FRONTPAGE

«Eine Zeitreise – von der Rigi bis zum Kosmos»

Von Rolf Breiner

 

Die CH-Dokumentarfilme sind im Aufwind. Rückblicke und Ausblicke auf die Herbstfilme sowie ein Interview mit dem schweizerisch-kanadischen Regisseur Peter Mettler über die Zeit. Und die Prämierungen der Filme am 8. Zurich Film Festival 2012.

«Die Zeit sichtbar machen»
Mit dem jüngsten Film «The End of Time» hat der Schweizkanadier Peter Mettler seine Vision-Trilogie abgeschlossen – nach «Picture of Light» (1996) und «Gambling, Gods & LSD» (2002). Seine filmischen Grenzgänge gipfeln nun in einem denkwürdigen kosmischen Panorama. Er beschert uns mit seinem neusten Filmwerk eine Zeitreise von der Schweiz bis Hawaii, Kanada und Indien, vom Irdischen zum Himmlisch-Kosmischen, vom Leben zum Tod. Wir trafen den 54jährigen Filmer Peter Mettler im Zürcher Kino RiffRaff.

 

Zeit ist ein Faktor zwischen Ihren Filmen. Wie lange haben Sie an diesem Film gearbeitet?
Peter Mettler: Fünf Jahre. Allein fürs Shooting drei Jahre.

Zeit ist ein unendliches Thema. Besteht da nicht die Gefahr, sich zu verlieren irgendwo zwischen Zeit und Raum?
Natürlich. Ich habe mich quasi von der Zeit leiten, inspirieren und sie auf mich einwirken lassen. Ich hatte nicht die Absicht, das Rätsel der Zeit zu entschlüsseln oder aufzulösen. Das wäre absurd. Ich wollte auch die Zeit nicht erklären.

Mit welchem Konzept sind Sie denn an dieses vielschichtige Thema gegangen?
Das Knäuel von Begriffen kann ich nicht entwirren. Beim Recherchieren setzte ich mich mit verschiedenen Aspekten auseinander – mit geologischen auf Hawaii mit den Vulkanen, biologischen an verschiedenen Orten, mit zivilisatorischen in der Autostadt Detroit, physikalischen im Schweizer Forschungszentrum CERN oder religiösen und philosophischen in Indien.
Wie kann man Zeit sichtbar machen oder erklären?
Ich wollte mit meinen Mitteln die Zeit erforschen – mit Bildern und Tönen. Ich wollte die Zeit mit der Zeitmaschine Kino erkunden.


Sind Sie da nicht an Grenzen, an Ihre Grenzen gestossen?
Möglich. Mich interessierte, was wir über die Zeit denken, wie wir sie erfahren. Es war mir auch wichtig herauszuarbeiten, dass möglicherweise Zeit gar nicht existiert.

Ein Satz in Ihrem Film hat sich mir stark eingeprägt: «Zeit ist eine Idee». Ich würde ergänzen: eine Vereinbarung.

Das kann man so sehen. Mir ist jedenfalls bewusst geworden, dass ich immer noch und wieder der Transzendenz auf der Spur bin. Der Film ist auch eine Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit, der Vergänglichkeit.


Am Ende des Films gibt es ein kurzes Gespräch mit Ihrer Mutter, die ganz banal und natürlich Zeit als menschlichen Faktor sieht.

Ja, sie hat mich geboren, in die Welt gesetzt. Und die Zeit verrinnt. Wir sind endlich. Oder anders ausgedrückt: Wir werden älter, bis wir sterben.


Das Fliessen, das Vergehen haben Sie unter anderem mit Lava auf Hawaii dokumentiert, die irgendwo stoppt und erkaltet.
Diese Szenen wie auch andere in der Natur haben mir geholfen zu zeigen, wie Zeit vergeht. Lava ist das lebendige Beispiel für geologische Zeit.

 

Ihr Film weckt Assoziationen. Er scheint sehr konkret und doch zeitlos. Es fügen sich Szenen hinduistische Statements an Worte von Dichtern, Szenen im CERN an solche vom Observatorium, von toten Quartieren in Detroit oder einer Feuerbestattung in Indien. Wie ist Ihr Film strukturiert, ist er überhaupt strukturiert?
Ich folge der Logik der Natur und menschlicher Erfahrung. Dabei lasse ich mich von einer organischen Logik leiten, von Assoziationen, die unser Leben, unser Handeln, unsere Absichten betreffen. Mich interessiert der tatsächliche Lauf der Dinge. Ich versuche, unsere Art, die Dinge zu sehen, in die Technik zu integrieren.

 

Am Ende explodiert Ihr Film förmlich, wird der Zuschauer mit rauschhaften Linien und Farben konfrontiert – so als wären Mandala wild geworden und hätten sich zu einem visuellen Feuerwerk vereinigt.
Wir nennen diese Sequenz Mixxa, das Ergebnis einer jahrelangen Zusammenarbeit mit Greg Hermanoviv von Derivate Inc. bei der Entwicklung eines Ton-Bild-Mixes. Diese Mischung von mehreren Bildkanälen erzeugt einen audiovisuellen Strom. Mit dieser Sequenz wollte ich eine Art Bewusstseinsstrom wiedergeben, kreieren und parallele Wirklichkeiten sichtbar machen.

Und was bleibt Ihnen am Ende?
Ich bin nur ein Filmemacher, der seine Zeitmaschine braucht, um über die Zeit nachzudenken. Da ist meine Wirklichkeit.

 

Filme: The End of Time (2012), Gambling, Gods and LSD (2002), Picture of Light (1994), Tectonic Plates (1992), The Top oh his Head (1989).

 

Rückblick und Ausblick auf CH-Filme

Das mit viel Getöse lancierte «Missen Massaker» von Regisseur Michael Steiner blieb weit unter den Erwartungen. Die Kritiken waren mehrheitlich negativ, auch das jüngere Zielpublikum mied das Schlachtfest. In der Liste der besten 25 Film in den Deutschschweizer Kinos (Stichtag 19. September) tauchen die «Missen» in der vierten Woche nicht mehr auf.

Die Verfilmung des Martin Suter-Stoffes «Nachtlärm», solide und manierlich verfilmt von Christoph Schaub, schildert eine Nacht lang, wie zerstrittene Eltern ihrem geklauten Auto mit Baby nachjagen, konnte ebenfalls nicht viele BesucherInnen anziehen. Der Schweizer Reisser mit deutschem Schauspielertouch reüssierte kaum und verbuchte in zwei Wochen bis 12. September nur 4000 Besucher. Der Dokumentarfilm über Knastologen in «Thorberg» konnte in zwei Wochen ebenfalls rund 4000 Besucher (bis 19. September 2012) ins Kino locken.

 

Die Zeit – zeitlos
Mehr Qualität und Zuschauerzuspruch versprechen die Schweizer Dokfilme in diesem Herbst. Doks haben im Schweizer Kino ihren festen Platz und ein treues Publikum.
Der Innerschweizer Dokumentarfilmer Erich Langjahr beendet seine filmischen Betrachtungen der ländlichen und alpinen Schweiz mit dem Werk «Mein erster Berg – Ein Rigi Film». Im Mittelpunkt steht neben dem beliebten Wander- und Ausflugsberg der Älpler Märtel Schindler. Er lebt und wirkt hier als Bauer und Landschaftspfleger, als Zimmermann (er baut sich ein Haus) und Skilift-Mitarbeiter. Langjahr («Bauernkrieg», «Das Erbe der Bergler») versteht seinen Bergfilm als persönliches Bekenntnis und Vermächtnis.

«Ich versuche in diesem Film die Mitte auszuloten, die Mitte der Landschaft und die Mitte eines Lebensbildes. Dies auch im Sinne eines Zeitbildes aus der Mitte der Schweiz.» Kinostart: 22. November.

 

Zeit ist ein Thema, ein Gedankenfunke, mit dem man spielen, um den man philosophieren kann. Kann man Zeit wiederholen, wiederherstellen, ist eine der Fragen im neusten Roman von Bestsellerautor Martin Suter. «Die Zeit, die Zeit» (Diogenes Verlag), wie stets unterhaltsam, handelt von zwei Männern, die zurückholen wollen, was vergangen ist.
Zeit – zähl- und messbar, irdisch und kosmisch, philosophisch, endlich und unendlich – ist der Stoff, den auch der kanadisch-schweizerische Dokumentarfilmer Peter Mettlers aufgreift (siehe obenstehendes Interview).

 

Diesem Phänomen gilt seine jüngste filmische Erkundung: «The End of Time». Seine phantastische und sehr reale Zeitreise animiert und schärft die Sinne. Das impressive Bilderpanorama führt von Hawaii-Vulkanen bis zum Weltraum, taucht in das gigantische Genfer Forschungszentrum CERN, dokumentiert indische Begräbnisse und tote Quartiere in der maroden Autostadt Detroit.

Mit diesen Stationen spricht Mettler verschiedene Zeitpartikel an: Mit Hawaii geologische Aspekte, mit Detroit die Irrungen und Erneuerungen der Zivilisationen, mit Indien religiös-philosophische Fragen, mit CERN und Sternwarten kosmische Überlegungen. Was ist Zeit, wie wird sie fassbar und wirksam, wie wird sie empfunden und lebbar? Einmal heisst es: «Die Zeit ist kein Ding, sie ist eine Idee.»

Eine wunderbare Definition: Zeit ist eine Vereinbarung unter Menschen. Der Kanadier mit Schweizer Wurzeln, Peter Mettler, hat das Phänomen Zeit differenziert und schillernd beleuchtet, gibt Denkanstösse, offeriert Sichten, schenkt Assoziationen. Die Frage nach der Zeit muss jeder für sich beantworten.

Der filmische Grenzgänger Mettler sagt: «Mich interessiert der Unterschied zwischen physischer Präsenz und den Abwegen des Geistes. Zwischen technologischer, messbarer Zeit und ‚realer Zeit‘ . Mich interessiert, wie unmittelbar bewusst wir unsere Wahrnehmung des Moments werden können.» Und ganz profan real: «Wir werden älter, bis wir sterben». Am Ende steht ein mütterlicher Rat: «Mach das Beste aus deinem Leben, denn es ist kurz». Kinostart: 11. Oktober 2012.

 

 

Eine ganze andere Zeitreise hat der Filmer Stefan Haupt unternommen. In seinem Fokus steht das ewige Kirchenprojekt von Antoni Gaudí in Barcelona. Seit 130 Jahren wird an dieser monumentalen, römisch-katholischen Basilika gebaut – nach Entwürfen Gaudís, der bereits 1926 verstorben ist.

Noch immer wächst die «Sagrada Familia» im katalanischen Stil. Der Schweizer Haupt («Utopia Blues», «Elisabeth Kübler-Ross») hat sich diesem Temple Expiatori de la Sagrada Familia, bewundernd und wundernd genähert. Seine kunstvolle und vielschichtige, auch poesievolle Auseinandersetzung mit einem Bauphänomen, das über seinen historisch-religiöse Bedeutung hinaus beeindruckt, erweist sich als Plädoyer für unsterbliche Idee und für die Menschheit über kirchliche Massstäbe hinaus. Eine Kirche für alle, auch wenn der Papst sie für seine Kirche vereinnahmt hat. Der Film «Sagrada – et ministri de la creació» dokumentiert und vertieft eine Idee, die schöpferische Mission und problematische Entwicklung, den architektonischen Prozess und Glauben an eine Vollendung. Eine spannende Reise zwischen Stein und Skulpturen, spanischer Gesellschaft und Schöpfenskraft. Kinostart: 22. November 2012.

 

 

Kein Honigschlecken
Reisen – nein, Arbeitsflüge werden von den Kameras eingefangen. Markus Imhoofs vieldeutiger Dokfilm «More Than Honey» handelt von Bienen, Honig und vom Sterben, aber auch von unserer Gesellschaft um Sein oder Nichtsein – im Rahmen der Bienenvölker von der Schweiz bis Kaliforniern und Australien (siehe Beitrag in der Ausgabe-August Literatur & Kunst).

Nein, hier wird kein Honig ums Maul geschmiert, sondern hinterfragt, weshalb Bienenvölker sterben und weswegen Menschen ihre Aufgaben übernehmen müssen – beispielsweise in China. Kinostart: 25. Oktober 2012.
Das Leben ist kein Honigschlecken, das Kinoleben schon gar nicht. Was das Schweizer Dokumentarschaffen angeht, so ist eine positive Resonanz zu erwarten. Die Bienen, die Rigi, die Sagrada Familie und auch die anspruchsvollen Zeitimpressionen und -assoziationen eines Peter Mettler werden ihr Publikum finden.

 

 

 

Awards & prämierte Filme Zurich Film Festival 2012
Die vier Jurys der vier Wettbewerbe des 8. Zurich Film Festival vergeben ihre Hauptpreise an Grossbritannien (Internationaler Spielfilm), USA (Internationaler Dokumentarfilm), Deutschland (Deutschsprachiger Spielfilm) und Österreich (Deutschsprachiger Dokumentarfilm).

Die Preise gehen an BROKEN von Rufus Norris (Grossbritannien), THE IMPOSTER von Bart Layton (USA), AM HIMMEL DER TAG von Pola Beck (Deutschland) und an DER PROZESS von Gerald Igor Hauzenberger (Österreich). Die Preise sind mit je einem Goldenen Auge sowie je 20’000 Franken in bar und 60’000 Franken für die Promotion des Films im Schweizer Kino dotiert.

 

Adoleszenz-Drama BROKEN
Im Internationalen Spielfilmwettbewerb wird das britische Adoleszenz-Drama BROKEN, der Erstling von Rufus Norris, ausgezeichnet. Die Jury vergibt ihren Preis an diesen bewegenden Film, der die Zuschauer auf eine berührende emotionale Reise mitnimmt. Der Regisseur erhielt den Preis am Samstagabend an der Award Night aus den Händen von Jurypräsident Frank Darabont.


Die Internationale Dokumentarfilmjury vergibt ihr Goldenes Auge an THE IMPOSTER von Bart Layton aus den USA, ebenfalls ein Erstling. Jurypräsidentin Jessica Yu erklärte, dass THE IMPOSTER für seine umfassende Weltsicht, seine technische Umsetzung wie seine herausragende Regie ausgezeichnet werde.
Das Goldene Auge für den Besten Film im Deutschsprachigen Spielfilmwettbewerb geht an den deutschen Erstlingsfilm AM HIMMEL DER TAG von Pola Beck, der als Weltpremiere gezeigt wurde. Es gelinge der Regisseurin, in ihrer Abschlussarbeit ein selten angesprochenes Thema in einem feinfühligen, emotional wuchtigen, in sich stimmigen, präzisen Film zu erzählen, sagte Jurysprecher Herbert Grönemeyer.

Der Preis der Deutschsprachigen Dokumentarfilmjury geht an den österreichischen Beitrag DER PROZESS von Gerald Igor Hauzenberger, der die Hintergründe um einen Prozess gegen Tierschützer aufrollt.

Der Kritikerpreis für den besten Erstlingsfilm in einem der beiden Spielfilmwettbewerbe erhält EL ULTIMO ELVIS von Armando Bo aus Argentinien für die emotional verbindliche Schilderung eines Mannes, dessen Personenkult mit Elvis zur identitären Fixierung wird.
Der Publikumspreis für einen Film in einem der vier Wettbewerbe schliesslich, den die Zuschauer und Zuschauerinnen durch Stimmkarten in den Kinos bestimmen konnten, geht an den Schweizer Dokumentarfilm APPASSIONATA von Christian Labhart.

 

Besondere Erwähnungen gehen an:
END OF WATCH (USA) für Darstellerensemble
EAT SLEEP DIE (Schweden) für Darstellerin Nermina Lukac
Internationaler Dokumentarfilmwettbewerb
Besondere Erwähnungen gehen an:
• EL BELLA VISTA von Alicia Cano (Uruguay)
• SOFIA’S LAST AMBULANCE von Ilian Metev (Bulgarien)
Deutschsprachiger Spielfilmwettbewerb
OUTING von Sebastian Meise und Thomas Reider (Österreich)

(Zurich Film Festival, ZFF, 30. September 2012)

 

 

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