Richard Dindo, Foto: PD
«Richard Dindo: Bilder sind Augenblicke der Erinnerung»
Von Rolf Breiner
Max Frisch veröffentlichte sein Buch «Homo Faber» 1957 und nannte ihn einen Bericht. Er beschrieb darin akribisch einen Mann, der unwillentlich seine Tochter kennen und lieben lernt. Richard Dindo bearbeitete diese Geständnisse des Ingenieurs Walter Faber und schuf eine filmische Lektüre. Seine szenische filmische Lesung setzt sich intensiv mit Fabers tragischer Liebe auseinander. Ein Interview mit Richard Dindo über seinen Film «Homo Faber (Drei Frauen)».
«Mit Worten sagen, was Bilder nicht zeigen können, und mit Bildern zeigen, was Worte nicht sagen können»
«Wir starteten in La Guardia, New York, mit dreistündiger Verspätung infolge Schneestürmen», beginnen die Erinnerungen des «Homo faber». Und weiter heisst es: «Unsere Maschine war, wie üblich auf dieser Strecke eine Super-Constellation. Ich richtete mich sofort zum Schlafen ein, es war Nacht». Der Mann, der hier in zwei «Stationen» über sein Leben, seine Begegnungen, Berührungen, Empfindungen berichtete, hatte sich von New York zu einem Arbeitseinsatz nach Südamerika aufgemacht, Partnerin Ivy verabschiedet und wollte einfach weg. Doch erst nach einem glimpflichen Zwischenfall (Notlandung in der Wüste von Tamaulipas, Mexiko) landete er nach vier Tagen in Guatemala, dann in Palenque (Mexiko), Venezuela und Wochen später wieder in New York.
Dieser Trip (über 50 Seiten) tut in Dindos Film kaum etwas zur Sache. Wichtig sind die folgenden Fakten: Faber war Assistent an der ETH Zürich (1933 bis 1935), arbeitete an einer Dissertation und war mit der Halbjüdin Hanna verbandelt, aber Heirat war kein Thema. Jahre später in New York hat der Schweizer von seiner Partnerin Ivy, einem katholischen Mannequin, die Nase voll, trennt sich und reist ab – nach Europa. Er schifft sich ein.
Und dann – nach einem Drittel des Faber-Berichts – fällt dem Heimkehrer erstmals «das Mädchen mit dem blonden Rossschwanz» auf, eine Generation jünger als er. Sabeth könnte seine Tochter sein. Man lernt sich kennen, findet Interesse aneinander und verliebt sich. Für diejenigen, welche den Roman von Frisch noch nicht kennen, sei so viel verraten: Faber und Sabeth trennen sich, treffen sich, verbringen Ferientage in Griechenland. Es kommt zu einer schicksalhaften Begegnung zwischen Faber und Hanna und einem tragischem Vorfall.
Volker Schlöndorff hat den Frisch-Stoff bereits 1991 verfilmt und die Rollen mit Sam Shepard (selber Schriftsteller) als Faber, Julie Delpry als Sabeth, Barbara Sukowa als Hanna und Deborra-Lee Furness als Ivy besetzt. Richard Dindo konzentriert sich ganz auf Faber, ein Mann in einer Lebenskrise, der allerdings nicht sichtbar, sondern nur hörbar wird, auf Ivy (Amanda Barron), die Geliebte in New York, auf Sabeth (Daphne Baiwir), die rotblonde Sirene, die sich ahnungslos in ihren Vater verliebt, und Hanna (Marthe Keller), die zurückgelassene Verlobte aus Zürich. Es gibt keine Dialoge, nur die Stimme Fabers, der von den Ereignissen und Verflechtungen erzählt. Erstaunlich, das Konzept funktioniert. Die Tragödie um Vaterliebe im doppelten Sinn, um Identitätskrise, Lebenssinn und Schicksal ist ein filmisches Poem, getragen von der Magie des Augenblicks.
Interview mit Richard Dindo
Max Frisch und sein Werk begleiten dich seit Jahrzehnten. 1981 hast du den Film «Max Frisch, Journal I-III» gedreht aufgrund der autobiografischen Erzählung «Montauk». Nun, über 30 Jahre danach hast du dir einen alten Wunsch erfüllt und seinen Roman «Homo faber» in Szene gesetzt, der dich ein Leben lang begleitet hat, wie du schreibst. Was verbindet dich so kontinuierlich und innovativ gerade mit diesem Schweizer Schriftsteller?
Richard Dindo: Ich hatte von Anfang an, bevor ich noch meinen ersten Film drehte, ein Projekt mit Max Frisch, nämlich ein biografischer Film, in dem er erzählen würde, was in seinen Romanen autobiografisch war, seine Beziehungen mit Frauen betreffend. Als ich dann sein wunderbares Buch «Montauk» las, hatte ich den Eindruck, dass er hier «das Drehbuch» zu meinem Traum von einem Film über ihn geschrieben hat. Es war wie eine Offenbarung. Frisch war für mich natürlich wie für viele andere auch, eine wesentliche Begegnung, seine Bücher haben mich von früh an begleitet. Sein Stil, sein Denken und seine Gefühle gehen mir sehr nahe, ich kann mich mit ihm als Schriftsteller und als Deutschschweizer Mann völlig identifizieren. Er ist für mich quasi eine «geistige Vaterfigur».
Du nennst deine Arbeit «Homo faber – eine filmische Lektüre des Romans». Was hat dich gereizt, diesen Roman als Lesung in bewegten Bildern für die Leinwand zu adaptieren?
Was mich besonders interessiert hat am «Homo faber», ist die Tatsache, dass der Faber eine Super-8 Kamera bei sich hat, mit der er ab und zu filmt, was Frisch ja selber auch tat. Deshalb gibt es dann im «Homo faber», diese sehr starke Szene, wo Faber seine Super-8 Bilder der toten Sabeth anschaut und ihre Gesten beschreibt. Das ist für mich die zentrale Stelle im Buch, die auch für meinen Film, für mein ganzes filmische Schaffen entscheidend ist, nämlich die Idee, dass gefilmte Bilder immer auch Augenblicke der Erinnerung sind, dass man mit ihnen zum Beispiel Tote wieder zum Leben erwecken kann, im Sinne von Jean Cocteau, als er sagte: «Filmen heisst, den Tod an der Arbeit zeigen.»
Frischs Roman bildet die Grundlage. Nach welchen Kriterien hast du die Textpassagen, die Schauplätze ausgesucht?
Ich bin eigentlich ein Filmemacher des Buches, der Lektüre und der Übersetzung. Als ich 1981 meinen Film über Max Frisch machte, habe ich ihn selber überhaupt nie gefilmt, ich ging davon aus, dass seine «Wahrheit» als Mann und als Schriftsteller in seinem Buch steckt und nirgendwo sonst, und dass alles, was man von ihm wissen kann, in seiner Sprache zu suchen ist. Wenn ich also ein Buch verfilme, suche ich Sätze heraus, die immer autobiografisch sind oder als solche verstanden werden können. Es geht immer um die Selbstdarstellung des andern. Ich rekonstruiere einen «inneren Monolog» mit den Texten des Autors, reduziere sein Buch auf das absolut Wesentliche, zitiere nur starke, poetische, einfach visualisierbare, prägnante Sätze. Frisch war damals, als er meinen Film sah, sehr erstaunt und überzeugt von meiner Auswahl seiner Texte aus dem «Montauk»-Buch. Er hat begriffen, dass ich ihn in seiner Sprache «verstanden» und die richtigen Sätze ausgewählt habe.
Was die Schauplätze betrifft, gehe ich jeweils ganz einfach an die Orte, die in den Büchern beschrieben sind. Ich befinde mich in meinen Filmen immer an den «tatsächlichen Schauplätzen», die immer auch Orte der Erinnerung sind.
Drei sprachlose Frauen und eine Männerstimme – eine ungewöhnliche Konstellation für einen Spielfilm. Wie hast du dieses Konzept entwickelt, was hat dich dazu bewogen?
Ich würde nicht sagen, dass es sich hier um einen «Spielfilm» handelt, sondern viel eher um eine «Fiktionalisierung» oder um einen «Fiktionalisierungsprozess». Ich bin zuerst einmal Dokumentarist. Jean Renoir, der Filmemacher, hat einmal gesagt, dass ein Spielfilm immer auch ein «Dokumentarfilm über Schauspieler» sei. Das ist genau, was ich gemacht habe in meiner «Homo faber»-Verfilmung, einen Dokumentarfilm über Schauspielerinnen. Dabei war die Grundidee, dass Walter Faber selber in den Bildern nicht vorkommt, weil er ja derjenige ist, der die drei Frauen filmt. Es gibt deshalb auch keine Dialoge. Ich habe nicht die geringste Lust, Dialoge zu filmen, eben, weil ich keine Lust habe, einen Spielfilm zu machen.
Ich gehe davon aus, dass alles immer schon da ist, ich muss es nur Lesen, Verstehen und Übersetzen. Das heisst ich habe den Text von Frisch und gehe dann auf die Suche nach «möglichen» Bildern. Also, zuerst die Worte und die Sätze, erst dann die Bilder. Ich lasse mich vollkommen vom Text leiten, von der Sprache des Schriftstellers. Ich arbeite und denke in der «Verehrung» der Sprache. Deshalb logischerweise meine Bevorzugung für Schriftsteller-Porträts. Ich plündere nicht ihre Romane, wie man das im Spielfilm tut, sondern ich bleibe ihrer Sprache treu, würdige sie und gebe sie den Zuschauern weiter.
Das ist, was mich interessiert und woran ich in all den Jahren gearbeitet habe. Mit Worten sagen, was Bilder nicht zeigen können, und mit Bildern zeigen, was Worte nicht sagen können. Es geht auch in dieser «Homo faber»-Verfilmung um diese Dialektik.
Worte und Bilder gehen eine intensive gegenseitige Verbindung ein. Was vermögen Bilder deiner Ansicht nach, was Worte nicht können und umgekehrt?
Das kann man gar nicht wirklich definieren. Das bleibt dann dem Zuschauer überlassen. Es geht um das gleichzeitige Hören und Betrachten, zum Beispiel: Was sieht man in einem Bild, wenn es im Kommentar mit Worten auch noch be- schrieben wird? Wenn ich eine Fotografie oder ein gemaltes Porträt von jemanden sehe, dann werfe ich einen ganz anderen Blick auf die Person, je mehr ich von ihr zusätzlich erfahre. Wie gesagt, man weiss vom andern bloss, was er uns von sich selber mitteilt. Und das geht über die gesprochene und geschrieben Sprache. Nie wird man etwas von jemanden wissen, bloss auf Grund eines Bildes.
Einerseits dokumentierst du den Roman, schaffst Realität, andererseits fiktionalisierst du eine Geschichte, eine doppelte Liebschaft, von der Faber erzählt. Siehst du diesen Film als selbständiges poetisches Dokument oder Literaturverfilmung oder beides?
Natürlich beides. Als Filmemacher mache ich immer auch «meinen» Film, es ist meine Lektüre und meine «Philosophie» dessen, was ich unter Film verstehe. In den Themen, die ich verfilme, steckt von Anfang an immer auch meine Vision von dem, was ich als Filmemacher ausdrücken möchte. Und das hat immer auch mit Poesie zu tun, vor allem natürlich in meinen Schriftsteller- und Malerporträts.
Literatur und Film haben sich in deinen Arbeiten oft, fast immer bedingt, beeinflusst, befruchtet.
Ich habe sehr früh, als Zwölfjähriger, angefangen zu lesen, von Anfang an «Weltliteratur». Ich bin Autodidakt. Mit zweiundzwanzig bin ich nach Paris ausgewandert, hauptsächlich um an der französischen Cinémathèque Filme anzuschauen. So dass ich sagen kann, ich bin ein Kind aller Bücher, die ich gelesen und aller Filme, die ich gesehen habe.
Faber beschreibt Figuren und Geschehnisse aus dem Off. Christian Kohlund lieh ihm seine Stimme. Warum gerade er?
Christian Kohlund hat eine ziemlich tiefe, «männliche» Stimme. Das hat mir gefallen. Ich finde, dass er die Texte von Max Frisch wunderbar liest. Auch wollte ich einen Deutschschweizer Schauspieler, der die Sätze mit einem kleinen Akzent liest.
Die Schauspielerinnen geben den Figuren ein Gesicht, einen Körper. Nach welchen Kriterien hast du die drei Schauspielerinnen ausgewählt?
Ich wollte zuerst eine junge Deutschschweizerin für die Sabeth engagieren und eine Deutsche für die Rolle der Hanna. Als dann die Zürcher Filmstiftung mein Projekt ablehnte, hatte ich den Eindruck, dass ich jetzt einen «Star» brauche, um diesen Film überhaupt machen zu können. Ich schlug deshalb die Rolle der Hanna Marthe Keller vor, die sofort einverstanden war. Für die Sabeth suchte ich dann eine junge Frau in Paris. Ich schaute mir auf dem Internet Fotos von Schauspierinnen an und sah diese junge Daphné Baiwir, die mir sofort gefiel. Ich glaube, sie hätte auch Max Frisch sehr gefallen. Die Amerikanerin habe ich via eine Schauspieler-Agentur in New York gefunden. Ich glaube, ich habe die richtigen Schauspierinne gefunden für diesen Film, die übrigens sehr selbstständig «funktioniert» haben. Ich habe sie überhaupt nicht «inszeniert», sondern nur gefilmt, was sie vor der Kamera absolut ohne Proben, spontan gemacht haben, im Wissen darüber, was ich später für Texte zu den jeweiligen Bildern zitieren werde.
Du fühlst dich dem Autor verantwortlich, hast du in deinem Exposé zu diesem Film vermerkt. Bist du Frisch gerecht geworden?
Ja, natürlich, ich fühle mich dem Schriftsteller gegenüber verantwortlich. Ich muss ihm gerecht werden, seine «Wahrheit» entdecken, seine Sprache ehren. Ich bin sicher, dass mein Film Max Frisch sehr gefallen hätte. Ich habe diesen Film quasi «unter seinen Augen» gedreht.
Arbeitest du bereits an neuen Projekten? An welchen?
In meinem nächsten Projekt geht es wieder um Literatur. Ich möchte das Leben des japanischen Dichters Bashô verfilmen, dem geistigen Vater der Haiku-Poesie, der im 17. Jahrhundert gelebt hat. Ich engagiere wieder einen Schauspieler, vielleicht auch einen Mönch, und mache mit ihm eine Reise durch Japan, auf den Spuren der Reisetagebücher des Dichters, die im Off zitiert werden. Unterwegs schreibt der Darsteller immer wieder seine Haikus. Diesen Film stelle ich mir als eine poetische und philosophische, quasi zen-buddhistische Meditation vor, aber wieder absolut kein Spielfilm, es wird keine Spielhandlungen geben, keine Dialoge, alles wird auf das «Wesentliche» reduziert, auf Szenen und Augenblicke, verstanden als eine Reflexion über das Leben, den Tod, die Natur und über die japanischen Zeremonien einer Heirat, einer Taufe und einer Beerdigung, dargestellt von einer Kabuki Theater-Gruppe.
50. Solothurner Filmtage
«Senioren, junge Wilde und viel Heimat»
Von Rolf Breiner
Die Jubiläumsausgabe war gut bestückt und lockte nochmals mehr Publikum an (rund 67 000 Besucher/innen) als letztes Jahr (65 500). Der Publikumspreis ging an das wehmütige Seniorenstück «Usfahrt Oerlike» von Paul Riniker, der Prix de Soleure an den Welschen Dokumentarfilm «Spartiates» von Nicolas Wadimoff.
Die Attacke und gezielte Provokation der «NZZ am Sonntag» gegen die Solothurner Filmtage gaben zwar zu reden, haben aber nicht geschadet, höchstens dem Schreiber, der auch gegen die finanzielle Unterstützung aus Bern motzte – quasi im Interesse des Zurich Film Festivals, das zusammen mit der NZZ das Filmmagazin «Frame» herausgibt und dessen Chefredaktor eben derselbe Kritiker ist. Wichtiger waren wie immer nicht die Nörgler, Neider oder Nachtreter, sondern die Filme. Und da gab es bei der Jubiläumsausgabe einige sehr überzeugende Werke. Dass Paul Rinikers Seniorenmelodram «Usfahrt Oerlike» mit dem verdienten Mimengespann Mathias Gnädinger und Jörg Schneider den Publikumspreis bekam, mag man gnädig akzeptieren. Die Zuschauer spendeten dem gesundheitlich angeschlagenen Darsteller Schneider viel Applaus und eine Standing Ovation. Der Empathiebonus war eben sehr gross.
Entdeckungen
Der Betrachter erlebte dazu einige Filme, die in Solothurn ebenso hörbaren Beifall fanden, Herz und Gemüt bewegten. Das Publikum in der Reithalle war total begeistert von: «Vecchi pazzi», Regie: Sabine Boss. Auch hier stehen ältere Menschen im Mittelpunkt, die sich noch nicht zum alten Eisen zählen. Die temperamentvolle etwas abgehobene Sängerin Vivi Ferrari (Andrea Jonasson) hat einen Zusammenbruch (MS) und wird von einer Mailänder Revuebühne in ein Tessiner Seniorenheim abgeschoben. Hier trifft die «abservierte» Künstlerin auf ein Seniorenchörli und den abweisenden Witwer Aldo Petacchi (Luigi Diberti). Eine Chance: Der kratzbürstige Aldo besitzt ein Tanzlokal, das sein Sohn (Leonardo Nigro) freilich einem Stadionneubau opfern will. Irgendwie bezirzt Vivi den trauernden Witwer und animiert ihn, eine Bühne zu bauen. Sie will wieder auftreten. Die beherzte Komödie mit viel Lust auf mehr im Alter kreist um dieses Paar mit einsamen Herzen, um die «zickige Diva und den sturen Esel». «Die verrückten Alten» sind fürs Fernsehen gedacht, hätten aber durchaus gute Kinochancen.
Das gilt auch für den Spielfilm um eine Midlife-Krise. Toni Faller (Roland Wiesnekker) strampelt sich im Kaufhaus ab wie sein Hamster Harry Potter (HP) im Rad, fühlt sich von Frau (Stephanie Japp) und Tochter (Steffie Fries) zu wenig beachtet und geachtet. Er kämpft gegen Kilos und Unzufriedenheit. Er trainiert und findet überraschend im jungen Kollegen einen verständigen Kumpel (Nicola Perat, der wie Wanda Wylowa als Polizistin den Schweizer Fernsehpreis 20015 erhielt). Bricht die Familie auseinander? Kann Toni wieder gut machen, was er verbockt hat? Thomas Gerber präsentiert einen gefälligen, amüsanten Krisenfilm mit einem Wiesnekker in Hochform.
Auch im welschen Spielfilm «Pause» von Mathieu Urber geht es um einen 75-jährigen Alten (André Wilms), der mit dem jungen Musiker Sami, Sänger und Songwriter (Baptiste Gilliéron), ein Countryduo bildet. Er möchte unbedingt noch eine Platte einspielen, bevor… Doch Sami hat andere Sorgen, seine Freundin Julia (Julia Faure) verlangt eine «Pause» in ihrer Beziehung. Amor schmollt. Ein schlichter, stimmiger Spielfilm mit sinnigen Eigensongs.
Aus dem Ruder gelaufen
Das Drama «Chrieg» schildert die Geschichte Matteos, der daheim aus dem Ruder läuft und in einem Erziehungscamp zur Räson gebracht werden soll. Denkste, denn in der Alphütte (mit einem versoffenen Hirten) herrscht das Recht des Stärkeren unter den anderen wilden Jugendlichen. Eine Gang, die nachts in die Stadt fährt, sich vergnügt, aber auch in den «Krieg» zieht. Keine leichte Kost, ein rauer gnadenloser Film von Simon Jacquemet, der in Saarbrücken den Max-Ophüls-Preis erhielt, Benjamin Lutzke wurde als bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet Hauptdarsteller.
Gross abgesahnt in Saarbrücken hat auch das Schweizer Drama «Driften» von Karim Patwa: Filmpreis des Saarländischen Ministerpräsidentin, Fritz-Raff-Drehbuchpreis und Preis der Ökumenischen Jury. Robert (Max Hubacher) ist ein Drifter, der Strassenrennen mit anderen fuhr und ein Mädchen überfahren hat. Er lernt Alice (Sabine Timoteo) die Mutter des Opfers, kennen. Sie weiss nichts von seiner Schuld und Vergangenheit. Ein starkes Beziehungsdrama um Täter und Opfer, Schuld und Sühne. «Driften» ging jedoch beim Prix de Soleure leer aus.
Ebenso erging es Stina Werenfels‘ «Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern», ein Drama um die 18jährige Dora, geistig etwas behindert, die Sex entdeckt und sich nach Liebe sehnt. Der packende Film basiert auf dem Theaterstück von Lukas Bärfuss, allerdings verstärkt aus der Doras Perspektive (siehe Filmtipp).
Den Solothurner Filmpreis erhielt jedoch der Dokfilm «Spartiates» von Nicolas Wadimoff. Solide, aber kaum überragend. Eine Good-Will-Geste an die Romandie? Im Mittelpunkt steht Yvan Sorel, der in Quartieren von Marseilles einen Club für Mixed-Martial-Arts gründet.
Insgesamt kann man eine sehr positive Bilanz von den 50. Filmtagen ziehen, was neue Schweizer Filmproduktionen betrifft. Dazu zählt auch der etwas andere Heimatfilm «Mitten ins Land» von Norbert Wiedmer. In diesem Roadmovie wird der Schriftsteller Pedro Lenz («Der Goalie bin ig») zur Leitfigur. Er reist von Olten durchs Mittelland und gastiert auch mal in Zürich (1.August-Rede auf dem Helvetiaplatz). Reisebegleiter sind eine Lokführerin, ein Müllmann, der Aargauer Politiker Cédric Wermuth und andere.
Ein sympathischer, poetischer Film vom Restaurant «Flügelrad» in Olten über die gigantische Sondermülldeponie in Kölliken bis zur politischen Bühne (siehe Filmtipps).
Weiter erwähnenswert ist die schlitzohrige Politfarce «Confusion» von Laurent Négre, das spontane Filmexperimentabenteuer aus Lausanne, «Tapis Rouge» von Fréderic Baillif und Kantarama Gahigiri, die Dokumentation über ein Südtiroler Bestatterpaar, «Vollenden» von Susanne Eigenheer Wyler, oder der Film über ein Leben mit dem Tod, über Tom, der an einem Gehirntumor leidet: «Zu Ende leben» von Rebecca Pavian, trotz ernstem Thema ein Plädoyer für Lust am Leben.
Die 51. Solothurner Filmtage werden 21. bis 28. Januar 2016 stattfinden.
Migros: 5. Dokfilm-Wettbewerb
Das Migros -Kulturprozent macht’s möglich: Realisierung eines Dokumentarfilms. Der Gewinner des 5. Wettbewerbs zum Thema «Raum» ist das Projekt «2,8 Tage» von der Zürcherin Jacqueline Zünd. Sie will sich Scheidungskindern widmen und die Situation eben dieser «Opfer» beleuchten Dabei ginge es um äussere wie auch um innere Räume, heisst es in einer Pressemitteilung. Das Thema Raum würde hier aus einer speziellen Perspektive angegangen und ausgeleuchtet, bemerkte Nicole Hess, Projektleiterin Film bei der Migros, die freilich diese Funktion aufgibt, aber weiterhin für den Migros Genossenschaftsbund tätig bleibt. Dank der Kulturprozent-Förderung konnte auch ein Film wie «Die Demokratie ist los» (3. Wettbewerb) realisiert werden und war in Solothurn in diesem Jahr zu sehen.
Der nächste Wettbewerb wurde an den Filmtagen lanciert. Das Thema heisst «Zeit», ein Phänomen, das vieles beinhaltet von Geburt bis Tod, Begrenztheit und Unendlichkeit. Schweizer Autoren und Filmer sind eingeladen, diesbezügliche Ideen für einen Dokumentarfilm einzureichen, es kann sich um alltägliche Geschichten, persönliche, soziale oder andere Eindrücke handeln (Eingabeschluss: 8. Mai 2015).
Filmtipps
Von Rolf Breiner
Wild
Selbstfindung. Die Filmfälle häufen sich, in denen es heisst: Nach einer wahren Begebenheit. In diesem Fall handelt es sich um Cheryl Strayeds Wandertagebuch «Der grosse Trip». Lebenskrise: Cheryl hat genug – Drogensucht, gescheiterte Ehe. Sie sucht förmlich das Weite und begibt sich auf Wanderung, genauer auf den Pacific Crest Trail (PCT) von Südkalifornien nach Oregon. Rund 2000 Kilometer sind angesagt. Naiv, unbedarft und unerfahren, tippelt die junge Frau los, um sich selbst und den Sinn des Lebens zu finden. Schriftsteller Nick Hornby («About a Boy», «High Fidelity»), schrieb das Drehbuch, Jean-Marc Vallée («Dallas Byers Club»). Reese Witherspoon («Walk the Line») schlägt sich durch die Natur – mit blutigen Füssen, aber unverdrossener Zuversicht. Der bekannte PCT-Trip, etwa vergleichbar mit dem europäischen Jakobsweg, aber ohne religiösem Hintergrund, dient Cheryl Strayed als Therapie, nach dem Motto: der Weg ist das Ziel. Das ist vor allem, was Naturkulisse angeht, nett anzusehen, bietet spärlich gestreute Spannungsmomente und erweist sich als Selbstfindungstrip nach Pfadi-Art.
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The Imitation Game
Entschlüsselung. Eine wahre Begebenheit, und was für eine! Die Briten versuchten, im Zweiten Weltkrieg den Code der Deutschen Wehrmacht und Marine zu knacken, um unter anderem die Einsätze der U-Boote gegen die Konvois der Alliierten zu erfahren. Ein schier unlösliches Rätsel, um die deutsche Verschlüsselungsmaschine Enigma zu «entlarven». Einer der führenden Köpfe des Teams, welches diese Aufgabe in Angriff nahm, war Rechengenie und Kryptoanalytiker Alan Turing. Ein Einzelgänger und Sturkopf, der sich zum Teamplayer entwickelt und mit seinem Team schafft, was niemand für möglich hielt. Diese an und für sich schon spannende Geschichte wird angeheizt durch eine Liebschaft und ein tragisches Ende. Benedict Cumberbatch, besser bekannt als TV-Ermittler Sherlock, trägt das hintergründige Drama (ein heisser Oscar-Anwärter), Keira Knightley als hingebungsvolle Gefährtin Joan Clarke sorgt für emotionelle Momente. Sensibel und geradezu intim inszenierte Morten Tyldum eine menschliche Tragödie, die in stillem Erfolg, Verrat und Vereinsamung endet. Turing wurde zur Schattenfigur, wegen seiner Homosexualität ins Abseits gestellt und in die Depression getrieben. Der historische Turing begann 1954 Selbstmord, erst 42 Jahre alt. Der vorgängige Kinofilm «Enigma» (2001) von Michael Apted (Drehbuch: Tom Stoppard) ist ein Action-Kriegsdrama, mehr um Spannung als um Hintergrund bedacht. Der intime Thriller «The Imitation Game» erweist dem legendären Kopfmenschen Turing die Ehre, dem Pionier und Vater des Computers. Brillantes Kino ohne Spektakel, aber mit Empathie und Hintersinn.
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Fifty Shades of Grey
Schön lackiert. Alle Medien stürzten sich auf das Thema S/M und heizten die Erwartung auf die Verfilmung des Millionensellers von E. L. James «Fifty Shades of Grey» gewaltig an. Wie bringt man hemmungslose Gelüste und Lustbarkeiten, Fesselspiele, Peinigungen und Abhängigkeiten zwischen einem Dominus und seiner Sex-/Liebessklavin auf die Leinwand? Hart und direkt oder weich und gepflegt? Regisseurin Sam Taylor-Johnson und Drehbuchautorin Kelly Marcel entschieden sich für die Soft-Variante: Kuschelsex in Schöner-Wohnen-Ästhetik – in Seattle. Die 21-jährige, unschuldig-naive Studentin Anastasia Steele (Dakota Johnson) verguckt sich beim Interview in den 27-jährigen smarten Unternehmer und Milliardär von Grey Enterprises Christian Grey (Jamie Dornan). Der ist angetan von Ana, will zwar Sex, aber keine romantische Zweisamkeit. Leser und Leserinnen wissen es längst: Der Geschäftsmann ist ein Kontrollfreak, der in der Rolle des Dominus als herrischer Lover beim Sex Lust und Befriedigung findet. Er steht auf Fesselspiele und Peitsche. Das wird alles schön zwischen den Protagonisten beredet und soll in einem Vertrag besiegelt werden, aber das bleibt eben Papier oder soll man sagen Fiktion. Es dauert eine Stunde, bis Ana und Christian in den Darkroom gehen, in der letzten Viertelstunde von insgesamt zwei Stunden Kinolänge geht’s zur S/M-Sache. Sechs Peitschenhiebe zum Schluss und bei Anastasia ist Schluss. Sie lässt den Lover, der sie unterwerfen will, vor dem Fahrstuhl stehen, denn es gibt ja noch die Buchteile zwei und drei zu verfilmen. Wir haben es hier sozusagen mit einem überlangen Werbefilm für nachfolgende «Shades» zu tun. Jamie Dornan bietet einen makellosen Körper, bleibt aber als besitzergreifender Macho blass. Dakota Johnson (Vater: Don Johnson, Mutter: Melanie Griffith) turtelt als Anastasia wie ein harmloser Teenager in einer märchenhaften Lovestory durch die Luxuskulissen. Immerhin darf sie – gemäss Drehbuch und abweichend vom Roman – Widerstand leisten, gewinnt an Selbstbewusstsein und wendet sich vorläufig ab. Die Verfilmung wirkt wie ein modernes Märchen über Rollenspiele und Abhängigkeiten, sauber und wenig sinnlich inszeniert, als gelte es ein sexy angehauchtes Werbeprospekt für Wellnessreiche zu produzieren.
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Citizenfour
Kämpfer der vierten Gewalt. Er nennt sich «Citizen Four» und versteht sich als Aufklärer der vierten Gewalt. Er heisst Edward Snowden, hat die Weltöffentlichkeit mit seinen Enthüllungen aufgeschreckt, die Staatsträger der US inklusive Präsident Obama erbost und in ihrem hochnäsigen Selbstverständnis getroffen. Die Filmerin Laura Poitras ist ihm und dem «Guardian»-Journalisten Glenn Greenwald gefolgt. Sie dokumentiert präzise, wie der junge Whistleblower die Machenschaften der NSA (National Security Agency) auffliegen lässt, flüchtet, ein sicheres Domizil in HongKong sucht und nicht locker lässt, die totale staatsgelenkte Überwachung zu entlarven. Der Dokumentarfilm «Citizenfour» macht bewusst, dass George Orwells finstere Vision «1984» längst von der Wirklichkeit überholt wurde, wie wir bespitzelt und kontrolliert werden. Er zeigt auch, wie ein couragierter Aufklärer kriminalisiert und verfolgt wird aus Staatsräson und ausgerechnet in Moskau in Russland, das keine Pressefreiheit kennt, Asyl findet. Diese Reportage stellt der windigen westlichen Politwelt ein Armutszeugnis aus und sagt mehr über Globalität und Politmachenschaften aus als all die Interviews, leutseligen Statements und fadenscheinigen Argumente der obersten «Staatsdiener». Ein Pflichtstoff für jeden politischen Unterricht. Citizenfour wurde mit dem «Oscar» für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet – sehr zu Recht
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Buoni a nulla
Potenzieller Pensionär. Lebemann Gianni freut sich auf den Ruhestand, doch dann eröffnet ihm der Chef, dass er noch ein bis drei Jährchen weitermachen muss. Der Angestellte, der sich so nett gemütlich im Job eingerichtet hat, muss seine Sachen packen und wird in einen hochmodernen Verwaltungskomplex in die römischen Agglomeration versetzt. Das bedeutet für den Besitzer und Bewohner einer Altbauwohnung im Zentrum Roms nicht nur einen weiteren Arbeitsweg und neue Arbeitsverhältnisse, sondern auch Druck von Kollegen und einer exzentrischen Chefin. Doch Gianni lässt sich nicht unterkriegen. Im gutherzigen und allzu gutmütigen Kollegen Marco (Marco Marzocca) findert der verhinderte Rentner einen Verbündeten. Der himmelt sexy Cinzia (Valentina Lodovini) an, die Marco verführerisch ausnützt. Gianni, bedrängt von seiner Ex-Frau und seiner Tochter, gibt seine gediegenes Wohnung im Zentrum Roms auf, findet aber neue Lebenslust dank Tanzstunden und der feschen Marta (Daniela Giordano). Aber das Happy-end sabotieren menschliche Unzulänglichkeiten und Missverständnisse. Gianni Di Gregorio lässt seinen Gianni, den er selber spielt, nicht verkommen. Eine charmante kluge Komödie und spitzbübische Satire – mit Pfeilen gegen Arbeitsmoral und Kollegenneid, Senioren-Mobbing und übliche Drangsale. Ein Plädoyer für Respekt, Widerstand und Lebenslust auch über 60. Gianni und Gott wissen: Auch die Alten sind alles andere denn zu nichts nutze.
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Usfahrt Oerlike
Abschiedsgastspiel. Zwei alte Männer stützen sich: Der vife mobile Willi (Mathias Gnädinger) fährt ein altes Cabriolet und kümmert sich liebevoll um seinen Freund Hans (Jörg Schneider). Doch Hans ist schwermütig und lebensmüde geworden: Seine Frau Martha ist gestorben, obendrein musste sein geliebter Hund Miller eingeschläfert werden. Die Knochen mögen nicht mehr, das Gemüt steht auf Tief, nur das Herz schlägt noch unentwegt. Nun soll der quicklebendige Willi ihm seinen letzten Wunsch erfüllen und ihm einen Abgang verschaffen. Und den will er selber bestimmen. – Paul Riniker («Sommervögel») hat sich vom Theaterstück «Exit» von Thomas Hostettler inspirieren lassen und direkt eine Vorstellung von den Darstellern. Auch als Jörg Schneider, körperlich angeschlagen, Mühe hatte, liess er nicht locker und setzte die Dreharbeiten durch. Seine erste grosse Kinohauptrolle wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen. Und so lebt das Altherrenstück, in dem Heidi Maria Glössner («Die Herbstzeitlosen») eine sehr lebensbejaende Rolle spielt, von den Schauspielern, von Nähe und Mitgefühl. Eine sanfte Abschiedstour mit viel Lokalkolorit und Empathie.
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Birdman
Flattermanns grosse Sause. Der Erfolg verfolgt ihn unerbittlich: Riggen Thomson (Michael Keaton) war als «Birdman» ein Weltstar und versucht, endlich das berühmte Kostüm und die Phantasiefigur los zu werden. Er will sich künstlerisch verwirklichen und setzt alles daran, mit seinem ersten Bühnenstück am Broadway zu reüssieren. Doch das Unternehmen steht und fällt mit dem exzentrischen Schauspieler Mike (Edward Norton). Man trifft sich, probt, verbeisst und verharkt sich. Ein Spiel, eine Existenz am Abgrund für Riggan. Und im Hintergrund lauert der fast schon dämonische «Flattermann». Der Vogel sitzt Riggan im Nacken. Und so wird der Mime zum Spielball zwischen eigener Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Wahn und Wirklichkeit. Das ist vielleicht die existentielle Rolle von Riggan und von Darsteller Michael Keaton, der seine grössten Erfolge eben als «Batman», den comicgeborenen Flattermann, feierte. Da winkt ein Oscar 2015 und der würde ihn, Keaton, – fast wie im Film – beflügeln und in Hollywoods Himmel hochschrauben. Alejandro Gonzales‘ Star-Drama «Birdman» (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) dringt tief in psychologische und kommerzielle Tiefen. Neben Keaton, der Galionsfigur in diesem fesselnden Stück über Selbstwert und Verlust, wissen sich auch die Mitspieler Edward Norton, Emma Stone und Naomi Watts bestens zu behaupten. Ein wuchtiges Kinoereignis, abseits des Mainstreams. Der satirische, hollywoodkritische Film wurde mit vier «Oscars» ausgezeichnet.
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Black Coal, Thin Ice
Eiskalt. Ein Film aus China, wie man ihn kaum erwartet hätte. Er sprengt alle Vorstellungen und wurde in Berlin 2014 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Zur Story: Es finden sich Leichenteile, über verschiedene Kohlekraftwerke verteilt. Der Fahnder Zhang (Fan Liao) ist nahe dran, gerät mit seinen Männern in Schusswechsel und überlebt knapp. Das wirft ihn aus der Bahn, er quittiert den Dienst, wird Alkoholiker und – Sicherheitsexperte. Fünf Jahre später tauchen wieder Leichenteile auf. Er kann nicht anders und wird wieder zum Jäger. Die geheimnisvolle rothaarige Wu (Lun-mei Gwei), eine verführerische Witwe, die ihre Männer verlor und nun in einem Reinigungsladen arbeitet. Zhang heftet sich an ihre Fersen, kommt ihr (gefährlich) nah und einem Schlittschuhläufer auf die Spur. – Der düstere Thriller von Dião Yinãn, der bisweilen in Winterstarre verharrt, sich quasi einfriert (in der Pupille, wird nur selten durch Lichter und Farbe belebt wird, etwa durch die Leuchtreklame zu einem Nachtklub namens «Feuerwerk am helllichten Tage» (so der originale Filmtitel). Vorgeführt, besser choreographiert wird ein grausames Spiel um Neigungen und Zuneigungen, Obsessionen und Projektionen, nicht zuletzt entwirft Dião Yinãn auch ein gesellschaftliches Zerr- und Spiegelbild. «Ich wollte einen Krimi machen, der das Leben im heutigen China zeigt. Mein Ziel war es nicht nur, ein Geheimnis zu lüften und die Wahrheit über die Beteiligten herauszufinden, sondern auch auf unsere neue Lebenswirklichkeit zu verweisen», erklärte der Regisseur. Sein Thriller, von der chinesischen Zensurbehörde quasi durchgewinkt, obwohl er keine gutes Bild von Polizisten zeichnet, lehnt sich stilistisch an den Film noir an, entwickelt aber eine eigene Bildsprache (etwa beim Eislauf von Zhang und Wu), in der atmosphärischer Zeichnung und legt ein irritierendes sinnliches Vexierbild an. Dieser anspruchsvolle Krimi, pendelnd zwischen kohlschwarzen Abgründen und brüchigem Eis, ist Meisterklassse.
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Foxcatcher
Zuchtmeister und Zögling. Eine wahre Begebenheit, die einen Filmstoff abgab: Die Brüder Mark und David (Dave) Schultz waren gefeierte Olympiasieger (1984 in Los Angeles), mehrfache Turniersieger sowie Weltmeister im Ringen. Daves Leben endete abrupt, als er von seinem Förderer, dem Multi-Millionär John E. du Pont, 1996 erschossen wurde. Sein Bruder Mark verarbeitete die Erlebnisse und Geschehnisse 2014 im Buch «The True Story of My Brother’s Murder, John du Pont’s Madness, and the Quest for Olympic Gold». Auch wenn man das Schicksal der Brüder kennt, verliert das Kinodrama «Foxcatcher» von Bennett Miller nicht an Spannung. Dabei begnügt der Regisseur sich nicht damit, den beiden Spitzenringern ein filmisches Denkmal zu setzen. In seinem psychologischen Drama geht es vertieft um Obsessionen und Ehrgeiz, Neid, Macht und krankhafte Profilsucht, Täuschung, Enttäuschung und Bruderliebe. Channing Tatum verkörpert den ehrgeizigen Ringkämpfer Mark, der blindlings in eine verhängnisvolle Abhängigkeit läuft und letztlich nur Halt bei seinem Bruder findet. Mark Ruffalo spielt den älteren Bruder Dave, der sich als Trainer für das private Ringerteam «Foxcatcher» einsetzt, die Manipulationen des steinreichen Förderers du Pont durchschaute und dafür mit dem Leben bezahlte. Steve Carell gibt den dämonischen Exzentriker John du Pont – teuflisch bedrohlich, irritierend, beunruhigend. Man weiss nie, wann er ausfällig wird, die Peitsche schwingt und jegliche Hemmungen verliert. Andererseits beugt er sich seiner herrischen Mutter (Vanessa Redgrave). Carell verleiht dieser Inkarnation der Macht und Manipulation beängstigende Gestalt. Bennett Miller, ein Weggefährte des verstorbenen Mimen Philip Seymour Hoffman, reüssierte mit dem Film «Capote» (2005 mit Hoffman). Sein jüngstes Werk «Foxcatcher» ist ein kleines Meisterwerk und wirkt unglaublich authentisch.
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The Interview
Viel Lärm um Korea. Ein grosses Blätterrauschen (und beste Propaganda) verursachten die Drohungen aus Nordkorea und das Buckeln der verantwortlichen Produktionsfirma Sony, welche den Film zurückziehen wollte. Auf Druck der öffentlichen Meinung kommt «The Interview» nun doch ins Kino – auch bei uns. Die unzimperliche deftige Mediensatire von Evan Goldberg und Seth Rogen erweist sich als Schelmenstück, dem allzu viel Aufmerksamkeit zuteil wurde. Zwei TV-Witzbolde mischen den Korea-Jungdikatator Kim Jong-un (Randall Park) auf. Produzent Aaron Rapaport (Seth Rogen) hat die geniale Idee, sein bestes Pferd, den «Skylark Tonight»-Star Dave (James Franco), auf den Korea-Tyrannen anzusetzen. Dave, der in seinen Interviews leichte Sensationskost liefert, soll endlich mit einem seriösen Beitrag gross herauskommen. Da wird sogar die CIA hellhörig und aktiv, sie drängt die beiden TV-Fuzzis, den gefährlichen Diktator nebenbei aus dem Weg zu räumen. Was dann folgt, ist ein US-koreanisches Roadmovie zwischen Diktatoren-Rummelplatz (etwa mit Kim Jong-uns Lieblingspanzer), Präsidentenpalast (mit Saufgelage) und Atomraketen-Kommandozentrale, ein Mix aus Aberwitz und Slapstick, Blödsinn und Action. Kurzum, das «Interview» entpuppt sich als derbe hemmungslose Verunglimpfung «der Würde des obersten Führers». Die Absicht ist löblich, die Art und Weise, das Niveau ist pubertär, dümmlich und garstig bis bos- und lachhaft. Die hohen Erwartungen, welche durch die politischen Stürme aufgebaut wurden, kann das «Interview» nur minimal erfüllen.
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Dora – oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern
Behinderung und Befreiung. Das Theaterstück des Schweizers Lukas Bärfuss «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» (2003) ging um die Welt. Filmerin Stina Werenfels («Nachbeben») hat sich des Stoffes, der Hauptfigur Dora, angenommen, aber es brauchte viel Zeit, Geduld und Hartnäckigkeit, das heikle Thema zu verfilmen. Bern und andere Schweizer Fördergremien blockten, allein das Schweizer Fernsehen und Kinounternehmer Edi Stöckle (u.a. Arena-Kinos in Sihlcity Zürich) bewiesen Mut und unterstützten die 1,3 Millionen-Franken-Produktion. Das Thema gilt als Tabu: Die 18-jährige Dora, vermeintlich geistig behindert, fordert Absetzung der (beruhigenden) Medikamente und entdeckt die eigene Sexualität und Sinnlichkeit. Unschuldig forsch stürzt sie sich in ein sexuelles Abenteuer mit dem wildfremden Peter (Lars Eidinger, aktuell als «Richard III.» an der Berliner Schaubühne). Der geniesst den Sex mit der verliebten Dora – schier skrupellos. Doras Eltern (Jenny Schily und Urs Jucker) haben keine Ahnung, bis ihre Tochter Dora schwanger ist. Was soll nun werden – aus Dora, ihrem Liebhaber, ihrem Kind? Bevormundung, Abtreibung, Befreiung? In ihrer Bearbeitung des Bärfuss-Dramas geht Stina Werenfels noch einige Schritte weiter, erzählt verstärkt aus der Perspektive der Kindfrau, die um ihre Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung kämpft («Ich will nicht behindert sein!»). Autor Bärfuss unterstrich dies in Solothurn anlässlich der Premiere: «Dora ist unverwüstlich, radikal und dem Leben zugewandt.» Es kommt im Kinofilm noch ein weiterer Aspekt hinzu: Dora wird ungewollt zur Konkurrentin ihrer Mutter Kristin, die kein Kind mehr bekommen kann. «Gebärmutterneid» nennt das die Filmerin Werenfels und versteht ihren eindringlichen Film als «Ode an das Leben». Kameramann Lukas Strebel fand fesselnde Bilder, um Doras Empfindungen auszudrücken, aber auch Doras und Kristins traumatische Visionen sichtbar zu machen, in verschwommenen Impressionen. Newcomerin Victoria Schulz verkörpert die aufmüpfige Dora, überzeugend authentisch und naiv sinnlich. Ihre erste grosse Kinorolle – eine Meisterleistung. Man darf auf ihre nächste Rolle als Schlagersängerin Ruby im Kinofilm «Von jetzt an kein zurück» von Christian Frosch (Kinostart im März). «Dora», der bisher beste Schweizer Film des noch jungen Jahres wurde übrigens an die Berliner Filmfestspiele 2015 eingeladen (Panoroma).
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Mitten ins Land
Poetische Reise in die Wirklichkeit. Ursprünglich sollte der Dialekt-Schriftsteller Pedro Lenz («Der Goalie bin ig») eine Randfigur sein, wurde dann aber zum Reiseführer im Dokumentarfilm «Mitten ins Land» von Nobert Wiedmer und Enrique Ros. Lenz, selber ein eingefleischter Zugfahrer, bricht von Olten, seinem Wohnort, genauer vom Restaurant «Flügelrad», auf, das Mittelland bis Zürich und Bern zu erkunden. Originalton Lenz: «Mis Läbe isch fahre, fahre u fahre, immer, immer fahre – u mängisch fahrts mer ii.» Reisebegleiter sind sozusagen eine Lokführerin, der fussballspielenden Müllmann Vulkan (Inler), die kellnernden Zwillinge Yolanda und Dolores, SP-Jun-Nationalrat Cédric Wermuth oder Arbeiter in der grössten Schweizer Sanierbaustelle, der Sondermülldeponie Kölliken. Worte verbinden sich mit Bildern, Heimatgefühle mit gesellschaftlichen Zwischentönen, politische Aspekte mit fast wehmütigen Sichten. Selten hat ein Schweizer Film einen Spagat zwischen Bauch und Verstand, Poesie und Realität geschafft, hat Landschaften, Geschichten und Empathie in innige Wortrhythmen und Gedichte gefasst. Lenz hat ein Gespür für Menschen und Alltäglichkeiten, in denen sich gesellschaftliche und politische Wirklichkeit widerspiegelt. Im wahrsten Sinn des Wortes: Literatur und Poesie, die sich bewegt und bewegt. «Mitten ins Land» ist wunderbare Liebeserklärung ohne Schminke und Schmus.
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Tibetan Warrior
Kampf um Selbstbestimmung. Er heisst Loten Namling oder «Tibetan Warrior», brach im Mai 2012 auf und marschierte in 52 Tagen von Bern nach Genf. Ein Protestmarsch mit einem schwarzen Sarg, den er hinter sich her zog. Am Ende fand man sich zu einem Solidaritätskonzert mit Franz Treichler («The Young Gods») und anderen engagierten Musikern. Der über 50-jährige Sänger und Aktivist wollte Zeichen setzen und Aufmerksamkeit für die Belange der von China unterdrückten Tibetaner im fernen Heimatland wecken. Über 130 Menschen haben sich in Tibet verbrannt aus Protest gegen das chinesische Regime. Loten Namling befürchtet, dass Tibet stirbt, seine Kultur, seine Tradition, seien Lebensart, deshalb der Sarg als Symbol für das Sterben Tibets. Ein mächtiger Usurpator und Besetzer (China) und ein fernes Land (Tibet) – die Weltöffentlichkeit nimmt nur noch vage davon Kenntnis, höchstens wenn der Dalai Lama, Tibets geistigem Führer, Regierungen besucht oder, wie jetzt vorgesehen, US-Präsident Barack Obama in der Schweiz trifft. Namling selbst war bereit, mit Gewalt gegen die Unterdrücker zu kämpfen, liess sich aber nach einem Treffen mit dem Dalai Lama umstimmen. Er ist nun überzeugt, einen Mittelweg – ohne Gewalt und Terrorakten – einen Kompromiss zu finden, um Tibet zu retten und zu befreien. Das Freihandelsabkommen 2013 zwischen der Schweiz und China weckt freilich die Skepsis der Tibetaner, auch Bundesrat Johann Schneider-Ammann konnte die Bedenken tibetanischer Exilanten nicht ausräumen: Die Wirtschaftsinteressen haben eben grösseres Gewicht als die Sorgen und Forderungen von Minoritäten. Der Berner Filmemacher und Produzent Dodo Hunziker («Bottled Life – Nestlés‘ Business with Water») hat sich mit dem Porträt seines Protagonisten zum Fürsprecher eines unterjochten Tibets und Anwalt für Selbstbestimmung gemacht. Redlich und engagiert. Sein Film mit stimmigen Bildern von Bern und Wien bis Indien ruft zurecht ein Völkerunrecht in Erinnerung, das gern vergessen und verdrängt wird.
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