«Geschichten unerfüllter Liebe»
Von Rolf Breiner
Viermal war das ausserordentliche Kammerspiel «In den Gängen» für den Deutschen Filmpreis nominiert worden, einmal wurde es ausgezeichnet – Hauptdarsteller Franz Rogowski gewann eine Lola. Wir sprachen mit Regisseur Thomas Stuber und Schauspieler Franz Rogowski anlässlich einer Vorpremiere in Zürich.
Der Spielfilm «In den Gängen» von Thomas Stuber basiert auf der Erzählung von Clemens Meyer, der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat. Die Stories «Die Nacht, die Lichter» erschienen 2008 (S. Fischer Verlag). Schauplatz sind Lagerhallen und Gänge eines Grossmarkts. «Bevor ich Warenverräumer wurde und meine Abende und Nächte in den Gängen des Grossmarkts verbrachte, Regale einräumte, Warenpaletten mit dem Gabelstapler von hoch oben aus den Lagerregalen holte, ab und an einen der letzten Abendkunden beriet und alle möglichen Arten von Lebensmitteln kennenlernte, hatte ich paar Jahre auf dem Bau gearbeitet», beginnt Christian seine Geschichte vom Leben «In den Gängen». Frischling Christian (Franz Rogowski) lernt das Handwerk mit gütiger Unterstützung von Kollege Bruno (Peter Kurth). Er begegnet der verheirateten Marion (Sandra Hüller, Deutscher Filmpreis), die in der Süsswarenabteilung arbeitet – und verliebt sich. Man kommt sich näher, in «Sibirien», der Tiefkühlabteilung. Doch dann wird Marion krank, und Bruno bleibt weg. Thomas Stober (37) aus Leipzig hat diese Erzählung inszeniert: Ein spröder und lakonischer Liebesfilm mit viel Herz und Hintersinn, in Berlin 2018 mit dem Preis der Ökumenischen Jury und dem Gilde Filmpreis ausgezeichnet.
Thomas Stuber: Filmer für leise Geschichten
Stuber hatte bereits bei den früheren Verfilmungen «Von Hunden und Pferden» (2012, Silberner Studenten-Oscar) und «Herbert» (2015) mit Clemens Meyer (Preis der Leipziger Buchmesse, 2008) zusammengearbeitet. Thomas Stuber studierte an der Filmakademie in Baden-Württemberg, wo ja auch der Schweizer Stefan Jäger (Produzent bei «Blue My Mind») lehrte, Regisseur Stuber wohl bekannt.
Wie haben Sie sich gefunden?
Thomas Stuber: Die erste Arbeit mit ihm war meine Abschlussarbeit «Von Hunden und Pferden». Da hat er auch eine kleine Rolle gespielt. Clemens ist ein grosser Pferdeliebhaber, ein Fan des Galopp-Rennsports. So haben wir uns kennengelernt.
Taucht denn Clemens Meyer auch «In den Gängen» auf – und als was?
Er hat einen kleinen Cameo-Auftritt und spielt den Mann der Marion, der Arbeiterin in der Süsswarenabteilung.
In Ihrer «Regievison» zum Film schreiben Sie, dass diese Kurzgeschichte Sie sofort gepackt hat. Ihr Wunsch war es, diesen Stoff unbedingt zu verfilmen. Wie entwickelte sich die Arbeit mit dem Autor Meyer, wer hatte die Federführung?
Die Zusammenarbeit ist über Jahre bei den Projekten gewachsen. Ich habe mal gehört, dass es bei Coen-Brüdern ähnlich ist. Es gab keine Federführung. Die Arbeit hat wahnsinnig viel mit reden zu tun. Es ist nicht so, dass jeder etwas schreibt, das dann zusammengefügt wird. Das funktioniert am Tisch wie wir hier jetzt. Man redet über den Stoff, nimmt ihn auseinander. Clemens kommt vom literarischen Standpunkt und ich vom handwerklichen, drehtechnischen Standpunkt her.
Man findet tatsächlich Meyers Kurzgeschichte im Film punktuell genau wieder.
Ich wollte bei der Verfilmung nicht viel verändern. Ich fand ja die Atmosphäre der Geschichte genial. Die Schwierigkeit war dann, wie man das Literarische ins Filmische transportiert – das Karge, die Auslassungen etwa. Das ist ein zentrales Merkmal der Prosa Clemens Meyers, die Auslassungen, die Andeutungen, die Ellipsen, die grossen Sprünge. Und der Zuschauer sollte bei meinem Film diese Lücken und Auslassungen selber füllen. Zum Beispiel die mutmasslichen Misshandlungen der Marion. Ein Gerücht wird transportiert, ob das wirklich stimmt, lösen wir nicht auf.
In der Kurzgeschichte erzählt Christian selber. Sie arbeiten mit einer Voice-over-Stimme, gehen quasi auf Distanz.
Wir wollten eine beobachtende Position einnehmen, wollten nicht eingreifen, sondern das Ganze schweben und die Figuren sich in diesem Grossmarktraum, in diesen Gängen bewegen lassen.
Der Schauplatz ist ein prägendes Element, ein Grossmarkt als Lebens- und Begegnungsraum. Er spiegelt Innen- wie Aussenwelt dieser Menschen wieder.
Er ist eine kleine Stadt. Die ganze Welt spielt sich für diese Menschen im Grossmarkt ab. Sie schaffen sich diesen geschützten Raum, auch weil sie glauben, dass sie draussen nicht mehr dazugehören. Hier ist Geborgenheit, draussen ist Einsamkeit und Kälte. Die Gänge im Grossmarkt sind wie Strassen mit Verkehr, es gibt Schluchten, Viertel mit Getränken oder Süsswaren, es gibt Liebe und Gerüchte und Betrügereien.
Im Nachspann taucht der Name Hamberger, Grossmarkt für Gastronomie und Handel, auf. Es gibt fünf davon in Deutschland. Wo haben Sie gedreht?
In Bitterfeld und Wittenberg. Die beiden Grossmärkte haben wir mit einem anderen Schauplatz zu einem zusammengefügt.
Ganz leise wird bei Bruno, dem gutmütigen Kumpel Christians, die vergangene DDR angesprochen. Bruno trauert seiner Arbeit als Fernfahrer nach, ihm ist etwas verloren gegangen. Das haben Sie hinzugefügt…
Eine Drehbuchidee neben dem Besuch Christians bei Marion. Man soll etwas von der Einsamkeit Brunos begreifen.
Der «Frischling», der zum Gabelstapler wird, und die Süsswaren-Prinzessin – wann kamen die beiden Schauspieler ins Spiel?
Die Figur der Marion haben Clemens und ich für Sandra Hüller geschrieben, das war uns beim Schreiben klar. Beim Christian, dem Schweigsamer, war es schwieriger. Franz Rogowski war mir zwar ein Begriff, aber erst beim Casting, im Spiel mit Sandra Hüller, waren wir überzeugt.
«In den Gängen» ist eine verhaltene stille Liebesgeschichte. Typisch ist dabei die Eskimo-Kussszene in «Sibirien». Am Ende erleben die beiden das Meeresrauschen beim Gabelstapeln. Wie haben Sie es selber empfunden: Fantasy, Träumerei?
Das ist Phantasie, die Realität gibt das nicht wieder. Auch wenn wir versuchen, eine grosse Wahrhaftigkeit zu erzielen, und doch: Das ist alles ausgedacht – ein Spielfilm. Das Meeresrauschen ist Symbol für Sehnsucht, für Freiheit und Sich-an-einen-anderen-Ort-Wünschen.
Ihr Film hat viel Poesie, erzählt von Liebe (ohne Sex), Freundschaft im Stillen, Kollegialität und Solidarität.
Absolut. Es ist ein Film, den Menschen sehr zugewandt, ein humanistischer Film.
Ein Hauch von Tragik schwebt gleichwohl darüber. Man sieht sie nicht direkt, spürt sie aber. Schwingt da auch ein wenig DDR-Bewältigung mit?
Ich bin 1981 in Leipzig geboren und war sieben, als die Mauer fiel. Ich mache keine DDR- oder Wendefilme. Das ist nicht mein Thema. Was mich aber interessiert, ist die Post-Wende, also die Zeit nach der Wende – die Orte, Landschaften und Menschen. Ich habe keinen politischen Film gemacht, glaube aber, dass jede Kunst politisch ist. Ich gebe mit diesem Film einen Kommentar über die Menschen dort ab, gebe ihnen eine Stimme. Ja, diese Menschen fühlen sich abgehängt und nicht mehr zugehörig.
Franz Rogowski: «Experte für unerfüllte Liebe»
Er ist ein stiller Vertreter der Schauspielergilde. Seine Lippe ist gespalten, er lispelt ein wenig, spricht aber nicht mit «gespaltener Zunge», wie der Indianer bemerken würde. «Mein Markenzeichen», kommentiert er emotionslos bei unserem Interview. Franz Rogowski, Schauspieler aus Freiburg i.Br. ist offen, direkt, schnörkellos. Er hat seine ersten «mimischen» Schritte in Dimitris Teatro im Tessin gemacht und sich als Strassenclown während des Filmfestivals Locarno versucht – vor etwa zwölf Jahren. Der 32jährige Freiburger erlebt derzeit einen Höhepunkt als Schauspieler. In Berlin wurde er bei den Filmfestspielen als deutscher «Shooting Star» gefeiert, neben neun anderen Kollegen und Kolleginnen aus Europa, so auch der Schweizerin Luna Wedler («Blue My Mind»). Er war gleich in zwei Wettbewerbsfilmen präsent: «Transit» und «In den Gängen». Für letzteren ist er als bester Hauptdarsteller mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet worden.
Christian Petzold hat Anna Seghers‘ Roman (1940) «Transit» verfilmt und ins heutige Marseille transferiert. Menschen auf der Flucht, die deutschen Besatzer rücken näher. Georg (Franz Rogowski) nimmt die Identität eines Schriftstellers an, der sich das Leben genommen hat, und trifft auf Marie (Paula Beer), die auf ihren Mann, den Schriftsteller, wartet, um nach Mexiko zu fliehen. Georg verliebt sich in sie. Ein intimer Film über verlorene Existenzen und Flucht, Hoffnungen und Verzicht.
Nach der Berlinale, wo Sie als «Shooting Star» vorgestellt wurden, nun der Deutsche Filmpreis. Was machen Sie jetzt?
Wir hatten eine Theaterpremiere an den Kammerspielen in München: «No Sex» von Toshiki Okada. In den nächsten zwei Monaten bin ich hauptsächlich in Italien zu Dreharbeiten in einer deutsch-italienischen Produktion. Mehr kann ich darüber noch nicht sagen.
Aktuell sind Sie in den beiden Kinofilmen «In den Gängen» und «Transit» zu sehen, beide beruhen auf Literaturvorlagen. Wie sind Sie an die Rolle als Gabelstapler Christian herangegangen?
Ich habe einen Staplerschein gemacht. Der Gabelstapler hat mich im ganzen Film «In den Gängen» begleitet, er wurde quasi mein bester Freund.
Ihre Figur, dieser Christian, ist ein stiller Einzelgänger im Mikrokosmos einer Grossverteiler-Gemeinschaft, ein Kumpel mit ungestillter Sehnsucht. Wieviel steckt von Ihnen in dieser Figur?
Man kommt nicht drum rum: Man steckt immer ein Stück weit mit drin und sucht nach einer Verbindung mit dieser Figur. Ich versuche zu verstehen, was diesen Christian antreibt.
Die Geschichte, die Regisseur Thomas Studer erzählt, lässt vieles offen, schafft bewusst Lücken.
Lücken haben etwas Mangelhaftes. Ich finde eher, Thomas kreiert Zwischenräume und zeigt vieles im Unausgesprochenen. Das hat mir gut gefallen.
Im anderen Film «Transit» spielen Sie Georg, einen stillen Zeitgenossen. Schauplatz ist Marseille. Georg, ein getriebener Mann auf der Flucht. Was unterscheidet die beiden Helden?
Beide, Christian wie Georg, haben Gemeinsamkeiten und sind doch sehr unterschiedlich. Christian versucht über den Beruf eine soziale Stellung und einen Platz im Leben zu erkämpfen. Georg ist aus der Zeit gefallen. Er hat die Heimat verloren, vermisst sie aber nicht. Erst die Liebe führt zu Entwicklungsschritten und zum Bedürfnis nach Verantwortung. Georg begreift das Lieben ein Stück weit. Er spürt, dass er die Identität der Frau auf der Suche, die er liebt, zerstört, wenn er sie aufklärt, an sich bindet und egoistisch handelt. Er lernt, jemanden gehen zu lassen – aus Liebe. Das ist die grösste Entwicklung, die er in «Transit» durchmacht. Georg wie Christian verbindet die Liebe, eine unerfüllte Liebe.
Und Sie?
Vielleicht bin ich ein Experte für unerfüllte Liebe – im Film. Privat kann ich das nicht bestätigen.
Wer von den beiden Figuren ist Ihnen näher?
Das kann ich so nicht sagen. Ich wollte auch nicht den Flüchtling spielen – als Phänomen. Es gefällt mir, dass Georg den Krieg aus einer passiven Opferhaltung erleidet. Der Krieg widerfährt ihm. Aber er bleibt ein Stück davon unbeeindruckt. Christian, der Gabelstaplerfahrer, fühlt sehr viel, kann es aber nicht verbalisieren. Das gefiel mir auch bei den anderen Figuren «In den Gängen», weil sie sich sehr spröde, fast nur funktional mitteilen. Grosse Gefühle von Freundschaft, Gemeinsamkeit, Einsamkeit, Liebe kommen nur trocken und gefiltert herüber.
Sowohl Thomas Stubers «In den Gängen» als auch Christan Petzolds «Transit» sind bemerkenswerte deutsche Filme. Wie schätzen Sie diese Filme ein?
Beide sind auf ihre Art Liebesfilme, eine Liebe, die gewissermassen unerfüllt bleibt. Beide bleiben am Ende offen. Die Liebe bleibt möglich.
In welcher Richtung möchten Sie sich als Schauspieler entwickeln?
Mein Wunsch wäre, bei anderen schönen Projekten mitzuarbeiten.
Haben Sie Ihr leichtes Lispeln je als Behinderung empfunden?
Eigentlich nicht. Ein kleines Manko ist, dass ich nicht so eine laute Stimme auf grosser Bühne habe.
Sie sind ausgebildeter Tänzen. Schwebt da etwas nach, würden Sie gern solch eine Rolle übernehmen?
Nein. Die Menschen, die ich spiele, bewegen sich ja permanent. Blicke, Gänge – das sind ja alles physische Vorgänge, die etwas über die Figuren erzählen.
Machen Sie irgendwelches Training?
Ich gehe klettern – mit Hand und Fuss, also Bouldern, das heisst freies Klettern ohne Seil.
Filmtipps
Under the Tree
rbr. Die bösen Nachbarn. Sie können einem das Leben, vor allem das Zusammenleben, richtig verderben und verleiden, die «lieben» Nachbarn, wenn sie sich als nervige Nörgler und Rechthaber, Streithähne und Störenfriede entpuppen. Friedrich Schillers Wort in «Wilhelm Tell» hat nach wie vor seine Gültigkeit: «Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.» Genau darum geht’s im bitterbösen Drama aus Island: «Under the Tree». Der Filmer aus Reykjavik, Hafsteinn Gunnar Sigurðsson, beschreibt, wie ein Riesenbaum, der zuviel Schatten wirft, zum Ärgernis wird und eine Lawine von Gewalttätigkeit lostritt. Es herrscht Kleinkrieg, nicht nur zwischen Nachbarn, sondern auch zwischen Atli (SteinÞór Hróar SteinÞórsson) und seiner Frau Agnes, die ihn rausgeschmissen hat und ihm seine Tochter vorenthält. Atli versucht, bei seinen Eltern Inca (Edda Björgvinsdóttir) und Baldvin (Sigurður Sigurjónsson) Unterschlupf zu finden. Doch damit gerät er in einen Kleinkrieg zwischen Nachbarn.
Der Konflikt eskaliert. Eine Katze verschwindet, dann der Hund der anderen Partei. Während die Katze irgendwann wieder auftaucht, endet der unschuldige Hund als ausgestopftes Exemplar. Doch das ist nur der Anfang in diesem «Sozial»-Drama. Sigurðssonn, den das Fachblatt «Variety» zu den zehn europäischen Filmregisseuren 2012 zählte, die man im Auge behalten sollte, hat auf spröde isländische Art einen alltäglichen Konflikt beschrieben. Doch die heftigen Wortwechsel zwischen den Nachbarn schlagen in Gewalt um. Besonders Atlis Mutter Inga erweist sich als boshaftes Weib und giftet gegen die blonde «Fahrrad-Schlampe» Eybjörg (Selma Björnsdóttir). Der Streit mündetin ein Drama von Shakespear’scher Gewalt. Eine Parabel auf unserer Zeit, mit nationalem wie globalem Konfliktpotenzial. Sigurðssons Kommentar: «Es liegen in unserer Zeit ein paar fürchterliche Sachen in der Luft, und ich glaube, wir haben einen Punkt erreicht, wo ernsthafte Bedrohungen die Existenz unseres Planeten gefährdet. Sehen wir auf das wichtigste, grösste Ereignis unserer Zeit, dann geht es exakt um den Klimawandel. Die ganze Welt müsste sich zusammensetzen und einen sicheren Weg des Lebens finden und gehen. Aber es scheint, dass wir dazu nicht in der Lage sind.» Wohl wahr! Man möchte ergänzen: Wenn schon der Konflikt um einen Baum und dessen Schatten zwischen Nachbarn zum Krieg eskaliert, wohin führt das erst bei Problemen zwischen den Völkern, etwa bei Aufrüstungen und Flüchtlingsfragen?
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The King – Mit Elvis durch Amerika
rbr. Ein Blick zurück mit Blick auf heute. Vierzig Jahre nach dem Tod des Rock’n’Roll-King begibt sich der amerikanische Dokumentarfilmer Eugene Jarecki auf die Spuren der Rocklegende Elvis Presley. Ein Roadmovie durch Amerika und seine Geschichte. Mit dem legendären Rolls Royce, der einst Elvis Presley gehörte. Nun steuert Eugene Jarecki den Odtimer durch die amerikanischen Lande – von New York bis Memphis, dem Elvis-Kultort (Graceland), und Hollywood. Und zwar zur Zeit des US-Präsidentschaftswahl 2016.
Dem US-Dokumentarfilmer geht es nicht um ein nostalgisches Porträt der Kultfigur Elvis, sondern um dessen Schicksal, Karriere, Aufstieg und Fall. Jarecki zieht Parallelen zwischen dem Rockstar, der US-Gesellschaft und Entwicklung in den letzten vierzig Jahren. «Es dämmerte mir», so Jarecki, «dass Elvis‘ Geschichte untrennbar mit dem des amerikanischen Traums verbunden war, aber nicht nur sein Aufstieg. Vielmehr sah ich, dass in der Fülle seines Lebens eine Metapher für den Aufstieg und Fall des Landes lag».
Elvis, wie er leibt und lebt auf Bühnen und vor Kameras, mit seiner samtweichen Stimme, dem heissen Hüftschwung. Der weisse Rockstar, der sich die schwarze Musik angeeignet hatte wie vor ihm kein anderer, revolutionierte die Popkultur und begeisterte die nicht nur weiblichen Massen bis zum Delirium – vor den Beatles.
Wir erleben nochmals Aufstieg und Fall dieses Kultkings– von den Anfängen in Mississippi und den Aufnahmen bei Sam Phillips in Memphis (Sun Records) über die Glanzzeiten bis zum GI-Aufenthalt in Deutschland, über schmalzige Kinoauftritte bis zum Comeback in Las Vegas, den Abstieg und die letzten Auftritte – als schwitzender Glitter-Koloss. Zeitgenossen und Stars wie die Sängerin Emmylou Harris, die Schauspieler Alec Baldwin und Ethan Hawke erinnern sich, beschreiben den ungekrönten König, kommentieren, analysieren und kritisieren, meistens unterwegs in besagtem sagenhaften Rolly Royce. Geschickt verknüpft Eugene Jarecki die Gesprächsepisoden mit Elvis-Bildern und Auftritten. Wir erleben ein komtemplatives Roadmovie und spannendes Pop-Kaleidoskop, in dem ein Teil der amerikanischen Gesellschaft wiederspiegelt wird. Elvis dient als Metapher für ein Land im Sinkflug, für die verhängnisvolle Verbindung von Geld und Gier, Macht und Verfall – moralisch, politisch, gesellschaftlich. Wer könnte das besser verkörpern als US-Präsident Trump! Die komplexe Fallstudie Elvis führt in die Gegenwart.
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Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes
rbr. Verbeugung vor einem Hoffnungsträger. Um es von Anfang klar zu stellen: Die Initiative, die Einladung zu diesem Dok-Projekt kam vom Vatikan. Der deutsche Kultfilmer Wim Wenders, dessen Kinoklassiker «Himmel über Berlin» just restauriert wurde und in spezielle Kinos kommen wird, hat zugesagt. Für ihn war klar, dass er kein übliches Porträt drehen wollte. «Ich bin diesem Mann sehr nahe gekommen», erzählt er in einem Interview (NZZ am Sonntag). «Ich wollte nicht, dass es ein Biopic wird, sondern ein Film über das, wofür Franziskus steht. Wir zeigen, was er sagt, und dass er das lebt, was er sagt.»
Franziskus, der Name, den er sich als Papst gegeben hat, ist Bekenntnis und Botschaft zugleich. Er erinnert hat den Mann, der mit den Tieren sprach und den Orden der Franziskaner begründete, der sich zur Einfachheit und Bescheidenheit bekannte. Franziskus wie Franz von Assisi – das sind Zeichen und Bekenntnis, Anspruch und Botschaft eines Kirchenmannes aus Argentinien, der vor fünf Jahren zum Papst gewählt wurde. Seine Ansprüche, seine Versuche der Erneuerungen im Rahmen der Römisch-katholischen Kirche stiessen und stossen auf Widerstand, aber er geht seinen Weg – «zum Wohle aller», wie er betont.
Auf seine filmische Art begleiten Wim Wenders und sein Team, das Kirchenoberhaupt auf den Wegen zu den Armen, etwa in die Favelas Rios de Janeiros oder Peru, zu Strafgefangenen in Neapel, zu Spitälern, zu Opfern des Taifuns auf den Philippinen, zu den Flüchtlingen in Lesbos und Lampedusa oder zu den Politikern, beispielsweise im US-Kongress oder bei einer UN-Vollversammlung. Er meidet Pomp und Popanz, will etwas bewirken innerhalb und ausserhalb der kirchlichen Arbeit. Er steht für die existentiellen Grundrechte der Menschen ein: Arbeit, ein Dach über dem Kopf und Land. Angesprochen auf Missstände in Kirche wie Pädophilie sagt er klar, dass diese Vergehen nicht tragbar seien, dass es hier keine Toleranz geben könne und Priester ihr Amt aufgeben müssten.
Wim Wenders nimmt den Papst beim Wort, illustriert seine Worte mit Bildern und Taten. Das Anliegen des Franziskus wird zu seinem Anliegen. Über mehrere Tage hat er Franziskus interviewt (ohne selber in Erscheinung zu treten) und offene Antworten erhalten, die Wenders dann geschickt durch Aufnahmen der Papstauftritte und –reisen dokumentiert. Sein Film bietet keinen Einblick in den Kirchenstaat und seine Träger, geht nicht den Widerständen nach, die Franziskus bremsen. Im Zentrum stehen die (sehr irdische) Visionen des Papstes und seine Botschaft der Hoffnung
. Wenders‘ Begegnungen mit dem Papst – von Angesicht zu Angesicht sozusagen – spiegeln nicht nur die Mission eines charismatischen Mannes wieder, sondern auch unsere Welt, ihre Nöte, Probleme, Sünden. Wenders‘ Film mag der Heiligsprechung einer universellen Persönlichkeit nahekommen. Sein Film ist vor allem eine Bereicherung und ein Bekenntnis zu den Menschen dank Papst Franziskus – über alle Konfessionen und Glaubensgemeinschaften hinaus.
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La Mélodie
rbr. Kraft der Musik und des Musizierens. Frust. Als der «abgetakelte» Geigenlehrer Simon Daoud (Kad Merad) seinen Job in einer Pariser Vorstadtschule antritt, wird er mit einer Horde wilder Kinder konfrontiert. Die Orchesterklasse: rotzfrech, hemmungslos, undiszipliniert und aggressiv – diese scheinbar schwer erziehbaren und wenig motivierten Kids soll er zum Geigenspielen animieren. Ihm zur Seite steht der Lehrer Fahrid Brahimi (Samir Guesmi), der ihm den Rücken stärkt gegenüber der rüden Klassenbande – ein Horror für jeden Pädagogen. Allein der junge Arnold (Rénely Alfred) zeigt Interesse, entwickelt eine Liebe zum Instrument und übt daheim auf dem Dach. Der Geigenlehrer Simon erkennt das Talent des jungen Musikers, fördert es und kümmert sich väterlich um Arnold, der seinen unbekannten leiblichen Vater vermisst. In der Klasse kommt es indes zu einem Vorfall, Simon rutscht die Hand aus, als der besonders aggressive Schüler Samir ihn beleidigt. Eine Entschuldigung bringt zwar nicht alles in Lot, aber sorgt für neue Verhältnisse. Die Klasse findet Gefallen am Musizieren. Eine grosse Herausforderung steht an, der Auftritt mit anderen jungen Musikern in der Pariser Philharmonie. Doch Simon will aufgeben und könnte die Chance zu einer Konzerttournee nutzen.
Mag sein, dass der Spielfilm von Rachid Hami, in Algerien 1985 geboren und in Paris gross geworden, einfach gestrickt ist, aber er wurde mit grossem Herzblut gedreht. Schauplatz ist ein sozial benachteiligtes Viertel, das 19. Arrondissement von Paris. Unter den Kindern gab es keine echten Geigenspieler, sie alle sind Laien und haben das Geigespielen für den Film gelehrt. So wirkt der Film sehr authentisch, fast schon dokumentarisch.
Das Förderprogramm der Pariser Philharmonie gibt es wirklich seit 2010, das Démos-Projekt. «La Mélodie – Der Klang von Paris» berührt und bewegt, ist kein kitschiges Sozialmärchen, sondern schildert eine wirklichkeitsnahe Geschichte. Der Film macht Mut, erzählt von Fürsorge und Verständnis, von Überwindungen und Solidarität, Kraft der Musik und des Muszierens. Ein Kinostück mit Nachklang – nicht nur dank Rimski-Korsakows «Scheherazade», Bachs «La Chaconne» oder der Van-Morrison-Ballade «Sometimes I Feel Like a Motherless Child», sondern vor allem wegen seiner positiven Botschaft.
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L’apparition
rbr. Erscheinungen – Wahrheit oder Wahn? Kriegsschauplatz Naher Osten. Der Kriegsreporter Jacques (Vincent Lindon) verliert einen Gefährten. Er hat die Nase voll von den Kriegsgräuel, er kehrt heim, will sich zurückziehen und wird vom Vatikan kontaktiert. Der Heilige Stuhl stellt eine Kommission zusammen, die gewisse Ereignisse, sprich Marienerscheinungen, untersuchen soll. Pilger strömen in ein Dorf in den französischen Alpen. Der 18jährigen Novizin Anna (Galatea Bellugi) soll mehrfach die Jungfrau Maria erschienen sein. Das Mädchen wird schon wie eine Heilige verehrt, und das Medieninteresse wächst. Treibende Kraft ist der TV-Reporter Anton (Anatole Taubman), er drängt sich vor und pusht den Rummel. Rom, sprich der Vatikan, sieht sich also gezwungen, den potenziellen Heiligenfall zu untersuchen. Jacques wundert sich und willigt nach kurzem Zögern ein, als neutraler Beobachter mitzumachen. Die Kommissionmitglieder sind skeptisch, einerseits hinsichtlich der jungen Anna, andererseits gegenüber dem Journalisten. Bald erkennt Jacques, dass es hier um mehr als die Beurteilung einer Marienverehrung, um Glaube und Wahrheit geht, nämlich auch um irdische Interessen, Medienaufmerksamkeit und Vermarktung. Anna hat sich einspannen lassen, erduldet eine Rolle, die ihr gar nicht behagt. Betreut wird sie vom «väterlichen» Pfarrer (Patrick d’Assumçao). Anna fühlt sich zerrissen und birgt ein Geheimnis.
Xavier Giannolis hat ein religiöses Epos entwickelt, das sich als Seelendrama mit kriminalistischem Touch entpuppt. Die junge Galatea Bellugi geht in ihrer Rolle auf, und Anatole Taubman spielt den aufdringlichen Medienmann mit Verve und professioneller Routine. Aufgeteilt hat Giannoli seinen Spielfilm in sechs Kapitel – von «Rom» bis zur «Offenbarung» und «Mériem» in Afrika. Das Schlusskapitel ist einer Freundin Annas gewidmet, die eine wichtige Rolle spielt. Der Film konzentriert sich vor allem auf das Verhältnis Jacques – Anna. Die Frage nach Erscheinungen, Anbetung und entsprechender Kommerzialisierung tritt je länger je mehr in den Hintergrund. Das Drama mündet in einer Auflösung, die wundersam scheint. Das Schicksal Annas erfüllt sich und ein Journalist wird geläutert. Dabei verlieren sich Fragen um die Verantwortung der Kirche und Rolle der Pilger: Wie kann man Wahrheiten und Wirklichkeiten erfassen und ermessen? Xavier Giannolis Spielfilm «L’apparition» zeichnet sich durch kriminalistische und psychologische Qualitäten aus, ohne keine missionarische Ansprüche zu stellen. Im Vergleich in Sachen Heiligenverehrung und die Folgen hat Juan Manuel Cotelo in seinem spanischen Pseudo-Dokfilm «Mary’s Land» (2013) einen anderen intelligenten und witzigeren Ansatz gefunden. Auch hier geht es um Marienverehrung, unter anderem in Medugorje (Bosnien), die in «L’apparition» kurz erwähnt wird.
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Tully
rbr. Mutterstress und Träume. Kinder sind eine Freude, sagt man, aber sie können aber auch zum Hemmschuh oder gar zur Plage werden. Marlo (Charlize Theron), um die 40, ist Mutter zweier Kinder, der achtjährigen, problemlosen Sarah und des nicht pflegeleichten Sohns Jonah, der Zeichen von Autismus zeigt. Mit dem dritten Kind ist Marlo dann schlicht überfordert – trotz verständigen Ehemanns Drew (Ron Livingston). Da kommt Craig (Mark Duplass), der leicht überhebliche, smarten Bruder ihres Mannes, auf die Idee, Marlo eine Night-Nanny schmackhaft zu machen. Die gestresste Mutter bockt, doch in letzter Verzweiflung willigt sie ein. Und siehe da, sie erlebt ein schieres Wunder, denn die Studentin Tully (Mackenzie Davis) entpuppt sich als Glücksfall. Sie übernimmt nicht nur die «Nachtwache», sondern eröffnet Marlo neue Lebensqualität. Das Kindermädchen wird zur Freundin, ja bestärkt sie, Familienfesseln zu sprengen, und so erobert sich die geplagte Mutter ein kleines Stück Freiheit zurück. – Es ist übertrieben, das Beziehungsstück «Tilly» (Drehbuch: Diablo Cody) als Komödie zu taxieren und anzupreisen. Regisseur Jason Reitman führt eine Mutter vor, die, nahe an einem Zusammenbruch, sich redlich bemüht, den Halt nicht zu verlieren. Da hilft nur ein guter Geist oder eben ein «Engel» wie Tully, wobei Reitman etwas spitzbübisch andeutet, als wäre Tully ein mögliches Traumbild, das Marlos Sehnsüchte wiederspiegelt. Wie ja auch der Schauplatz, ein New Yorker Vorort, in Wahrheit im kanadischen Vancouver liegt. Wie auch immer – lange sah man Charlize Theron («Monster») nicht so überzeugend authentisch wie in diesem märchenhaft angehauchtem Familiendrama, wobei Mackenzie Davis als Schicksalslenkerin Tully eine besondere Aufgabe zukommt, die sie wunderbar löst.
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Visages Villages
rbr. Überlebensgross. Eine Idee, die sich als geniale Projektion und Spiegelung erweist – von Menschen und Flächen, von Lebensverhältnissen, Ein- und Ansichten. Die renommierte Regisseurin und Künstlerin Agnès Varda aus Belgien, stolze 90 Jahre alt, und der Pariser Fotograf und Street-Artist JR (Juste Ridicule), 25 Jahre jung, haben sich gefunden. Das ungleiche Künstlerpaar wird zum Team, das Frankreich bereiste von der Normandie (Le Havre) bis zur Provence. Sie suchten Dörfler und Menschen heim, einen Postboten, Fabrikarbeiter, eine Kellnerin, Frauen von Harfenarbeitern oder die letzte Bewohnerin einer abbruchreifen Siedlung, wo früher Minenarbeiter wohnten. Der Clou: JR fotografiert und die Menschen erscheinen auf haushohen Plakaten, die dann an den betreffenden Gebäuden und Fassaden oder auch Containern aufgezogen, nicht projiziert werden. So entstehen monumentale, belebte Bilder und Spiegelungen von Schicksalen, Gegebenheiten und Begegnungen. Ein eindrückliches Bilderwerk, auch weil es Geschichten erzählt, Assoziationen weckt und Menschen in den Mittel- oder Blickpunkt stellt, die eine neue bereichernde Erfahrung machen. Dass die Reise einen kleinen negativen Beigeschmack bekommt, ist dem eigensinnigen Filmguru Jean-Luc Godard zu verdanken. Agnès Varda, die Godard sehr kannte und einen Kurzfilm drehte, sucht ihn an seinem Wohnsitz auf (mit Ankündigung), doch der verweigerte sich, verschloss und verleugnete sich. Ein Kunst-Kauz, just wieder in Cannes geehrt wurde, der sich offensichtlich für sehr wichtig hält und bockt. Vardas Wegbegleiter JR, ihr «Auge», verschanzt sich hinter eine Sonnenbrille, lüfte am Ende doch ein Geheimnis. Ein herrliches Zeichen der Findung und Freundschaft. Der erfrischende Dokumentarfilm «Visages Villages» verbindet Lust mit Leidenschaft, zeigt Kunstbilder in der Wirklichkeit verankert und amüsiert – sozial und schelmisch zugleich.
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The Bookshop
rbr. Eine Frau traut sich was. In dieser Zeit, Ende der Fünfzigerjahre, hatte das Buch Gewicht und eine gewisse Wertigkeit. Nach all den Kriegsgräueln und Entbehrungen im Zweiten Weltkrieg. Sie hat ihren Mann verloren, aber die Bücher sind ihr geblieben. Florence Green (Emily Mortimer), Mitte Vierzig, hat den Mut, ein altes Haus (Old House) an der ostenglischen Küste zu erwerben und einen Buchladen einzurichten. Ausgerechnet in einem Kaff, wo sich Fuchs und Fische Gute Nacht sagen und Kultur fast ein Fremdwort ist. Mit Elan, Optimismus und Standvermögen will sie eine Bresche für die Literatur schlagen. Ihr zur Seite steht Christine (Honor Kneafsey), ein begeisterungsfähiges Mädchen aus dem Dorf. Skepsis herrscht bei den Bewohnern. Wut und Hass auf die engagierte Buchhändlerin steigen bei Lady Gamart (Patricia Clarkson), als das Interesse am Buchladen bei der Bevölkerung zunimmt. Als Florence keck mit Nabokovs «Lolita» im Schaufenster wirbt und fleissig verkauft, sieht Lady Gamart ihre Stunde gekommen: Sie schürt den Skandal um das Skandalbuch. Der Grund: Nur zu gern hätte sie selber Old House an sich gerissen und zum Kulturzentrum gemacht. Geldgeber und Anwalt wie auch der schmierige Literat Milo North (James Lance) setzen Florence zu, allein der charmante, distinguierte Mr. Brundish (Bill Nighy) unterstützt Florence und versucht, sie vor den Intrigen Lady Gamarts zu schützen.
Die Vorlage des Films erschien 1978. Buchautorin war die Spanierin Penelope Fitzgerald, die Katalanin Isabel Coixet hat «The Bookshop» in England verfilmt. Florence hat eine Vision, trifft auf eine verkrustete Gesellschaft und eine «geadelte» boshafte Gegnerin. «Diese stille Frau, in einem ruhigen Ort, in einem sehr ruhigen England der Nachkriegszeit, ist ein Aufruf an alle, endlich erwachsen zu werden und Verantwortung dafür zu übernehmen», erklärt Isabel Coixet.
Doch die Illusion zerplatzt, auch weil Florence sich überschätzt und die Konservativen unterschätzt hat. Der poetische Film ist ganz im Stil Ende der Fünfzigerjahre angelegt – bedächtig, behäbig, belesen. Manchmal hat man das Gefühl, einer bebilderten Lesung beizuwohnen. Gleichwohl, die Schauspielerin aus London, Emily Mortimer («The Party», «Hugo Cabret», «Match Point») als verlorene Florence, und der grosse Bill Nighy («Best Exotic Marigold Hotel») als «Landlord» Brundish sind einen Kinobesuch wert.
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Wonderstruck
rbr. Parallelgeschichten: Zwei Kinder auf der Suche. Manche überraschten Zuschauer fragen sich vielleicht: Bin ich im falschen Film? Wie geht das zusammen: Ein Schwarzweissfilm im Stummfilmstil und ein Farbfilm in den Siebzigerjahren? So geht’s: Das Mädchen Rose sucht ihren Stummfilmstar in New York um 1927, der Junge Ben sucht seinen Vater 1977 ebenfalls in Big Apple. Zwei Epochen, zwei Schicksal, ein Film.
Todd Haynes (Ehren-Leopard in Locarno 2017) hat das Jugendbuch «Wonderstruck» (Wunderlicht) von Brian Selznick, der auch für Drehbuch zeichnete, fürs Kino adaptiert. Die verschiedenen Zeiten definiert und zeichnet er einerseits als Stummfilm (schwarzweiss), andererseits als Farbfilm (Siebzigerjahre). Das Springen zwischen den Epochen und den parallel erzählten Geschichten mögen anfangs irritieren und verwirren. Doch je länger, desto dichter führen die Handlungsstränge zusammen: in New York. Das hat einen gewissen Reiz, stört aber bisweilen die Stimmung, den Zauber dieser Findungsgeschichte. Das Märchen wird am Ende etwas kitschig und herzig.
Zwei Kinder, beide gehörlos, sind auf der Suche: New Jersey 1927, die zwölfjährige Rose (Millicent Simmonds, tatsächlich gehörlos) himmelt Stummfilmstars an. Sie nimmt Reissaus Richtung New York, um ihre Favoritin Lillian Mayhew (Julianne Moore), ihre Mutter, leibhaftig zu treffen und ihren älteren Bruder Walter (Cory Michael Smith) wiederzusehen. Ein Fremder führt sie ins Naturhistorische Museum. Ein magistraler Beziehungsort, wo die Geschichten, die 50 Jahre auseinanderliegen, zusammenlaufen.
Ben (Oakes Fegley) hat seine Mutter und sein Gehör verloren – bei einem Blitzschlag. Er macht sich 1977 auf, seinen Vater in New York zu finden. Er besitzt nur einen winzigen Hinweis, eine Widmung in einem Buch, das aus dem Buchladen «Kincaid Books» stammt. Ein schwarzer Junge, Jamie (Jaden Michael), mit dem er auf Strasse zusammenstösst, nimmt sich des Gehörlosen an, führt ihn ins Naturhistorische Museum, wo sein Vater arbeitet und wo Ben auf bekannte Bilder und Wolfsszenen stösst. Jamie, der in Ben einen Freund sieht, lost ihn zum Buchladen. Doch alle Wünsche, Träume und Verbindungen fliessen erst in einem gigantischen Diorama New Yorks zusammen, das für die Weltausstellung 1964 geschaffen wurde.
Es ist diese Mischung, aus der Film «Wonderstruck» seine Magie bezieht: Märchen, Visionen und Wirklichkeit, sehr verschiedene Zeiten, aber dieselben Bedürfnisse, nämlich Zuneigung und Erfüllung, Freundschaft und Wärme zu finden. Eine gewisse Poesie kann man dieser Verfilmung nicht absprechen, auch wenn manche Sequenzen etwas ausgedehnt scheinen (117 Minuten). Das Tüpfelchen auf dem i ist der Soundtrack, da hören wir anfangs von «Major Tom» (aus David Bowies «Space Oddity») und am Ende Richard Strauss‘ «Also sprach Zarathustra» (erinnern Sie sich an Kubriks «2001: A Space Odyssey» – eben).
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The Happy Prince
rbr. Wilde’s Leben – geächtet und verdammt. Falsche Zeit, falsche Gesellschaft. Der irische Dichter, Dramatiker und Kritiker Oscar Wilde war ein Dandy, eine Berühmtheit, ein Künstler und wurde von der Gesellschaft stigmatisiert, verteufelt – als Homosexueller. Er wurde wegen «Unzucht» zu zwei Jahren Zuchthaus mit Zwangsarbeit verurteilt und ruiniert. Die Viktorianische Gesellschaft kannte kein Pardon. Er starb 1900 in Paris mit 46 Jahren. – Rupert Everett, der das Drehbuch schrieb und die Hauptrolle übernahm, lässt entscheidende letzte Lebenspassagen Revue passieren. Wilde (Everett) liegt im Sterben und erinnert sich – seine Verurteilung, seine vergebliche Aussöhnung mit seiner Frau Constance (Emily Watson), seine Liebe zum Oxford-Studenten Robert «Robbie» Ross (Edwin Thomas), die Affäre mit dem Adeligen Alfred «Bosie» Douglas (Colin Morgan) und die Freundschaft mit Reggie Turner (Colin Firth). Weder seine Eskapaden, Ausschweifungen oder sein Lebensstil geben dem Drama Tiefe oder Spannung, sondern seine fatale Selbstzerstörung, vor der ihn auch sein treuer Kumpan Robbie nicht retten konnte.
Everett konzentriert sich in seinem Spielfilmdebüt auf die letzte bittere Lebensphase des grossartigen Autors. Er hatte Wilde bereits im Bühnenstück «The Judas Kiss» (2014) gespielt. Der Filmtitel «The Happy Prince» bezieht sich auf eine Sammlung von Kunstmärchen (1888) und wird zum bitteren, ironischen Kommentar, wenn man es auf Wildes düsteres Ende im Exil bezieht – verarmt, «verbannt», verloren. Die Quintessenz eines unglücklichen Lebens. Oscar Wilde war 1897 gesundheitlich schwer angeschlagen, als er entlassen wurde. Er floh nach Paris und betrat nie wieder englischen Boden. Seine schriftstellerische Kraft versiegte, er lebte vom Nachlass seiner verstorbenen Frau Constance und verarmte. Der Film ist weder Hommage an Wilde noch akademische Biografie. Der Schauspieler Everett versucht bei seinem Regiedebüt, die Geissel einer bigotten, verknöcherten Gesellschaft und die Tragik eines homosexuellen Freigeistes zu beschreiben – mit einem exzellenten Ensemble. Gedreht wurde in der Normandie, Brüssel und Wallonien, in Bayern (Schloss im fränkischen Thurnau) und in Neapel. Die europäische Koproduktion kostete 10,5 Millionen Franken.
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Loveless
rbr. Die Liebe ist abhanden gekommen. Wie hält ein Kind das aus, wenn sich die Eltern permanent streiten und eine Scheidung anstreben. Der zwölfjährige Aljoscha wird zum Streitgut. Wer soll für ihn sorgen? Irgendwann hat der Knabe die Nase voll und verschwindet in Moskau und Umgebung. Die Eltern werden auf sich und ihr Leben zurückgeworfen. Der Vater Boris (Alexei Rosin) lebt mit seiner schwangeren Freundin zusammen, und Schenja (Marjana Spiwak), die Mutter, wirft sich gern in Pose und hat sich einen anderen Mann geangelt. Sohn Aljoscha (Matwei Nowikow) geht praktisch vergessen, bis er eines Tages reissaus nimmt. Und nun? Erst jetzt werden sich die Eltern bewusst, dass ihr Sohn, zwischen die Räder der Scheidung geraten ist.
Es spielt hier keine Rolle, was mit dem Ausreisser passiert ist. Er ist nicht nur Opfer einer Krise, sondern wird zum Sinnbild einer verbürgerlichten russischen Gesellschaft, die zerfällt, die den eigenen Vorteil, das eigene Befinden und die Befriedigung vor allen anderen sozialen Bedürfnissen und Verantwortung stellt. Die Liebe ist abhandengekommen, es herrscht «Loveless», Lieblosigkeit. Die Eltern vermuten ihren Sohn bei der Grossmutter. Vergebens. Im Gegenteil, Schenja wird von ihrer Mutter als «Monster» beschimpft. Die Suche nach dem Knaben nimmt sich lieblos aus (der Polizei fehlen die Kräfte oder der Wille), die Mutter hätte Aljoscha dazumal lieber abgetrieben, und die trostlose Umgebung tut das ihre. Erst eine zivile Organisation kümmert das Schicksal des Kindes und wird aktiv.
Die Geschichte spielt sich zwischen 2000 und 2012 ab, signalisieren am Schluss einige Flugblätter. In der Gegenwart ist Boris wieder Vater geworden, und Schenja posiert in einer Luxuswohnung. Andrei Swiaginzew (Regie und Buch) beschreibt eine trostlose, dem Kommerz verfallene Gesellschaft. Sein Film ist ein sanfter Thriller, aber vor allem eine Fallstudie über brüchig gewordene Familienbeziehungen und den Mittelstand. Dazu passen die tristen Bilder des Kameramanns Michail Kritschman (Europäischer Filmpreis), die phasenweise an Andrei Tarkowski erinnern. «Loveless» wurde in Cannes 2017 mit dem Preis der Jury ausgezeichnet.
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Transit
rbr. Auf der Flucht verloren. Menschen auf der Flucht, verloren zwischen Angst und Hoffnung. In Marseille kommen sie zusammen, um ihr Heil jenseits des Atlantiks zu suchen. Deutsche Truppen haben Paris erobert und halb Frankreich besetzt. Der deutsche Flüchtling Georg entkommt ihnen in Paris zusammen mit dem verletzten Heinz. Sie fahren mit dem Güterzug nach Marseille. Heinz stirbt. Georg trägt ein Dokument für ein Mexiko-Visum und ein Manuskript («Die Entronnenen») des Schriftstellers Weidel bei sich, der Selbstmord begangen hat. Georg soll die Papiere bei mexikanischen Konsulat deponieren und wird vom Konsul für Weidel gehalten. Ein Irrtum mit Folgen. Er erkennt die Möglichkeit, eine andere Identität anzunehmen und eine Schiffspassage über den Atlantik zu ergattern. Doch das braucht Zeit und Geduld. Die Mühlen der Behörden mahlen langsam. Georg freundet sich in den Gassen Marseilles mit dem Jungen Driss (Lilien Batman) an, kickt mit ihm. Er ist der Sohn des verstorbenen Heinz. Seine gehörlose Mutter Melissa (Maryam Zaree) erträgt die Nachricht vom Tod ihres Mannes mit Fassung, und Driss sieht in Georg einen Vaterersatz, möchte Georg binden. Doch der ist unschlüssig, trifft auf den Wegen zu Behörden Marie Weidel (Paula Beer, «Frantz»), die sich von ihrem Mann getrennt hat und eine Liaison mit dem deutschen Arzt Richard (Godehard Giese) eingegangen ist. Sie hofft gleichwohl in Marseille auf eine Wiedervereinigung und Flucht mit ihrem Mann. Georg verliebt sich, hätte die Möglichkeit, Marie reinen Wein einzuschenken und sie über Weidels Tod aufzuklären. – Menschen in der Schwebe, vom Weg abgekommen und aus der Zeit geworfen.
Die Gegenwart verschlingt die Vergangenheit und projiziert eine Zukunft, die so ungewiss ist wie die Gegenwart. Christian Petzold, der zusammen mit dem 2014 verstorbenen Filmemacher Harun Farocki Anna Seghers‘ Roman zum Drehbuch umgearbeitet hat, interessierte kein historisches Flüchtlingsdrama (Seghers Geschichte spielt um 1940/42). Er wollte keine historische Zeit rekonstruieren. Und so pendelt sein Film zwischen den Zeiten. Es gibt Anzeichen faschistischer Bedrohung wie um 1940, doch vieles wie Sportschuhe, Schiffe etc. sind von heute. Petzold geht es um die existentielle Situation von Flüchtlingen und Exilanten, zerrieben zwischen Unsicherheit und Hoffnung. Es geht nicht um ein Massenphänomen, sondern um einzelne Schicksale, um Lügen, Liebe und Verlust, um entwurzelte, getriebene Menschen, dem Zufall, der Polizei, Häschern oder Rettern ausgesetzt.
«Transit» ist ein anspruchsvolles Kinowerk, irritierend, innig, intensiv, das von Andeutungen und Versatzstücken lebt. Befremdlich scheint die Offstimme, die etwas erzählt, was nicht zum Bild passt, die nicht erläutert oder simpel beschreibt. Sie gehört dem Wirt (Matthias Brandt) des Cafes Mont Ventoux, in dem Georg sich häufig aufhält. Sind es Worte, Texte aus dem Manuskript, das Georg nach Marseille mitgebracht hat? Eine andere bemerkenswerte Episode sei noch erwähnt: Georg singt Driss ein Kinderlied, es stammt vom Poeten und Satiriker Hanns Dieter Hüsch. Ein Film mit Nachklang
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No Way Out
rbr. Dem Feuer verbunden und ausgeliefert. Man liest es immer wieder: Waldbrandgefahr! Aber was heisst das, wenn in Kalifornien oder Arizona Waldbrände toben, riesige Flächen dem Feuer zum Opfer fallen, und an vorderster Front Männer kämpfen, sogenannte «Hotshots»-Einheiten, die versuchen den Brand einzudämmern, Menschen und Siedlungen zu schützen.
Der erfahrene Feuerwehrmann Eric Marsh führt die Crew 7, eine Feuerwehreinheit von Prescott, Arizona, spezialisiert auf Waldbrände. Zu gern würde er mit seinen Männern in die Elitegruppe aufsteigen, den sogenannten «Hotshots». Doch dazu bedarf es Prüfungen und Begutachtungen. Patron Duane Steinbrink (Jeff Bridges) lässt alle Beziehungen spielen, um seinem «Ziehsohn» Eric den Aufstieg zu ermöglichen. Der tut alles, um seine Männer auf Vordermann zu bringen. Er ist ein guter Menschenkenner und erkennt im Junkie Brendan «Donut» McDonough (Miles Teller), einen Kerl, der sich ändern, einsetzen will und durchbeissen könnte.
Die grosse Bewährung kommt im Juni 2013, als ein gigantisches Feuer in Yarnell, Arizona, wütete, innerhalb von 13 Tagen wurden 34 Quadratkilometer (3400 Hektaren) Land verwüstet und 100 Gebäude zerstört. Joseph Kosinskis Flammendrama «No Way Out» erinnert an dieses tragische Flammeninferno. Die Crew der Granite Mountain Interagency Hotshots gibt es wirklich. 19 Männer liessen bei der Bekämpfung des Grossbrandes ihr Leben, nur einer überlebte aus Erics Truppe. Am Ende des Spielfilms wird den wirklichen Feuermännern gedacht, werden sie nochmals in Erinnerung gerufen. Es ist ein grosses Verdienst des Films, in den USA unter dem Titel «Only the Brave» gestartet, dass er nicht zum Actionfilm verkommen ist und den Tod der Helden glorifiziert. Kosinski schildert zwischenmenschliche Ebenen, die Bewährung des «Taugenichts» McDonough, der eine Familie gründet, die Spannungen zwischen dem besessenen Feuerwehrmann Erich Marsh und seiner Frau Amanda (Jennifer Connelly). einer Pferdeliebhaberin, die sich total vernachlässigt fühlt. Den Kerl, der durch die Flammen geht, verkörpert Josh Brolin, der just auch als galaktischer Herrscher Thanos in «Avengers: Infinity War» zu sehen ist. Der alte Hollywoodkämpe Jeff Bridges, weltbekannt geworden als «der Dude» in «The Big Lebowski», trällert tatsächlich einen Countrysong mit den Rusty Pilots. Überhaupt ist der Filmsound hörenswert mit Liedern von Pearl Jam, Steve Earl, Kenny Wayne Shepherd u.a.
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Isle of Dogs
rbr. Hundeelend – Menschenelend. Um das Jahr 2038. Es steht schlecht um den einst besten Freund des Menschen. Hunde sind in Japan eine Plage geworden, sie verbreiten eine Hundegrippe und sind auf eine Müllinsel verbannt worden. Ausgezerrt und isoliert, haben sich die Vierbeiner zu Horden zusammengerottet und gehen sich praktisch gegenseitig an die Gurgel, möchte man meinen. Dem selbstherrlichen Bürgermeister Kobayashi von Megasaki City, ein Katzenfreund (!), diente ein Virus, das sogenannte Schnauzenfieber, um die Vierbeiner mittels Notverordnung einzusammeln und zu deportieren. Das lässt Schlimmes ahnen. Der Gedanken an Nazideutschland liegt nahe, auch weil ein Camp auf der Insel der Verbannten (Dogs) wie ein KZ anmutet. Die Hunde auf Trash Island sind wahrlich auf den Hund gekommen. Horden haben sich zusammengerottet, um zu überleben. Chief, ein ehemaliger Streuner, führt ein Rudel mit Kötern namens King, Rex, Boss oder Duke. Auf die trifft der Knabe Atari, ein Adoptivsohn des Bürgermeisters. Der sucht seinen Lieblingshund Spots und bruchlandet mit seiner fliegende Rumpelkiste auf der Exilinsel. Der Zwölfjährige mobilisiert die Verbannten. Dabei kommt Überraschendes ans Tageslicht. Der dreckige «schwarze» Chief wird gewaschen und als Bruder von Spots erkannt. Er führt Atari zu Spots, dem Anführer einer Gruppe ehemaliger Versuchstiere. Auf dem Festland arbeitet indes eine Schüler-Widerstandsgruppe mit Tracy an der Spitze an der Aufklärung, denn ein Wissenschaftler, der von Handlangern des Bürgermeister, vergiftet wird, hat ein Serum gegen die Hundegrippe entwickelt und mehr. Es ist an der Zeit, dass beherzte Hunde dem machthungrigen Bürgermeister an die Gurgel gehen. – Klar, das Drama um verteufelte Hunde, Virusleger und Verfolger, Lug und Manipulation ist kein herziger Trickfilm, sondern zielt auf ein erwachsenes Publikum. Wes Anderson («Grand Budapest Hotel») inszenierte seinen zweiten Animationsfilm nach «Der fantastische Mr. Fox» – im Stop-Motion-Verfahren.
Die Geschichte von manipulierten, verteufelten, ausgestossenen Hunden zeichnet eine Gesellschaft, die sich ein unliebsames Problem vom Halse schafft anstatt es zu lösen. Es ist auch eine Parabel über Solidarität – über Rassen und Stände hinaus. Es geht nicht um das Verhältnis Mensch und Tier, sondern um Menschen, die gegen andere aus Furcht und vorgeschobenen Gründen vorgehen – sie stigmatisieren, ausmustern, aussortieren und ausgrenzen. «Isle of Dogs», die Insel der Verbannten, könnte auch für Flüchtlingslager, Asylgettos oder neue KZ stehen. Denkwürdig.
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You Were Never Really Here
rbr. Der «Hammermann» schlägt zu. Eben noch als der an der Welt leidende Jesus in «Maria Magdalena», nun als psychopathischer Rächer, der entführte und verführte Kinder/Mädchen befreit. In dem düsteren Thriller «You Were Never Really Here» agiert Joaquin Phoenix als Joe, Ex-Irak-Kämpfer, Ex-Polizist und Detektiv, der auf Auftrag junge Mädchen aufspürt, die verschwunden sind, entführt und zur Prostitution gezwungen wurden. Der raue Finsterling trägt schwere Erinnerungen mit sich – aus der Kindheit, aus dem Krieg. Allein bei seiner Mutter (Judith Roberts) taut er auf, finde Momente der Ruhe. Der Kerl mit Vollbart, der wie ein Penner daherkommt, benutzt am liebsten einen Hammer als Waffe, auch als er den Auftrag erhält, Nina (Ekaterina Samsonov), die verschwundene Tochter des Senators Votto (Alex Manette) in New York ausfindig zu machen. Tief dringt Joe in den Sumpf der Prostitution ein, findet Nina in einem Edelbordell. Ein klarer Fall für den «Retter», bis «Cops» sich Nina bemächtigen, der Senator «Selbstmord» begangen haben soll, sein Mittelsmann ermordet wird und sogar seine Mutter der Bordellorganisation zum Opfer fällt. Der «Hammermann» zieht wie weiland der berühmte «Taxi Driver» durch die Stadt, um Nina abermals zu befreien. – Lynne Ramsay hat die Erzählung von Jonathan Ames aus dem Jahr 2013 in einen brutalen Psychothriller umgesetzt – brüchig und teilweise fragmentarisch (manches muss sich der Zuschauer selber zusammenreimen), finster und furios. In Cannes wurden die schottische Regisseurin für ihr Drehbuch und Joaquin Phoenix als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet.
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Breathe
rbr. Atemlos und vielsagend. Unglaublich, aber wahr. Robin Cavendish ist ein lebensfroher junger Mann, 1930 in Middleton, GB, geboren. Im Alter von 28 Jahren erkrankte er an Kinderlähmung in Afrika und war seither vom Hals abwärts gelähmt. Die Ärzte gaben ihm nur eine begrenzte Lebensdauer von vielleicht einem Jahr. Er war auf Gedeih und Verderb von einem Atmungsgerät abhängig. Sein Überlebenswille war phänomenal, auch dank der liebevollen Unterstützung durch seine Frau Diana wurde er 64 Jahre alt. In seinem Regiedebüt illustriert Andy Serkins, (er hauchte dem schleimigen ringbesessenen Gollum in der Trilogie «Herr der Ringe» Leben ein) das Leben und Wirken dieser ausserordentlichen Persönlichkeit. Robin Cavendish (äusserst diszipliniert Andrew Garfield, «Hacksaw Ridge», «Silence») wollte sich nicht mit dem tristen Spitalleben abgeben und «brach aus». Seine Frau Diana (Claire Foy) und später sein Sohn Jonathan (Dean-Charles Chapman) standen ihm unerschüttert zur Seite. Er entwickelte Möglichkeiten der Kommunikation (mit dem Gesicht, mit Blicken und Mimik). Mit Hilfe seines Tüftler-Freunds und Oxford-Professors Teddy Hall (Hugh Bonneville) entwickelte er einen mobilen Rollstuhl. Ihm gelang es, unter anderem bei einem Auftritt an einem Münchner Kongress, die Fachwelt von der Lebenstüchtigkeit Gelähmter zu überzeugen, sie aus dem Spital-Ghetto herauszuholen und ihre Lebensqualität zu verbessern. «Solange ich atme» beschreibt inbrünstig eine Krankheits- und Liebesgeschichte: ein bewegender, Mut machender Spielfilm, nicht ohne Humor, natürlich mit viel Gefühl, ohne jedoch ins Kitschige à la Hollywood abzugleiten. Ein Ausrufezeichen gleichzeitig für Lebensleid und Lebenslust. Robins Sohn Jonathan Cavendish produzierte «Breathe» und schuf so seinen Eltern ein denkwürdiges Denkmal.
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7 Tage in Entebbe
rbr. Terror vor 42 Jahren. Die älteren Leser werden sich erinnern: Am 27. Juni 1976 wurde eine Air France-Maschine auf dem Flug von Tel Aviv nach Paris gekidnappt. Es war die Zeit der Baader-Meinhof-Bande und der RAF-Terroristen. Krieg herrschte zwischen Israelis und Palästinensern. Es war denn auch ein palästinensisches Kommando, dem sich zwei deutsche Sympathisanten angeschlossen hatten, welches das Flugzeug 139 mit Waffengewalt unter Kontrolle brachten und nach Entebbe in Uganda dirigierten. Sieben Tage waren die Passagiere, darunter 83 Israelis, dem Druck, den Drohungen und der Gewalt der Entführer ausgesetzt. Die Deutschen Brigitte Kullmann (Rosamunde Pike) und Wilfried Böse (Daniel Brühl), in Jemen ausgebildet, sollen dem Terrorakt (im Film) wohl ein menschliches Gesicht geben. Sie beginnen zu zweifeln, doch als sie erfahren, dass die inhaftierten Baader und Meinhof Selbstmord begangen haben sollen, ahnen sie, dass diese Aktion tödlich enden kann. Die israelische Regierung mit Premier Jitzhak Rabin (Lior Ashkenazi) und Verteidigungsminister Shimon Peres (Eddie Maran) tun sich schwer, mit den Terroristen zu verhandeln. Dem hartnäckigen Peres ist es zu verdanken, dass Rabin letztlich der Befreiungsaktion «Thunderbolt» zustimmt. – Der brasilianische Regisseur José Padilha hat diesen Entführungsfall geradezu (fernseh-)klassisch umgesetzt – mit Rückblenden, Schauplatzwechseln (Isarael und Entebbe) und einer optischen Rahmenhandlung in Form eines Balletts der Bathsheba Dance Company (1998), das von Befreiung handelt. Padilha bemüht sich, in dieser amerikanisch-britischen Produktion sowohl die Spannung über 7 Tage – so sind denn auch die Kapitel aufgeteilt – aufrecht zu erhalten, die verschiedenen Positionen (Terroristen, Regierungsverantwortliche, Geiseln, Soldaten) zu beschreiben. Ein gut gemeinter, solider Film, der sich als Signal für den Frieden zwischen Israel und Palästina versteht, akzeptabel umgesetzt, und doch ein Terrorthriller von damals bleibt – mit einem Idi Ami, der eher an einen Operetten-Diktator erinnert als einen Menschen-Schlächter.
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Jeune femme
rbr. Eine Nervensäge oder wandelnde Probleme. Paula nervt, von der ersten Sekunde an. Eine Frau um die 30, ziellos, instabil, unangepasst, unbeugsam, chaotisch. Ist sie eine typische Vertreterin ihrer Generation? Man fürchtet fast, liest man in diesen Tagen, dass die junge Generation wenig Bock auf Arbeit, aber viel auf Freizeit und Vergnügen hat. Doch Paula hat Charakter, von ihrem Ex-Freund, dem Fotografen Joachim (Grégoire Monsaingeon, abserviert, sucht sie Halt in Paris, Montparnasse – mit der Katze ihres Ex im Arm. Sie nimmt eine andere Identität an und macht doch alles falsch, was man falsch machen kann. Eine wandelnde Katastrophe, beladen mit Problemen, auch weil sie sich und anderen etwas vormacht. Man versucht, sie zu verstehen, ein bisschen Sympathie aufzubringen. Die junge Französin Léonor Serraille (Regie und Drehbuch) macht keine Kompromisse wie ihre Heldin, die einen nicht glücklich macht. Die Leistung der Schweizerin Laetitia Dosch als Paula ist gerade deswegen bemerkenswert und respektabel.
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Follow the River
rbr. Von Meiringen nach Rotterdam. Zwei Männer hatten eine Idee: Rüdiger und Dominic wollten von Meiringen über den Thunersee, die Aare und Rhein an die Nordsee paddeln und zurück mit dem Velo fahren. Eine Herausforderung: «2 Männer – 2 Beine – 2000 Kilometer». Im Leben kann einiges schief gehen. Was macht ein Bewegungsmensch, wenn er von heute auf Morgen an einen Rollstuhl gefesselt ist? So ist es Sportler Rüdiger Böhm (46) ergangen, als er beide Beine verlor. Das war vor etwa zwanzig Jahren. Doch Rüdi liess sich nicht unterkriegen lassen. Zusammen mit seinem Freund Dominic Kläy (31) plante er eine Reise mit dem Kajak. Die Zwei wollen von Meirigen aus die Nordsee ansteuern und dann zurück rollen auf Rädern, auf Velorädern. Am 22.Juli 2017 starteten die beiden in Meirigen. Das Ziel ist 1250 Kilometer entfernt: Rotterdam. Zunächst ging alles flott voran, bis ihnen auf dem Thunersee hoher Wellengang zu schaffen machte. Dominic wollte aussteigen, brauchte eine Pause. Erst nach einer «reinigenden Aussprache» fand man sich wieder und erreichte am 7. Tag und nach 275 Kilometern den Rhein. Am 12. August erreichten die hartnäckigen Paddler Holland. Das Ziel Rotterdam war zwar erreicht, doch die Nordsee in weite Ferne gerückt – Wasser und Wetter verunmöglichten eine Weiterfahrt. Doch ihre werbewirksame Aktion wollten sie nicht einfach versenken und nahmen die Rückfahrt auf zwei Rädern in Angriff. Eine strapaziöse Tour vor allem für den handikapierten Velofahrer mit Handbetrieb.
Sie wollten ein Zeichen setzen, unterstreicht Rüdiger Böhm, ursprünglich aus Karlsruhe und dann in der Schweiz heimisch geworden. Es ging nicht um Behinderung und Handicap, sondern um Grenzen anzugehen und zu überwinden, um totalen Einsatz für ein Ziel. Die 2000 Kilometer-Tour wurde von einem professionellen Team begleitet und solide dokumentiert. Filmemacher Jan Mühlethaler hat das Unternehmen «Follow the River» festgehalten – in stimmigen Bildern und Einblicken in den Touralltag.
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Docteur Knock
rbr. Krank werden, um zu gesunden. Ein Filou: Kleinganove Knock entwischt gerade noch Gauner Lansky und Kumpan. Denen schuldet er etwas und sucht sein Heil in Marseille auf einem Schiff. Der Kapitän sucht gerade einen «Medizinmann», Schlitzohr Knock verspricht Besserung und heuert als Arzt an. Mit ein paar Tinkturen und Heilmitteln hat der begabte Scharlatan Passagiere und Käptn schnell im Sack. Wieder an Land absolviert er ein Medizinstudium. Jahre später übernimmt er im verschlafenen Provinznest St-. Maurice einen Landarztjob. Der Vorgänger, der in den Ruhestand tretende Dr. Parpalaid (Nicolas Marié), hat Zimperlein mit Bettruhe und Tee kurieren lassen. Docteur Knock geht die ärztliche Aufgabe anders, das heisst engagierter, forcierter und gewinnbringender an. Jedes Wehwehchen nimmt er ernst, redet den Patienten ins Gewissen, macht sie quasi «krank», damit sie gesunden. Alle profitieren von seinen medizinischen Aktivitäten – vom Apothekerpaar über den Postboten bis zur kratzbürstigen Bäuerin Cuq und zur schwerreichen Witwe Pons. Krankheiten und Heilung florieren prächtig. Der clevere Docteur hat nur einen Kummer: Er hat sich in die junge Magd Adèle (Ana Girardot) verliebt, doch sie ist an TB erkrankt. Knock finanziert ihr heimlich einen Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz, muss sich aber auch mit dem plötzlich aufgetauchten Gauner Lansky (Pascal Elbé) und Pfarrer (Alex Lutz) herumschlagen, der Knock für einen Teufelsbraten hält. – Lorraine Lévy hat das düstere, tragische Bühnenstück «Knock» von Jules Romain aus dem Jahr 1913 in eine amüsante Sozialkomödie verwandelt – über Leichtgläubigkeit und Leichtfertigkeit, Manipulation, und Liebe. Amüsant mit einem agilen Omar Sy («Monsieur Chocolat») in der Hauptrolle, der für einmal den «ziemlich besten Dorffreund» spielt. Das Finale mündet freilich in ein schmissiges Solidaritätsfest, wie es Hollywood nicht besser bieten könnte.
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Das etruskische Lächeln
rbr. Der alte Mann und das Baby. Er ist ein Brummbär und Dickschädel. Rory MacNeil (Brian Cox) lebt abgeschottet auf einer rauen Insel der Äusseren Hebriden. Ein Schotte wie aus dem Bilderbuch, exzentrisch, eigenbrötlerisch und stur, er badet nackt, spricht Gälisch, pflegt eine alte Fehde mit Nachbar Alaistar Campbell und trotzt dem Leben. Doch darum ist es nicht gut bestellt. Die Schmerzmittel vom Tierarzt greifen nicht, und so muss Rory etwas unternehmen, um seinen Todfeind zu überleben. Er reist schweren Herzens zu seinem Sohn Ian MacNeill (JJ Feild) und seiner Familie nach San Francisco, um sich einer medizinischen Behandlung zu beugen. Er muss seinen Prostatakrebs im 4. Stadion bekämpfen. Und so nimmt die familiäre Heilsgeschichte ihren Lauf. Der alte schrullige Knurrhahn taut auf, als er sich des neugeborenen Enkels Jamie annimmt, grossväterliche und andere Gefühle entdeckt. Er bändelt mit der Kunstexpertin Claudia (Rosanna Arquette) an, die ihn auf das «Etruskische Lächeln» im Museum aufmerksam macht, glänzt mit seinen gälischen Erzählungen an der Uni und versöhnt sich mit dem Leben. Fazit: «Das Leben ist schön, aber tödlich.» – Ein liebenswürdiger Familienfilm mit Herz und Schmerz und viel schottischem Lokalkolorit – aus der Produktionsküche des Baslers Arthur Cohn, sechsfacher Oscar-Gewinner. Das Regiepaar Regisseure Mihal Brezis und Oded Binnun haben den Roman des Spaniers José Luis Sampedro von Kalabrien nach Schottland und von Mailand nach San Francesco verlagert. Sehr stimmig mit dem kantigen, aber im Grunde gutmütigen Brian Cox («Braveheart», «Troja») als grantelndem Grossvater. Eine «sentimental journey» nach Cohn-Geschmack fürs Herz – mit vorausbarem Finale.
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