie sich verknallt. Den Lebensraum Garten und damit Lebensqualität bringt ihr aber erst der grob gestrickte, aber doch feinsinnige Nachbar nahe. Die Aussenseiterin Bella – wunderbar gespielt von Jessica Brown Findlay – erinnert an die phantasievolle Amélie (in «Die fabelhafte Welt der Amélie», 2001). Sie wirkt wie eine verlorene Fee, die wachgeküsst werden will. Und daran «arbeiten» die drei, etwas aus der Reihe geratenen Typen: der mit Weisheit und Gartenherz gesegnete Alfie am Ende seines Lebens, der für Gaumenfreuden und Herzhaftigkeit zuständige Koch mit zwei Töchtern und der verschrobene Erfinder mit seinem mechanischen Vogel «Luna». Autor und Regisseur Simon Abou inszenierte dieses moderne Märchen mit Herzwärme und Charme. Aboud ist übrigens Ehemann von Mary McCartneys, also Schwiegersohn von Paul McCartney («Beatles»).
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Dunkirk
rbr. «Operation Dynamo» zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Zweiter Weltkrieg 1940. Schauplatz ist ein Küstenabschnitt an der Nordsee beim französischen Städtchen Dünkirchen (englisch Dunkirk). Der Kanal mit gut 40 Kilometern trennt diesen Landstrich von England (Dover). Britische wie französische Truppen (annähernd 370 000 Soldaten) wurden von der deutschen Wehrmacht eingekesselt. Premierminister Winston Churchill und die Militärs entschlossen sich zur Evakuierung, zur «Operation Dynamo». Und diese beispiellose Aktion ist Thema eines kolossalen Kriegsepos, geschrieben und inszeniert von Christopher Nolan und seiner Frau Emma Thomas (Produktion). Auf drei Ebenen spielt sich das gewaltige Drama ab – zu Lande («Mole»), zu Wasser («Schiffe») und in der Luft (Luftkampf). Junge Soldaten hetzen durch das zerbombte Städtchen Dünkirchen auf dem Weg zum Strand, zur Mole, wo Schiffe die Soldaten aufnehmen sollen. Der blutjunge Tommy (Fionn Whitehead) und seine Kumpanen Gibson (Aneurin Barnard) und Alex (Harry Styles) kämpfen sich bis zur Mole (Pier) vor und hoffen, auf eines der wenigen Schiffe zu gelangen. Sie wollen nur eins: heim. Gleichzeitig steuert ein kleines Geschwader mit drei Spitfire-Maschinen den Kriegsschauplatz an, um deutsche Stukas (Junkers Ju 88 Sturzkampfbomber) abzuschiessen, die Schiffe und Soldaten am Strand angreifen. Einer von ihnen ist der britische Pilot Farrier (Tom Hardy), der erfolgreich einige deutsche Flieger vom Himmel holt, letztlich aber wegen Spritmangel notlanden muss. Gleichzeitig startet an der englischen Küste ein unglaubliches Unternehmen: Privatboote, Fischkutter, Segeljollen und mehr brechen Richtung Frankreich auf, um «ihre Junges» heimzuholen. Dazu gehören auch Mr. Dawson (Mark Rylance), sein Sohn Peter (Tom Glynn-Carney) und dessen Freund George (Barry Keoghan) mit ihrem Motorboot «Moonstone». Sie fischen einen Soldaten (Cillian Murphy) aus dem Wasser, dessen Rettungsschiff von einem Torpedo getroffen wurde, der unter keinen Umständen zurück an den Strand von Dünkirchen will und handgreiflich wird. Am Strand versucht Commander Bolton (Kenneth Branagh) die Rettungsaktion zu koordinieren. Diszipliniert haben sich Tausende Soldaten aufgereiht, um gerettet zu werden. Deutsche Stukas und Jagdfliegergreifen an, und die britischen Kriegsschiffe kommen wegen der seichten Gewässer nicht näher ran.
Meisterhaft verknüpft Christopher Nolan («Memento», «The Dark Knight Rises», «Interstellar») die verschiedenen Ebenen und Schauplätze und entwirft so ein umfassendes Kriegsbild. Im Gegensatz zu anderen Kriegsactionfilmen wie «Full Metal Jacket», «Platoon» «Hacksaw Ridge» oder «Fury» geht es bei «Dunkirk» nicht um einzelne Heroen, Heldentum und bombastische Action, sondern um Menschen, ihre Gefühle, ihr Leiden. Nicht die grosse Aktion und das Kriegsgeschehen, die «Schlacht um Dünkirchen», wird ausgestellt, sondern das Ungeheuer Krieg, «menschlich» nahegebracht, heisst an Einzelschicksalen festgehalten. Nazi-Soldaten, Generäle, nicht einmal Churchill tritt auf, er wird nur erwähnt. Das Sterben, der Tod werden nicht in Zeitlupe zelebriert. Blut fliesst, wird aber nicht spektakulär eingesetzt. Das Kriegsdrama setzt sich aus vielen Partikeln zusammen und wird von Kameramann Hoyte Van Hoytema bildgewaltig eingefangen. Regisseur Nolan zieht es vor, möglichst an Originalschauplätzen zu drehen. So geschah es auch am historischen Strand. 1500 französische Statisten wurden aufgeboten, annähernd 60 Schiffen eingesetzt. Selbst der historische Zerstörer «Maillé-Brézé» wurde angeschleppt (aus dem Museum in Nantes). Ein wuchtiges Bildepos (ohne Frauen), aber mit Gespür für menschliche Dramen. Da mag man die patriotischen Jubelszenen am Schluss gern verzeihen. Historisch gesehen, erwies sich die gigantische Evakuierung nur vordergründig als Niederlage, sie war der Knackpunkt, die britischen Streitkräfte erholten sich, mussten nicht wie die Belgier und Franzosen kapitulieren. Die britische Kriegsmoral wurde gestärkt und gegen die Nazi-Aggressoren weiter gekämpft. Auch diesen moralischen Überlebensaspekt bringt der Film «Dunkirk» emotional-patriotisch gezielt zum Ausdruck.
Zahlen zu Dünkirchen
Die Evakuierung dauerte vom 26. Mai bis 4. Juni 1940. Von rund 370 00 eingekesselten Soldaten konnten etwa 338 226 (85 Prozent des Expeditionskorps) evakuiert werden. Die Royal Air Force verlor 106 Jagdflugzeuge, die deutschen Streitkräfte 132. Insgesamt waren in der Schlacht um Dünkirchen über 68 000 britische Tote, Verwundete und Gefangen zu beklagen, auf deutscher Seite rund 20 000. 115 000 Franzosen wurden gefangen genommen (80 000 in Dünkirchen). 5000 Belgier starben, rund 500 000 Gefangene. 9 Alliierte Zerstörer, über 200 Seefahrzeuge und 177 Flugzeige wurden vernichtet.
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Un sac de billes
rbr. Bruderschaft. Frankreich um 1941. Die deutsche Wehrmacht hat Paris und andere Landesteile Frankreichs besetzt. Juden werden verfolgt. Die Familie Joffo in Paris sucht ihr Heil in der Flucht. Die Eltern (Patrick Bruel, Elsa Zylberstein) entschliessen sich schweren Herzens, die Familie zu «splitten», und schicken die beiden Söhne, den zehnjährigen Joseph (Dorian Le Clech) und den zwölfjährigen Maurice (Batyste Fleurial Palmieri), allein auf die Reise nach Südfrankreich – in die erhoffte Freiheit. Die Brüder müssen eine verschworene Gemeinschaft bilden, um sich durchzuschlagen und Nazi-Schergen zu entkommen. Sie kommen in einem Heim unter, werden verdächtigt und kommen nur dank des engagierten Einsatzes eines Pfarrers davon. Ihre abenteuerliche Odyssee wiederspiegelt eine unselige Zeit der Angst und Verfolgung. Die Geschichte der jungen Flüchtlinge basiert auf der Lebensgeschichte des Joseph Joffo. Sein Bestseller «Un sac de billes – Ein Sack voll Murmeln» (1973) wurde von Christian Duguay mit viel Sensibilität und Herz verfilmt. Dabei stechen vor allem die Jungschauspieler Le Clech und Fleurial Palmieri hervor. In Zeiten der Flüchtlingen und politischen Hickhacks ist es jedem zu empfehlen, dieses historisches Flüchtlingsdrama anzusehen und sich der menschlichen Not bewusst zu werden, denen auch vielen Flüchtlingen heute zu entkommen suchen.
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The Party
rbr. Eine Party läuft aus dem Ruder. Das Wort Party ist im Englischen doppeldeutig, einmal kann es wie bei uns geläufig um ein Fest, eine Fete handeln, andererseits um eine Partei. Die Politikerin Janet (Kristin Scott Thomas), wohl einer linksliberalen Partei zugehörig, gibt eine Party: Sie wurde zur Ministerin eines Schattenkabinetts ernannt, eine Frau der 68er-Generation, die weiss, was sie will, und diese kleine Karriere-Sternstunde mit Freunden feiern will. Und so trudeln sie denn in ihrem Londoner Domizil ein: ihre bissige, beste Freundin April (Patricia Clarkson), zynisch und scharfzüngig wie ein Messer, samt ihrem deutschen Partner Gottfried (Bruno Ganz), einem verschmitzten, naseweisen Sonderling. Dem koksenden Banker Tom (Cyllian Murphy) – mit Pistole – ist die Gattin Marianne, eine Mitarbeiterin Janets, irgendwie abhandengekommen ist. Dazu gesellt sich ein höchst unterschiedliches, lesbisches Paar: die in die Jahre gekommene Professorin Martha (Cherry Jones) und ihre jüngere Geliebte Jinny (Emily Mortimer), die Drillinge erwartet. Nicht zu vergessen ist Janets Gatte Bill (Timothy Spall), ein Fan der Musik und Schallplatte, bei dem man nicht recht weiss, ist er so dusselig verschroben oder tut er nur so. Die Party der Alt-Achtundsechziger läuft zunehmend aus dem Ruder, wird zum Tribunal, zur Enthüllungsstätte. Bindungen zerreissen, Vorwürfe, Geständnisse, Lügen treten zutage, Verletzungen sind unvermeidbar. Freundschaften, Liebschaften, Bindungen werden brüchig, lösen sich auf. In ihrem Kammerspiel mit viel sprachlicher Würze, Esprit und Konfliktstoff lässt Sally Potter («Orlando», «Ginger and Rosa»), Regie und Buch, ihre Protagonisten aufeinander los, zeigt witzig, ironisch, bisweilen sarkastisch eine Gesellschaft, die Lügen und Illusionen erlag, eine Komödie, die zur Tragödie mutiert. Exzellent besetzt bis in die letzte siebte Rolle. Bruno Ganz (mit eigener deutsch-englischen Stimme) spielt dabei eine väterlich gutmütige Rolle, ein Gutmensch inmitten eines intimen Schlamassels. «The Party» ist ein intelligentes Sezierspiel, ein Kammerstück des Scheiterns einer brüchig gewordenen, gespaltenen Gesellschaft – schwarzweiss gefilmt und so desto schärfer, kantiger, wenn auch ein gewisser nostalgischer Touch nicht ganz zu leugnen ist. Wieweit der Film speziell auf die britische Gesellschaft zielt, mag ein jeder, eine jede für sich sehen und entscheiden.

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Return to Montauk
rbr. Versuch einer Wiederbelebung. Ein Mann kehrt nach New York zurück und geht eher widerwillig seinen Verpflichtungen als Autor nach. Max Zorn (Stellan Skarsgård) promotet seinen neuen Roman «The Hunter and the Hunted», hält eine Lesung ab und hofft seine Geliebte, die er vor 17 Jahren verlassen hat, wiederzusehen. Walter (Niels Arestrup) – in Frischs Erzählung der Freund und Förderer W. –beschafft ihm ihre Adresse, doch Rebecca (Nina Hoss), zur erfolgreichen Anwältin aufgestiegen, zeigt wenig Interesse für den Mann, mit dem sie einst eine Liebschaft verband. Max freilich lässt nicht locker, ködert sie mit seinem neusten Buch, das ihre Liebe zum Thema hat. Endlich gibt sie nach und nimm ihn mit auf eine Wochenendreise nach Montauk, um dort eine Immobilie zu inspizieren. Er hofft auf Long Island, dass Erinnerungen, die friedvolle Atmosphäre und Abgeschiedenheit, der alten Liebe neuen Atem einhauchen und ein neues Feuer entfachen würden. Trotz zeitweiliger körperliche Annäherung und einer gemeinsamen Nachtgibt, bleibt Clara auf Distanz – überlegt, kühl, unabhängig. Max, der vermeintliche Jäger, ist ein Träumer, Zögerer und Frauen-Nichtkenner. Ein eher unsympathischer gealterter Kerl und Narziss, der meint zu verstehen, der die Realität nicht sieht oder nicht sehen mag. Das zeigt auch sein Verhalten gegenüber zwei anderen Frauen, der selbstbewussten Verlagsassistentin Lindsey (Isi Laborde) und seiner Lebensgefährtin Clara (Susanne Wolff), mit der er auf Distanz lebt. Lindsey behandelt er wie eine niedrige Angestellte, doch sie hält dagegen, weist ihn in die Schranken. Über Clara, seine Ehefrau, erfährt er erst jetzt vor Ort, wie erbärmlich sie in New York lebt. Max nimmt es zur Kenntnis, scheints ohne besondere Anteilnahme. Man könnte in Zorn geraten angesichts der Haltung Zorns.
In den drei Frauenfiguren spiegelt sich ein Mann, der einem Trugschluss nachjagt und an eine Liebe glaubt, die so nicht stattgefunden hat. Volker Schlöndorff schont seinen «Helden» nicht, im Gegenteil, er stellt ihn bloss, beschönigt seine Eitelkeit, seinen Egoismus nicht. Die drei Protagonistinnen – Hoss, Wolff und Laborde – sind starke Persönlichkeiten. Skarsgård verkörpert Zorn, bei dem sich Fiktion und Wirklichkeit vermischen. Der schwedische Schauspieler gibt glaubhaft, etwas hölzern und fast schon lethargisch den Schriftsteller – ganz nach Intentionen des Regisseurs. Schlöndorffs filmische Frisch-Annäherung, wenn man will eine Hommage an den Schweizer, ohne ihn darzustellen, ist uneitel, unspektakulär und beiläufig. Die alte Geschichte von einer erloschenen Liebe, die neu entzündet werden soll, erfährt mit «Montauk» eine stille melancholische Auflage. Max Frisch wollte ein Wochenende erzählen: «Autobiographisch. Ohne Personnagen zu erfinden; ohne Ereignisse zu erfinden, die exemplarischer sind als seine Wirklichkeit; ohne auszuweichen in Erfindungen. Ohne seine Schriftstellerei zu rechtfertigen durch Verantwortung gegenüber der Gesellschaft; ohne Botschaft. Er hat keine und lebt trotzdem.» (Frisch, «Montauk»). In diesem Geiste ist auch Schlöndorffs «Return to Montauk – Rückkehr nach Montauk»: Keine Literaturverfilmung, sondern eine literarische Reflexion, lakonische Aufarbeitung einer verlöschten Liebe und Vergangenheit – jenseits von Romantik. Ein feingesponnenes Beziehungsspiel, das sich Zeit nimmt, dem aber eine gewisse Sinnlichkeit abgeht, von Schlöndorff und seinem irischen Coautor Colm Tóibín entwickelt. Siehe auch Interview mit Volker Schlöndorff.
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Whitney – Can I be me?

I.I. «Can I be me?» war ihre Frage und ihr Lebenscredo, doch genau das konnte sie nicht sein. Sie ist eigentlich noch immer präsent und sobald Whitney Houstons engelsgleiche Stimme im Radio erklingt, mischt sich in die Bewunderung auch die Trauer über ihren frühen Tod. Mit 48 Jahren ist die begnadete Sängerin 2012 verstorben. Eine Maria Callas des Pop & Soul, aber Amerika ist kein gelobtes Land für Schwarze. Nun greift ein bewegender Dokumentarfilm des preisgekrönten amerikanischen Regisseurs Nick Broomfield («Kurt & Courtney») zusammen mit dem österreichischen Co-Regisseur Rudi Dolezal ihr Leben auf, voller Höhepunkte und Abstürze. Fünf Jahre nach Whitney Houstons tragischem Tod enthüllt der Dokumentarfilm «Whitney: Can I be me?» die wahren Hintergründe ihres Absturzes in Einsamkeit und Drogen – und die Liebe zu einer Frau, ihre Beziehung zu Robyn Crawford. Mit dem Sänger Bobby Brown lebte sie einige Jahre  in einer problematischen Ehe, die die Medien ausschlachteten, sie hatten eine gemeinsame Tochter Bobby Cristina (die mit 22 Jahren einige Jahre nach dem Tod ihrer Mutter an Drogen starb). Doch ihr Ausnahme-Talent wurde von den privaten Turbulenzen in einer unbarmherzigen Branche überschattet, einer Gesellschaft, die ihr Ketten anlegte, die sie auch als Musikikone nicht ablegen konnte. Reichtum, Liebe, Hass, Armut, Einsamkeit, Rassismus und Homophobie pflasterten ihren Weg. Trotz selbst verdienter Millionen, mehr aufeinanderfolgenden Number-One-Hits als die Beatles und als Film-Star («Bodyguard» mit Kevin Costner) war sie immer noch nicht frei, sie selbst zu sein. Sie war eine Cousine der Sängerin Dionne Warwick, besuchte schon als Kind den Kirchenchor, ihre Mutter sang ebenfalls, pushte ihre Karriere und blieb gleichzeitig merkwürdig ambivalent. Whitney litt zeitlebens unter dem gespannten Verhältnis zu ihrer Mutter. Der Film enthüllt mit vielen Originaleinspielungen der Konzerte und Interviews mit den Menschen, denen Whitney nahe stand, dunkle Wahrheiten über den hohen Preis, der für Ruhm zu zahlen ist und «die Gefahr, die darin besteht, dem weissen, heterosexuellen Amerika gefallen zu wollen» (IndieWire). Ein packender und berührender Film, unbedingt sehenswert.
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Un sac de billes
rbr. Bruderschaft. Frankreich um 1941. Die deutsche Wehrmacht hat Paris und andere Landesteile Frankreichs besetzt. Juden werden verfolgt. Die Familie Joffo in Paris sucht ihr Heil in der Flucht. Die Eltern (Patrick Bruel, Elsa Zylberstein) entschliessen sich schweren Herzens, die Familie zu «splitten», und schicken die beiden Söhne, den zehnjährigen Joseph (Dorian Le Clech) und den zwölfjährigen Maurice (Batyste Fleurial Palmieri), allein auf die Reise nach Südfrankreich – in die erhoffte Freiheit. Die Brüder müssen eine verschworene Gemeinschaft bilden, um sich durchzuschlagen und Nazi-Schergen zu entkommen. Sie kommen in einem Heim unter, werden verdächtigt und kommen nur dank des engagierten Einsatzes eines Pfarrers davon. Ihre abenteuerliche Odyssee widerspiegelt eine unselige Zeit der Angst und Verfolgung. Die Geschichte der jungen Flüchtlinge basiert auf der Lebensgeschichte des Joseph Joffo. Sein Bestseller «Un sac de billes – Ein Sack voll Murmeln» (1973) wurde von Christian Duguay mit viel Sensibilität und Herz verfilmt. Dabei stechen vor allem die Jungschauspieler Le Clech und Fleurial Palmieri hervor. In Zeiten der Flüchtlingen und politischen Hickhacks ist es jedem zu empfehlen, dieses historisches Flüchtlingsdrama anzusehen und sich der menschlichen Not bewusst zu werden, denen auch vielen Flüchtlingen heute zu entkommen suchen.
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Insyriated
rbr. Gefangen in eigenen vier Wänden. Täglich werden wir mit Nachrichten oder Bildern aus Kriegsgebieten im Nahen Osten konfrontiert. Das kann abstumpfen – angesichts des alltäglichen menschlichen Leids, der Gewaltgräuel, des Elends. Es sind Menschen, einem Krieg ausgesetzt, der keine Sieger kennt, sondern nur Opfer in Syrien. Eine extreme, schier alltägliche Situation in Damaskus: Eine Gruppe von Leuten hat Zuflucht in einem halb zerstörten Wohnhaus gefunden und sich verbarrikadiert. Oum Yazan, stark wie ein Muttertier, tut alles, damit ihre Schutzbefohlenen – Schwiegervater, Kinder, Freund der Tochter, ein philippinischen Dienstmädchen und ein junges Paar mit Baby – vom Krieg verschont werden. Doch sie kann nicht verhindern, dass der junge Vater, der eine Flucht organisieren will, im Hof angeschossen wird, dass zwei marodierende Männer eindringen, die junge Mutter bedrohen und vergewaltigen. Oum Yazan (Hiam Abbass) und ihre Mitbewohner haben sich versteckt, werden Zeuge dieses Gewaltaktes und verhalten sich still. Die Spannung, die Atmosphäre des Ausgeliefertseins ist schier unerträglich. Was erträgt der Mensch, um zu überleben, was oder wen opfert er? Das Kammerspieldrama «Insyriated – Innenleben» des belgischen Regisseurs Philippe Van Leeuw urteilt nicht, sondern beschreibt eine Ausnahmesituation, die zum Alltag wird. Menschen in der eigenen Wohnung gefangen, vom Krieg tödlich bedroht, Räubern und Handlangern ausgeliefert. Eine extreme Lage provoziert extremes Verhalten. Hiam Abbass verkörpert die zentrale Mutterfigur, welche der verzweifelten Situation trotzt und ihre Hoffnung nicht aufgibt. Ein existenzielles Drama, das unter die Haut geht. Dabei arbeitet der Film mit Auslassungen, deutet Gewalt nur an, macht sie hör- und spürbar. Er hat nicht nur militärische Auseinandersetzungen zwischen Euphrat und Tigris im Fokus, sondern alle Kriege, auf Schultern der Zivilbevölkerung ausgetragen. Van Leeuws aufwühlender Spielfilm gewann an der 67. Berlinale den Panorama-Publikumspreis.
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Gifted – Begabt
rbr. Zwischen Förderung und Forderung. Man kennt das nicht nur im Sport: Mütter oder Väter (oder auch Staaten wie die einstige DDR) forcieren ihre begabten Kinder, treiben sie zu Höchstleistungen an und stehlen ihnen die Kindheit, die Unbeschwertheit, das Spielerische. Die siebenjährige Mary (Mckeena Grace) ist so ein Kind, ein mathematisches Genie wie ihre Mutter, die freilich an ihrer Genialität und dem Ehrgeiz ihrer Mutter Evelyn (Lindsay Duncan) zerbrochen ist. Sie hat sich in den Selbstmord geflüchtet. Die hochbegabte Tochter wächst bei ihrem Onkel Frank (Chris Evans) auf, der selber auf eine akademische Laufbahn verzichtet hat und sich als Bootshandwerker in Florida über Wasser hält. Er hat seiner Schwester versprochen, Mary ein normales Leben zu ermöglichen und sie vor einer teuflischen Elitespirale zu schützen. Doch die Grossmutter Evelyn aus Boston hat anderes im Sinn und setzt Frank moralisch und juristisch unter Druck. Das Mathematikgenie Mary – Differenzialgleichungen sind für sie ein Kinderspiel – soll der Wissenschaft und Menschheit «dienen». Für Regisseur Marc Webb («The Amazing Spider Man») ist es ein Vergnügen, das Hickhack um Kind und Kindheit, Förderung und Forderung, falschen Ehrgeiz, Manipulation und echte Liebe zu inszenieren. Er spielt dabei gekonnt auf der Klaviatur der Gefühle. Lindsay Duncan als böse Grossmutter wird am Ende notgedrungen einsichtig. Chris Evans, bekannt als «Captain America», zeigt seine soften einfühlsamen Seiten als Vaterersatz, und der elfjährige Serienstar Mckenna Grace hat als Wunderkinds das Publikum schnell im «Sack». Nicht vergessen sollte man bei diesem etwas märchenhaft angehauchten Kindheitsdrama Jenny Slate als verständige Lehrerin (und Freundin) sowie Octavia Spencer als gute Nachbarschaftsseele. Sie stutzen das melodramatische Level auf realistisches Niveau.
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Valerian
rbr. Geniales Comic-Kino. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht eine Comicverfilmung ins Kino gelangt, Das Marvel-Universum scheint unerschöpflich – von «Captain America», den «X-Men» und «Guardians of the Galaxy» bis zur aktuellen «Spider-Man: Homecoming»-Version. Aus einer anderen Comic-Ecke kommt «Wonder Woman», eine Fantasy-Ausgeburt der DC Comics (siehe Filmtipp). Weniger bekannt und uns doch näher, zumindest geografisch, ist die französische Comicserie «Valérian et Laureline» von Pierre Christin (Text) und Jean-Claude Mézières (Zeichnungen), die vor 50 Jahren erstmals erschien. Der agile, umtriebige Filmemacher Luc Besson («Léon», «The Fifth Element») hat sich des Stoffs angenommen und die ausufernde Geschichte zwischen Welten und Wesen, realen und virtuellen Ebenen, um Menschen und Aliens, guten wie bösen, auf die Leinwand gebannt. Im Gegensatz zu amerikanischen Comicverfilmungen begnügt sich Besson nicht mit technischen Raffinessen (die werden selbstredend natürlich zuhauf vorgeführt), mit SF-Spekulationen und bombastischem Brimborium, sondern nimmt sich Zeit für Mensch und Moral (soweit sie heute noch vorhanden ist), für Gefühle, Verständnis und Versöhnung. Seine SF-Action- und Abenteuerreise ist sprunghaft, verquert, verstörend und nicht immer nachvollziehbar, aber spannend, unterhaltend und reich bestückt – auch mit Zitaten aus der Welt des SF- und Fantasy-Kinos – von «Planet der Affen» über «Star Wars» bis zu «Avatar». Irgendwann in ferner, ferner Zukunft, im 28. Jahrhunderte oder so, ist das Agentenpärchen Valérian (Dane DeHaan) und Laureline (Cara Delevingne) damit beschäftigt, Sondermissionen im Sinne von Recht und Ordnung auszuführen. So reisen sie durch Zeit und Raum auch zum Planeten Alpha, eine gigantischen 17-Millionen-Wesen-Metropole, wo Spezies des Universums («Star Wars» lässt grüssen) sich zusammengefunden haben. Es gibt sie also doch, eine Welt, einen Lebensraum («Die Stadt der tausend Planeten»), wo Menschen wie Aliens nebeneinander und miteinander leben. Doch das ist nicht das Kernthema dieser Raum-Odyssee. Es geht um Überlebende des Planeten Mül, der von Menschen unter Verantwortung des Commanders Arun Filitt (Clive Owen) ausgelöscht wurde, es geht um die menschenähnliche Rasse der Pearls («Avatar» lässt grüssen). Diese wollen ihren Heimatplaneten wiederherstellen und kidnappen den besagter Commander. Der vorwitzige Valérian, Verführer mit Machoambitionen, und Laureline, selbstbewusste, emanzipierte Partnerin, kommen den Machenschaften auf die Spur und entwickeln Verständnis für die vertriebenen Pearls. Es ist fast voraussehbar, dass das Agentenpärchen tatsächlich zum Liebespärchen wird, aber das ist nur ein emotionales Element wie der Part der Gestaltenwandlerin Bubble, spektakulär von Rihanna verkörpert. Eine Augenweide. Wer weiter genau hinsieht, wird einige bekannte Gesichter erkennen – so Herbie Hancock als Verteidigungsminister, Ethan Hawke als Revue-Impresario Jolly oder Rutger Hauer («Blade Runner») als Präsident der Föderation. Es gibt vieles zu entdecken und zu hören, so auch der musikalische Prolog mit David Bowies Major-Tom-Ode «Space «Oddity». Je nach Resonanz und Erfolg lässt Luc Besson offen, ob er das 180-Millionen-Dollar-Abenteuer fortsetzen wird. Valérian und Laureline bieten Stoff genug – aus 22 Comicbänden.
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Spider-Man: Homecoming
rbr. Teenie-Verschnitt. Der Spinnenmann geistert seit 40 Jahren durch die Kinos. Zwischen 2002 und 2007 schlüpfte Tobias Maguire in das berühmte Kostüm. 2010 startete die Reihe «The Amazing Spider-Man», die es auf zwei Filme brachte. Dann gab’s Gastspiele bei den «Avengers», und nun wird der Spinnenheld wiedererweckt, als neuer Held lanciert und verkauft. Alter kalter Kaffee: Jung-Spider-Man muss sich mal wieder seine Sporen abverdienen – und bekanntem Techtelmechtel mit Liz (Laura Harrier). Youngster Peter Parker (Tom Holland) muss quasi in sein Kostüm hereinwachsen unter gütiger und harscher Aufsicht seines Mentors Tony Stark (Robert Downey jr.), der auch als Iron Man eingreift bei Not am Mann. Als fieser Gegenspieler versucht Adrian Toomes (Michael Keaton) alias Vulture, der zu allem Übel auch noch als Liz‘ Vater auftrumpft, Peter schachmatt zu setzen. «Homecoming» ist die «Spider-Man»-Variante überschrieben oder anders gesagt: Ein Teenager findet sich und seine Retterrolle. Das mag Kinokids, die nun auf den «Spider-Man»-Zug aufspringen sollen, noch halbwegs interessieren. Doch Regisseur Jon Watts bietet mit diesem Teenie-Aufguss wenig Neues und Reizvolles für Kinokenner. Man merkt seinem über weite Strecken langweiligen Comicverschnitt mit einem unschuldig blassen Tim Holland als Spider-Youngster an, dass «Homecoming» nur als Vehikel dient, um weitere Kombinationen im Marvel-Universum zu lancieren. Überflüssig.
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Wonder Woman
rbr. Amazone im Ersten Weltkrieg. Auf eine mehr oder weniger Comicadaption fürs Kino kommt es nicht an, dachten sich wohl die Produzenten und hievten «Wonder Woman» aus dem Verlagshaus DC Comics auf die Leinwand. Die Superfrau mit der Amazonen-Identität tauchte kurz mal bei «Superman: Dawn of Justice» auf und erhält nun eine Soloshow.
Umständlich wird die Figur Diana eingeführt – mit einem verblichenen Foto aus dem Ersten Weltkrieg. Hier erkennt man eine Amazone mit Soldaten. Wie es dazu kam, erzählen Patty Jenkins (Regie) und Allan Heinberg (Drehbuch). Wir landen auf einer «seligen» Mittelmeerinsel, wo Königin Hippolyta (Connie Nielsen) umsichtig über ihre Amazonen herrscht, bis der britische Pilot Steve Trevor (Chris Pine) notlandet und der Krieg, sprich deutsche Soldaten, die Idylle «aufmischen». Die Amazonen mit Pfeil und Bogen, Speeren und Schwertern haben keine Chance, allein die Königsprinzessin Diana (Gal Gadot) überlebt. Sie soll der Legende nach, von Göttervater Zeus geformt, die Kraft dank des Schwertes «Gotttöter besitzen, den Kriegsgott Ares zu stoppen. Und den vermutet sie im deutsche General Ludendorff (Danny Huston) samt seiner teuflischen Chemiewissenschaftlerin Dr. Maru (Elena Anaya), die ein verheerendes Giftgas entwickelt. Diese kurze Beschreibung zeigt, dass nicht nur Kritikerkollegen, sondern auch Zuschauer ob der Geschichtsebenen und mythologischen Gestalten überfordert sind. Dank Gal Gadot als schöne Diana-Gestalt, die übrigens mit der Göttin der Jagd nichts zu tun hat, wurde das Fantasymachwerk von Patty Jenkins mit vielen Lorbeeren überschüttet. Doch das Action-Comic-Spektakel, das mit den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieg und der Geschichte spielt, mit angedichteter Liebesgeschichte und wirrem Mythosmix, ist überladen, visuell manipuliert und haarsträubend. Und wenn die Regisseurin meint, mit «Wonder Woman» ein Actionspektakel gegen Krieg und Gräuel zu liefern, ist das nichts als verlogen und hirnrissig wie der ganze Film
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The Eagle Huntress
rbr. Ein Mädchen allein unter Männern. Dokumentarische Bilder sagen oft mehr als noch so raffiniert ausgedachte und inszenierte Geschichten, beispielsweise über Mensch und Natur, Männergesellschaften und Emanzipation. Der Brite Otto Bell hat sich mit seinem Team tief in die Mongolei begeben, ins Altai-Gebirge. Im Blickpunkt steht das 13jährige Mädchen Aisholpan. Ihre Nomaden-Familie ist seit Generationen der Adlerjagd verpflichtet. Das bedeutet: Männer fangen junge Bergadler, gewöhnen sie an Menschen und richten sie als Jäger ab. Das kasachische Mädchen ist davon fasziniert, will ihrem Grossvater und Vater nacheifern. Ihr grösster Wunsch: Eine Adlerjägerin zu werden. Doch die Traditionalisten sprechen ihr die Fähigkeit ab. Noch nie ist eine Frau, ein Mädchen in diese Männerdomäne eingebrochen. Doch Aisholpan ist zäh und zielstrebig, unterstützt von ihrem Vater Nurgaiv. Den Segen ihres Grossvaters hat sie auch. Und so tritt sie gegen die männlichen Adlerjäger beim Golden Eagle Festival an, einem vielbeachteten Ereignis in Ulgii. Doch die Bewährungsprobe wartet erst im eisigen Winter auf, wenn sie mit ihrem Adler, vom Grossvater Eisfuss genannt, auf Fuchs-Jagd geht. – Grandios die Bilder von Landschaft und Menschen, Natur und Tier, vielsagend die Geschichte eines Konflikts (Tradition) und Emanzipation (Frau). Bells Film ist ein seltenes Sehereignis. Die Frage um inszenierter Dokumentation erübrigt sich, weil die Botschaft so stark, die Wahrhaftigkeit so authentisch und die Bilder einfach überwältigend sind. Gleichwohl ist die Frage erlaubt Wie haben Bell und seine Team das nur gemacht, die Bilder eingefangen? Diese Frage ist ebenso spannend wie die knapp 90 Minuten auf der Leinwand. Übrigens, als Erzählerin in der deutschen Version ist Jaël, Ex-Sängerin der Schweizer Band Lunik, zu hören.
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Miss Sloane
rbr. Die eiskalte Drahtzieherin. In Zeiten eines mediengeilen US-Präsidenten und grassierender Polit-Manipulationen hätte ein Polit-Thriller wie «Miss Sloane – Die Erfindung der Wahrheit» nicht besser getimet, sprich platziert werden können. Und das ist – sieht man von wenigen Ausnahmen ab – nur in den USA oder Grossbritannien möglich und kinotauglich. Der britische Regisseur John Madden («The Best Exotic Marigold Hotel»), der Drehbuchautor Jonathan Perera und Produzent Ariel Zeitoun («Bandidas») stellen eine Frau in den Fokus, die besessen und kaltblütig, skrupellos und raffiniert Männer aufs Kreuz legt, ehe die sich versehen. Nicht als Objekt der Begierde, sondern als Lobbyistin. Elizabeth Sloane (Jessica Chastain) ist die Amazone, welche die Waffen der Waffenindustrie zu schmieden weiss und ein unliebsames Gesetz Waffengesetz in den Staaten verhindern könnte. Doch dann überwirft sie sich mit der Kanzlei Dupont, welche das Mandat für die Waffenproduzenten übernommen hat, und wechselt die Seiten. Miss Sloane hat keine Gewissensbisse oder moralische Bedenken, zur «Pazifistin» zu werden. Die Männer wundern sich und die Zuschauer auch. Doch eine schwache Stelle, von den Gegnern entdeckt und skrupellos ausgenutzt, scheint sie zu Falle zu bringen. – Beim perfiden Thriller (und Chrakterstudie) geht es nur vordergründig um einen Gesetzesentwurf zur Einschränkung des Schusswaffenverkaufs, im Zentrum steht eine Frau, die sich des männlichen Instrumentariums und einer «Moral» bedient und der Erfolg über alles geht. Der packende Spielfilm nimmt eine mächtige US-Lobby (in Europa wäre das vielleicht die Autolobby oder beträfe andere Wirtschaftsbereiche) aufs Korn, skizziert ein bedenkliches Politnetzwerk und fragwürdige Intentionen. Massgeblichen Anteil an der Faszination und Dramatik einer eher sachlich-langweiligen Thematik hat die titelgebende Heldin «Miss Sloane», brillant verkörpert durch die amerikanische Schauspielerin Jessica Chastain («A Most Violent Year», 2014), die unglaublich kühl und unberechenbar die Männer aufmischt, gleichzeitig aber ihre Gefühle und Sexbedürfnisse hinter einer eisernen Fassade verbirgt. Insofern ist sie durchaus vergleichbar mit Nicole Kidman als eiskalte Südstaaten-Lady in «The Beguiled». Einfach Klasse.
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Es war einmal in Deutschland
rbr. Zwischen Grauen und Grinsen. Man nennt es Galgenhumor. Doch so abgründig schwarz, bitterböse bissig und gleichzeitig tragisch wie in den Büchern «Die Teilacher» (2010) und «Machlokes» (2011) von Michel Bergmann kann kein Film sein. Der Belgier Sam Garbarski («Irina Palm») tut sein Bestes, er scheitert zwar nicht, überzeugt aber phasenweise. Oft gelingt ihm der Balanceakt zwischen Grauen und Grinsen. Es geht um Überlebende des Holocaust – 1946/47 in Frankfurt am Main. Der jüdische Kaufmann David Bermann (Moritz Bleibtreu) versucht in der deutschen Trümmerlandschaft, wieder auf die Beine zu kommen und das Wäschegeschäft seiner Eltern Gebr. Bermann wiederzubeleben. Schwarz sozusagen, denn eine Lizenz zum Handel bekommt er von den amerikanischen Besatzern nicht. Im Gegenteil, er wird als Nazi-Günstling und Kollaborateur im KZ verdächtigt und muss vor der US-Ermittlerin Sara Simon (Antje Traue) aussagen. Unverdrossen schart Bermann eine Handvoll jüdischer Überlebender (unter ihnen der Schweizer Anatole Taubman als Fränkel – dezent und markant) um sich, um Wäsche à la Français unter das leichtgläubige Volk, sprich deutsche Hausfrauen, zu bringen. Die fliegenden Händler sind trickreich, spitzbübisch schlau, doch den ansehnlichen Ertrag, mit dem die Schar die Ausreise nach Amerika finanzieren will, wird ihnen von einem Schwarzmarkt-Konkurrenten (Joel Basman) geklaut.
David, seine Geschichte, seine Überlebensstrategie (Witze erzählen!) sind der rote Faden dieser Tragikomödie. Mag die Kulisse auch teilweise künstlich wirken, mag die jüdisch-amerikanische Liaison auch vorhersehbar sein, mögen einzelne Figuren wie diejenige, welche einen SS-Mörder erkennt, zur Rache anstiftet und daran zerbricht, weil man vermeintlich den Falschen getroffen hat, auch oberflächlich bleiben, doch der Film hat Mut und Format. «Es war einmal in Deutschland» beschreibt jüdisches Überleben in Nachkriegs-Deutschland. 4000 jüdische Menschen sollen es dazumal gewesen sein. David ist geblieben, denn er wollte das Wäschehaus seiner Eltern nicht den Deutschen überlassen, meint er verschmitzt. Auch Moritz Bleibtreu ist geblieben – in Erinnerung als flunkernder Händler und Geschichtenerzähler. Selten hat man ihn so schalkhaft und melancholisch, überlebenswitzig und tieftraurig zugleich gesehen. Eine Tragikomödie mit Herz und Verstand
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The Beguiled – Die Verführten
rbr. Der Wolf und sieben Frauen. Ein verletzter Mann, ein Feind unter Frauen, die ihn aus Nächstenliebe betreuen, pflegen und anhimmeln. Das kammerspielartige Drama «The Beguiled» (Betrogen) wurde 1971 von Don Siegel nach dem Roman von Thomas Cullinan verfilmt – mit Clint Eastwood und Geraldine Page in den Hauptrollen. Nun hat sich Sofia Coppola diese Geschichte aus dem Sessionskrieg (1861-1865) angenommen. Virginia 1864. Die elfjährige Amy findet beim Pilzesuchen den am Bein schwerverletzten Corporal John McBurney (Colin Farrell), ein Yankee, also ein Nordstaatler, ein Feind im tiefsten Südstaatengebiet. Sie schafft ihn in ein abgelegenes Mädchenpensionat, eine Idylle geradezu in Kriegszeiten. Hier lebt sie zusammen mit vier anderen Mädchen, der strengen Leiterin Miss Martha (Nicole Kidman) und der Lehrerin Edwina (Kirsten Dunst). Verantwortungsvoll pflegen die Frauen den «Feind» und verbergen ihn vor Soldaten der Südstaatenarmee. Denn John McBurney ist nicht nur hilflos, sondern auch attraktiv und wird mit zunehmender Genesung immer charmanter und verführerischer. Teenager Alicia (Elle Fanning) verliebt sich in den Gast. Aber auch die vereinsamte Edwina hat ein Auge auf den Verletzten geworfen, erhofft sich Erfüllung und Freiheit. Selbst die reife Martha ist einem Tête-à-tête nicht abgeneigt. Edwina fühlt sich von John verstanden und verraten, als sie ihn im Bett des Teenagers Alicia findet. Sie rastet aus. Dessen Bein ist wird infolge eines Sturzes so schwer lädiert, dass sich Martha gezwungen sieht, es zu amputieren. Der Soldat ist ausser sich und wird zur Gefahr für die Gemeinschaft.
Bereits mit ersten Einstellungen (Kamera: Philippe Le Sourd) werden Fährten gelegt, eine Spannung, eine unheilvolle Atmosphäre aufgebaut von Neugierde, Neid und erotischer Begierde. Lust keimt – nach Abenteuer, Ausbruch, Erfüllung. Allein Nicole Kidman als Martha kann ihre Gefühle unterdrücken, bewahrt kühle Kontrolle und sieht im Fremdling den Wolf, der ihre Schärflein bedroht. Den bösen Verführer und Lüstling nimmt man Farrell nicht ganz ab, vielleicht ist er es auch nur in Marthas Wahrnehmung. Man fragt sich, wer verführt wen: Wird der Mann nur lästig oder ist er der Wolf, der seine Opfer reisst? Verführen die Frauen den Gast, der zum Objekt der Begierde wird? So oder so – Sofia Coppola gelang ein bemerkenswertes Remake, in dunkle nostalgische Bilder getaucht, das sich als eiskalte Racheaktion entpuppt. Selten sah man Nicole Kidman so diszipliniert sinnlich und abgründig kalt. Da wird die Idylle zum Schauderschauplatz.
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Centaur
rbr. Verlust alter Werte. Da reitet einer durch Nacht und Wind…nein, es ist nicht Goethes «Erlkönig», sondern der Kirgise Zentaur. Er fühlt sich als Nachkomme der Zentaur, halb Mensch, halb Pferd, und glaubt, dass die Kirgisen von eben jenen mythischen Zentauren abstammen, aber unter einem Fluch leiden, weil sie die Tiere verraten und zur Ware degradiert haben. Zentaur (Aktan Arym Kubat, der Regisseur selbst) war einst Filmvorführer, lebt jetzt mit seiner gehörlosen Frau Maripa (Zarema Asanalieva) und seinem kleinen Sohn Nurberdi in einer abgeschiedenen Bergregion bei Bischkek, der Hauptstadt Kirgisiens. Das Kino wurde längst geschlossen, doch die Phantasie lebt weiter – bei Zentaur. Ansonsten haben Materialismus, Misstrauen und Missgunst Einzug gehalten. Die Werte haben sich gewandelt. Pferde, einst Lebensgefährten und Verbündete, sind Spekulationsobjekte und Ware geworden. Zentaur glaubt, dass deswegen ein Fluch über seinem Volk liegt. Nur der Ritt mit einem edlen Ross in einer Vollmondnacht könnte den Schutzherrn der Pferde bewegen, den Fluch zu bannen. Ein Pferdedieb treibt sein Unwesen. Eigentümlich nur, dass die Pferde nicht entführt und verschachert werden, sondern frei gelassen wieder auftauchen. Es braucht nicht viel Phantasie, um die Identität des Reiters auszumachen. Ihm stellt man eine Falle. Er wird geschnappt, die Dorfversammlung verurteilt ihn. Mythos, Tradition und unerbittliche Realität – der kirgisische Regisseur Aktan Arym Kubat, Autor und Hauptdarsteller in einer Person, inszeniert eine Parabel über Mensch und Tier, Mythos, Moral und Menschsein. Die Bilder vom entfesselt reitenden Zentaur ist Ausdruck einer Freiheit, die er zurückerobern möchte, indem er quasi gegen einen mythischen Fluch anreitet. Der Träumer, der an eine Legende glaubt und ihr nachlebt, wird in die Schranken gewiesen, und doch kann er ein Zeichen setzen gegen moderne «Werte». Ein wunderbarer allegorischer Spielfilm über Verrat und Verlust.
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Paris pieds nus
rbr. Ein Landei in Paris. Die Seine und Paris sind immer eine Reise wert, und manchmal liegt New York auch an der Seine. Das Duo Abel (Dominique Abel ist Belgier) und Gordon (Fiona Gordon, Kanadierin aus Australien) schickt eine Landpomeranze in die französische Metropole. Tollpatsch Fiona (Fiona Gordon) aus einem eisigen kanadischen Nest begibt sich nach Paris, um ihrer bedürftigen Tante Martha (Emmanuelle Riva) beizustehen. Klar, das unbeholfene Huhn aus der Provinz verirrt sich in Paris. Die Tante ist verschwunden, und Fiona verliert ihren Rucksack samt Habseligkeiten. Sie gerät an den Clochard Dom (Dominique Abel) und den vagabundierende tanzfreudigen Retter Norman (Pierre Richard), der sich ihren Rucksack angelt und sich prompt in das bebrillte Landei verliebt. Schräg ist gar kein Ausdruck, um diese Seine-trächtige Komödie, in der auch die berühmte Freiheitsstatue eine Rolle spielt, nur annähernd zu beschreiben. Einen chaotischen Jux im Slapstickstil wollte sich das Duo Abel & Gordon wohl machen – mit all den touristischen, aber auch versteckten Parisern Zutaten, mit Schalk, merkwürdigen Begebenheiten und punkigem Charme. Die Überraschung: Der Klamauk mit Herz funktioniert und amüsiert. Gleichzeitig kann man ein Wiedersehen mit Pierre Richard feiern, dem bekannten «Grossen Blonden mit dem schwarzen Schuh» aus den Siebzigerjahren. Der Komiker, im August 83 Jahre alt, mag für viele kaum wiederzuerkennen sein, funktioniert aber wie eh und je als beherzter Clown – und ist auch in der aktuellen Kinokomödie «Monsieur Richard geht online (Un profil pour deux)» zu sehen.
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Fai bei sogni
rbr. Ein langer Weg zur Erlösung. Sie sind ein Herz und eine Seele, die Mutter (Barbara Rochi) und ihr neunjähriger Sohn Massimo (Nicolò Cabras). Sie scherzen zusammen, begeistern sich am Fernsehen und der Serie um das Phantom «Belphégor». Der Vater (Guido Caprino) ist eingefleischter Torino-Fan. Man wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Fussballstadion Ende der Sechzigerjahre. Abends wird der Knabe liebevoll mit mütterlichen Wünschen in den Schlaf geschickt: «Fai bei sogni – Träum was Schönes». Doch eines Morgens ist die Mutter verschwunden, ein Verlust, den der Junge jahrzehntelang nicht überwinden wird. Massimo (Valerio Mastandea) ist erfolgreicher Reporter und Kolumnist bei der Turiner Zeitung «La Stampa» geworden und findet auch 30 Jahre nach dem Tod seiner Mutter keine innere Ruhe. Marco Bellocchios Drama, basierend auf dem autobiografischen Roman Massimo Gramellinis, schlüsselt das persönliche Dilemma des mutterfixierten Journalisten in Rückblenden auf. Im Jahr 1999 wird Massimo mit Erinnerungen konfrontiert, als er die Wohnung seines verstorbenen Vaters auflösen muss. Bilder, Erinnerungsstücke und der TV-Dämon «Belphégor» tauchen auf. Der Vater hat ihm ein Geheimnis vorenthalten. Massimo wird mit einer Wahrheit konfrontiert, die man ihm vorenthalten hat. Er wird von einer Panikattacke heimgesucht. In die (bildhübsche) Therapeutin Elisa (Bérénice Bejo), seiner Mutter nicht unähnlich, verliebt er sich prompt. Sie rät ihm, sich und seiner Vergangenheit zu stellen. Die Verschränkungen, Verschlüsselungen und Sprünge des Films ziehen sich zwar über zweieinviertel Stunde hin, stiften aber keine Verwirrung, sondern sind in sich schlüssig. Der grosse Zeitraum von Mitte der Sechzigerjahre bis 1999 wird durch gestreute Zeitereignisse akzentuiert. Der italienische Altmeister Bellocchio hat sich einmal mehr seinem Lieblingsthema zugewandt, der Familie, den Verzahnungen, Tragödien. «Fai bei sogni» ist nicht nur ein Drama über Vertuschung und Verlust, sondern auch über eine unbewältigte Vergangenheit, über Mut zur Wahrheit und fehlgeleitete Liebe.
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Gute Tage
rbr. Das kann jedem passieren: Eines Tages verliert man seine Kraft, die Kontrolle über seinen Körper, Hände und Beine funktionieren nicht mehr so, wie der Kopf will. Ein Unfall, ein gesundheitlicher Rückschlag, eine Folge des Alterns. «Das muss nicht unbedingt etwas Negatives sein, wenn es mit dem Alter etwas weniger wird», meint Schang Hutter, Solothurner Lithograf und Plastiker, anlässlich einer grossen Ausstellung in Bern zu seinem 80. Geburtstag. «Es kann sich auch positiv etwas verändern und positiv weniger werden. Das wäre nicht schlecht, das wäre ja wieder ein Fortschritt, wenn es positiv weniger wird.» Schang Hutter musste sein Atelier in Genua aufgeben und richtete sich in seinem «Fabrikli» in Attiswil neu ein. Langsam, aber mit Ausdauer. Streifungen haben zu Sprachschwierigkeiten und Geheinschränkungen geführt. Eine Rückenoperation wird notwendig. Doch er lässt sich nicht unterkriegen – die grosse Ausstellung vor Augen. Auch Boris Mlosch, Plastiker, Radierer aus Uster, kann nicht mehr so an seinem Bild arbeiten wie früher. Er setzt Schmerzmittel ab, um ein Bild zu vollenden. Er nimmt die Schmerzen in Kauf, um weiterzukommen. Auch Renate Flury aus Weinfelden setzen Ermüdungen zu, sie muss häufiger Pausen in ihrem Atelier einlegen. Sie spürt den Verlust, muss Abschied nehmen von Sachen, die früher selbstverständlich waren. Sie weicht notgedrungen auf den Computer aus, formt Objekte aus Ton, macht weiter und kommt zur Erkenntnis: «Ich möchte meine Stärken leben! Künstlerin sein – ein bisschen weise seine und ein bisschen Kind sein – beides.» Der Zürcherin Cristina Fessler geht es nicht gut und hofft, dass sie bald wieder bei Kräften ist. Dann könne der Filmer Graf kommen und ihre Arbeit an den Bildern verfolgen, sobald sie einen guten Tag hätte. Doch der kommt nicht. Der Zürcher Plastiker Daniel Pestel, seit einer Hirnblutung halbseitig gelähmt, hat früher mit Holz gearbeitet und monumentale Werke geschaffen. Nun konzentriert er sich auf kleine Objekte, etwa mit Blättern, wobei er auf die Hilfe seiner Frau Marie-Louise Tschuor vertraut. «Ich muss sie immer wieder bitten, ihre Hände zu verleihen.» Ein schwieriges, aber ein erfülltes Leben trotz Einschränkungen. Und das ist quasi der Leitfaden dieser Filmarbeit des Dokumentaristen Urs Graf (77): das Prinzip Hoffnung und der Wille, dem Leben einen Sinn zu geben – trotz Rückschlägen, Einschränkungen, Behinderungen, Schwächen. Das Thema hätte leicht zur Trauerarbeit werden können, doch Urs Grafs jüngster Dokumentarfilm setzt bereits mit dem Titel «Gute Tage» dagegen, sieht auch im Verlust, in dem Weniger etwas Positives. Er, selbst leicht durch ein Beinleiden handicapiert, macht mit seinen intimen Begegnungen Mut: Zeugnisse (fast) ungebrochener Kreativität – über einen Zeitraum von drei Jahren gesammelt.
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Photo/Film