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«Offshore: Elmer und das Bankgeheimnis»

Von Rolf Breiner

 

Während Manager der Schweizer Banken in den USA den amerikanischen Behörden reuevoll ihre Kundendaten offenlegten, wird Rudolf Elmer, ehemaliger Revisor der Bank Julius Bär, wegen Verletzung des Schweizer Bankgeheimnisses auf den Cayman Islands angeklagt. Elmer wird vom Insider zum Kritiker.

 

Michael Kohlhaas im Bankbusiness

Ein linker Filmer und ein rechter Banker – der Dokumentarfilmer Werner «Swiss» Schweizer ist den Spuren des Ex-Bankers und Whistleblowers Rudolf Elmer gefolgt, der mit seiner Arbeitgeberin, der Bank Julius Bär, in den Clinch ging und Geheimnisse preisgab. In seiner Dokumentation «Offshore» schildert Schweizer, wie ein Mann in Not gerät, zum Whistleblower wurde und das Ende des Bankgeheimnisses einläutete. Wir trafen den Filmer «Swiss» Schweizer, der engagiert persönlich den Fall Elmer und das bröckelnde Bankgeheimnis filmisch offenlegte.

 

Er hat eine beachtliche Karriere gemacht, der Zürcher Banker Rudolf Elmer, stieg zum Chief Operating Officer (COO) der Privatbank Julius Bär auf, ein tüchtiger, beflissener Revisor und Vertrauensmann, den man ins Steuerparadies Cayman Islands schickte. Er entdeckte dubiose Konten und Kunden, zweifelte an den Methoden und stellte kritische Fragen. Das Bankhaus reagierte perfide. Man unterzog ihm einen Lügendetektortest und stellte ihn ins Abseits. Elmer wehrte sich, warnte Kunden, alarmierte Medien und Behörden, schrieb Drohbriefe, wurde beschattet und verfolgt. Er galt als Gefahr für die Bank und wurde im September 2005 verhaftet. Quasi aus der Not heraus wird der Banker zum Whistleblower. Im Herbst/Winter 2007 gibt Elmer Dokumente an Wikileaks weiter, 37 Falldossiers der Bank Julius Bär werden veröffentlicht. Elmer wird im Januar 2011 verhaftet und erst nach 187 Tagen aus der Zürcher Untersuchungshaft entlassen. Im November 2011 kommt es zum Vergleich, die Bank Bär zahlt ihm über 600 000 Franken, und Elmer zieht seine Klage gegen das Bankhaus zurück. Das Verfahren wegen Drohung, Nötigung und Verletzung des Bankgeheimnisses wird fortgesetzt. Im Sommer 2016 soll die Berufungsverhandlung aufgenommen werden.
Rudolf Elmer ist nicht der erste Whistleblower, aber der erste Schweizer. In den Siebzigerjahren enthüllte der Amerikaner Daniel Ellsberg geheime Pentagonpapiere über den Vietnamkrieg. Der Zürcher Elmer brachte das Bankgeheimnis ins Wanken und soll nun für ein Vorgehen bestraft werden, das heutzutage kaum noch zu Strafverfolgungen führt. So bietet Schweizers akribische Dokumentation weit mehr als das Porträt eines Mannes, der gegen einen übermächtigen Gegner antrat und heute eher aufgrund seiner Zivilcourage beurteilt denn als Straftäter verurteilt wird – zumindest in der Öffentlichkeit. Der Filmer beschreibt die Funktion und Bedeutung der Offshore-Finanzplätze im Bankensystem. Er enthüllt auch ein mehr als fragwürdiges Verhalten der Zürcher Justiz, die offensichtlich der Bankenbranche näher steht als Objektivität und Recht. Geschickt spannt Schweizer einen persönlichen Bogen zwischen seiner Laufbahn als Filmschaffender aus der linken Szene und einem Menschen aus dem Zürcher Industriequartier, der eine steile Bankenkarriere machte, letztlich vom Saulus zum Paulus wurde. So erweist sich der Film «Offshore – Elmer und das Bankgeheimnis» als hochaktuelles Zeugnis und Enttarnung eines Schweizer Mythos, des Bankgeheimnisses, und einer nicht über alle Zweifel erhabene Zürcher Justiz. Mutig, entlarvend, engagiert, spannend und provokant.
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Interview Rolf Breiner


Dein Film «Offshore» wurde an den Solothurner Filmtagen uraufgeführt. Wie war die Resonanz?
Werner «Swiss» Schweizer: Ich war sehr gespannt, denn ich hatte vor Solothurn nur eine Rohschnittfassung gezeigt, die absolut noch nicht fertig war, deshalb war ich unsicher, wie der Film ankommen würde. Ich habe mich ja persönlich eingebracht und wusste nicht, wie das aufgenommen würde, ob man mich als eitel empfindet, ob man mir die Rolle abnimmt.  Die Aufführungen im Landhaus und in der Reithalle sind beim Publikum sehr gut angekommen.

 

In Solothurn waren auch Rudolf Elmer und Jean Ziegler, der einige markante Statements im Film abgibt, anwesend. Wird die Hauptfigur, Ex-Banker Elmer, auch an anderen Premieren dabei sein?
Ja, Elmer kommt an alle Premieren, etwa am 13. März in Luzern, im Lunchkino Zürich, Bern usw. Es ist ja auch Werbung in eigener Sache für ihn.

 

Es ist bekannt, dass Elmer einen Vergleich mit der Bank Julius Bär geschlossen und über 600 000 Franken erhalten hat. Ist es nicht etwas irritierend, dass er dann das Geld in einen Trust angelegt hat?
Für einen Teil des Publikums ist es sicher eine Irritation, dass er das Geld für seine Tochter ausgerechnet in einen Trust angelegt hat. Manche wissen vielleicht nicht viel über einen Trust und denken: Der Typ kommt nicht davon los. Es ist sicher eine Überraschung, dass er das zugibt. Ein Primeur im Film. Natürlich habe ich auch nachgefragt, wieso erst jetzt und überhaupt? Wenn ich die Klage gegen die Bank Bär durchgezogen hätte, meinte er, hätte er Recht bekommen, aber maximal 50 000 Franken Entschädigung erhalten. Er hat es für sich abgelehnt, aber für seine Tochter angenommen, die ja auch zusammen mit ihm geklagt hatte. Sie hatte mitgelitten.

 

Der Wirtschaftsjournalist Carlos Hanimann hast just das Buch «Elmer schert aus» herausgebracht. Habt ihr zusammengearbeitet?
Es gab einen Austausch, er war auch einer der ersten, welche den Rohschnitt gesehen haben.
Wir machen gemeinsame Veranstaltungen, beispielsweise eine Lesung im Neumarkt Theater Zürich.

 

Beim Fall Elmer gab und gibt es einige Ungeklärtheiten, Ungereimtheiten und unbeantwortete Fragen.
Ja, sicher. Die eigentliche Frage «Wo war Elmer angestellt» wurde ausgeklammert und nie beantwortet. Den Vertrag Elmers mit der Cayman-Bank hat man als Scheinvertrag angesehen und nicht beachtet. Elmer war auf Cayman Island angestellt, und dort wurde das Schweizer Bankgeheimnis nicht verletzt. Die Zürcher Justiz drückt sich und will ein Exempel statuieren, glaube ich. Und jetzt müssen sie versuchen, den Fuss aus der Schlingen zu ziehen. Es wird zunehmend peinlich.

 

Hattest Du keine Gelegenheit mit der Staatsanwalt zu reden, Statements einzuholen?
Ich hätte gern mit dem Staatsanwalt gesprochen. Anfangs haben mich Staatsanwalt und Oberstaatsanwalt empfangen, ich habe ihnen das Projekt vorgestellt, meine Fragen, meine Einschätzung. Sie hatten Bedenken, dass Elmer sie aufgrund ihrer Aussagen anklagen würden. Von Elmer hatte ich die schriftliche Bestätigung, dass er das nicht tun werde. Aber letztlich kam von der Zürcher Staatsanwaltschaft ein schnoddriges Mail: Dies sei ein laufendes Verfahren und man wolle sich dazu nicht äussern. Man hat total geblockt. Nun wollen sie die zwei Prozesse zusammenlegen, einerseits wegen der Wikileaks-Aktion in London, andererseits wegen der Drohungen gegen die Bank und «Cash».

 

Wie geht’s Rudolf Elmer, hat er wieder Boden unter den Füssen?
Ja, durch das positive Feedback im Ausland und durch den Film hat er Aufwind bekommen. Elmer sieht auch ein, dass er Fehler begangen hat. Er meint, dass er sich anders verhalten hätte, wenn er so etwas wie eine Whistleblower-Schule gemacht hätte. Er war 2008 einer der ersten, der aus der Bankenwelt an die Öffentlichkeit getreten ist.

 

Elmer ist sicher ein Mensch, der aus der Not reagiert hat. Würdest du ihn als eine Art Don Quichotte bezeichnen?
Er ist ein Don Quichotte nur in gewissem Sinn, hält sich nicht für einen Helden. Ich denke bei ihm eher an Michael Kohlhaas, der nicht gegen Windflügel kämpft, sondern sich mit der Justiz eingelassen hat und Selbstjustiz übt. Elmer weiss, auf was er sich eingelassen hat, und versucht, sein spezialisiertes Wissen über die Finanzplätze, über Truststrukturen anzuwenden und zur Verfügung zu stellen. Er sieht sich nicht als verlorener Kämpfer gegen die Banken.

 

 

Ehrlich – wie ist ein linker Filmer auf einen rechten Banker gekommen?
Die Geschichte und Elmer sind durch Samir auf mich gekommen. Samir hielt das für einen spannenden Stoff. Wir haben dann Leute gesucht, die Recherchen gemacht haben, und Filmerinnen. Alle haben dann nach Einarbeitung in den Stoff abgesagt. Am Schluss blieb ich übrig. Dann habe ich Kontakt gesucht mit Elmer – vor gut zwei Jahren.

 

 

Und wie sah Dein Konzept aus?
Ich habe gesagt: Ich mache den Film unter dem Titel «Nestbeschmutzer», aber nicht mit Elmer allein. Ich wollte Konrad Hummler von der Wegelin Bank und Dienstkollege von Elmer im Brigadestab, sowie Jean Ziegler dabei haben. Hummler ist schwach geworden, hat abgesagt. Ich habe mich dann entschlossen, eine menschliche Geschichte zu machen.

 

 

Was hat’s bei dir «Klick» gemacht und wie hast du den Weg gefunden, die schwierige Materie filmisch umzusetzen?
So richtig «Klick» gemacht hat es in Washington, als ich im Archiv war und gemerkt habe, dass dieser Elmer das Schweizer Bankensystem repräsentiert und das Schweizer Militärdenken.

 

 

 

Es muss ein Schlüsselerlebnis gegeben haben, dass er sich vom System abgewandt hat.
Sicher war der Lügendetektortest ein einschneidendes Erlebnis und eine persönliche Beleidigung. Er merkte, die zählen mich nicht mehr zum inneren Kreis, die wollen mich draussen haben. Darauf fing er an, das System kritisch zu sehen.

 

 

Was hat euch denn verbunden oder getrennt?
Ich habe gemerkt, dass wie gleich alt sind, aus ähnlichem Milieu kommen und zur gleichen Zeit am selben Ort waren – aber auf der anderen Seite. Er hat als angehender Banker in den Achtzigerjahren gar nicht gemerkt, um was es der Jugendbewegung ums AJZ und so damals ging. Er sah es nicht als Bedrohung, sah eher ein paar Spinner auf der Strasse mit Slogans wie «Freie Sicht aufs Mittelmeer». Was soll das? Er war sich auch nicht bewusst, dass er in einem Arbeiterklub Fussball spielte: Red Star – Roter Stern. Ihm war‘s egal.

 

 

Wie war euer Verhältnis beim Filmprojekt?
Ich habe ihm von Anfang gesagt: Rudi, das ist mein Film über dich, meine Sicht auf dich. Er hat gemerkt, dass ich ihn nicht als Säulenheiligen, als Snowden II hinstelle und dass ich ihn nicht in die Pfanne haue. Das war ihm wichtig.

 

 

Der Film wirkt auf mich wie eine Reflexion auf sein, aber auch auf dein Leben…
Genau, das sehe ich auch so.

 

 

Was hat dich denn an der ganzen Produktion geärgert?
Die Gesprächsverweigerung der Zürcher Justiz, beispielsweise vom Staatsanwalt Giger. Von privaten Sendern lassen sie sich nach einer Verhandlung interviewen, aber nicht von mir. Ich empfinde das als Unkorrektheit und denke, dass sie mit Vorurteilen den Fall behandeln. Die Untersuchungen sind schludrig gelaufen, es gab keine Entlastungen, es wurde fahrlässig verfahren in meinen Augen. Das wird zur Sprache kommen, die Arbeitsverträge beispielsweise, die Daten, die Rechtssituation auf den Cayman Islands.

 

 

Was kommt danach, woran arbeitest du zurzeit?
Ich plane einen Spielfilm über die Gründung des Kantons Jura – mit vier mysteriösen Todesfällen. Ein Politkrimi.

 

 

Du bist nicht nur sehr aktiv in der Filmbranche, sondern auch als Weinbauer.
Was baust du wo und wieviel an?
Die Familie baut seit 32 Jahren Wein am Bielersee an unter Reblus-Weine (Ruth Wysseier & Werner Swiss Schweizer). Letztes Jahr wurde unser Solaris 2014 mit Grossem Gold am Internationalen PIWI-Wettbewerb ausgezeichnet wie auch der Mon Blanc 2014. Neben den klassischen Sorten wie Chasselas und Pino Noir bauen wir Mehltau-resistente Sorten wie Regent, Johanniter und Solaris an und keltern rund 30 000 Flaschen im Jahr.

 

 

 

 

Werner «Swiss» Schweizer

Werner Schweizer 1955 in Kriens geboren.
Lebt in Zürich und Ligerz, Bielersee (BE)
Studium Soziologie und Publizistik in Zürich
Mitbegründer des Video-Zentrum, des Videoladens, der Firma Dschoint Ventschr
Seit 1987 Filmer und Produzent. Autor und Regisseur: «Dynamit am Simplon», 1989, «Noel Field – Der erfundene Spion», 1992-96, «Von Werra», 2002, «Hidden Heart», 2008 – Schweizer Filmpreis, «Verliebte Feinde», Spielfilm 2012 und mehr.
Schweizer Filmpreise 2016

I.I. Im Schiffbau wurden am Freitag, 18. März die Schweizer Filmpreise 2016 verliehen. Bundesrat Alain Berset hielt eine launige Rede und die Fans der einzelnen Filmcrews sorgten für lautstarken Beifall.


Der wichtigste Schweizer Filmpreis 2016 ging an «Köpek», einen türkischsprachigen Film: Esen Işik überzeugte mit ihrem Plädoyer gegen Gewalt und Diskriminierung in ihrem Heimatland. Emotionaler Höhepunkt war die Verleihung des Ehrenpreises an den 71jährigen Renato Berta, der u.a. für Godard und Louis Malle die Kamera führte.
Im Filmpodium Zürich waren am Wochenende zudem die Siegerfilme gratis zu sehen. Am Sonntagabend konnten Interessierte auch den berührenden Dokumentarfilm «Als die Sonne vom Himmel fiel» über Hiroshima und die Spätfolgen anschauen, ein Thema, das längst nicht zuende diskutiert ist.

 

Die Gewinner des Schweizer Filmpreis 2016:

Bester Spielfilm:  Köpek
Beste Darstellerin: Beren Tuna (Köpek)
Bester Darsteller:  Patrick Lapp (La vanité)
Beste Darstellung in einer Nebenrolle: Ivan Georgiev (La vanité)
Bestes Drehbuch:  Nichts passiert
Bester Dokumentarfilm: Above and Below
Bester Kurzfilm:  Kacey Mottet Klein (Naissance d’un acteur)
Bester Animationsfilm: Erlkönig
Beste Filmmusik: Als die Sonne vom Himmel fiel (Marcel Vaid)
Beste Kamera: Schellen-Ursli (Felix von Muralt)
Beste Montage: Above and Below (Kaya Inan)
Bester Abschlussfilm: Ruben Leaves

 

 

Filmtipps

Trumbo
rbr. Berufsverbot made in USA. Die Coen-Brüder nehmen in ihrer jüngsten Hollywood-Groteske «Hail Caesar!» Kommunistenwahn und –hetze auf die Schippe. Nur waren die Umtriebe des Komitees für unamerikanische Umtrieb im Kalten Krieg alles andere denn lustig. Sie glichen einer Hexenverfolgung und Inquisition, die Berufsverbot zur Folge hatten. Ende der Vierzigerjahre ist Dalton Trumbo (Bryan Cranston, Oscar-Nomination) einer der erfolgreichsten und bestbezahltesten Drehbuchautoren Hollywoods. Aus seiner kommunistischen und sozialistischen Gesinnung macht er kein Hehl – mit Folgen. Er weigert sich vor dem Komitee auszusagen und Kollegen anzuschwärzen – im Gegensatz etwa zum Schauspieler Edward G. Robinson («Little Caesar»), der sich erniedrigte, um im Geschäft zu bleiben. Im Gegensatz zu Trumbo und seinen Freunden («Hollywood Ten») landete er nicht auf der Schwarzen Liste, wurde gleichwohl geächtet. Dalton Trumbo musste eine elfmonatige Gefängnisstrafe verbüssen, liess sich aber nicht vom Schreiben abhalten und triumphierte heimlich unter einem Pseudonym, etwa für die Oscar-prämierten Filme «Roman Holiday/Ein Herz und eine Krone» oder «The Brave One/Roter Staub». Erst Schauspieler Kirk Douglas (Dean O’Gorman) und Regisseur Otto Preminger (Christian Berkel, «Der Kriminalist») zeigten Courage, engagierten Trumbo und nahmen seinen Namen im Abspann etwa von «Spartacus» und «Exodus» auf. Eine bittere Niederlage für den Superpatrioten und Kommunistenhasser John Wayne (David James Elliott) und Klatsch-Kolumnistin Hedda Hopper (Helen Mirren). Jay Roach («Austin Powers») schuf ein Zeitbild nach bester Hollywood-Manier, setzt nicht nur dem geächteten und rehabilitierten Autor Trumbo spielerisch-spannend ein Denkmal, sondern plädiert auch für Gesinnungsfreiheit, Courage und Originalität. Ein brillantes Retro-Drama mit bester Besetzung (Cranston, Mirren und Diane Lane als Trumbos Ehefrau Cleo, Elle Fanning als Trumbo-Tochter Niki oder John Goodman als Produzent Frank King).
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Spotlight

rbr. Bostoner Enthüllungen. Wieder ein Fall aus der Wirklichkeit, aus der Welt des Journalismus, der Zeitungsmacher, der Aufklärung. Ein Spezialteam der Tageszeitung «Boston Globe» ist ganz auf harte, intensive Recherche geeicht. Der neue Chefredaktor Marty Baron (Liev Schreiber) bringt um 2001 frischen Wind in die Redaktionsstube. Anfangs hat er Mühe, das etwas träge gewordene «Spotlight»-Team anzuschieben und auf ein Thema anzusetzen, das man als hoffnungslos eingeschätzt hat: Kindermissbrauch durch Priester. Als der heissblütige Michael Rezendes (Mark Ruffalo) und «Spotlight»-Leiter Robby Robinson (Michael Keaton) Lunte gerochen haben, gibt’s kein Halten. Die Kollegen Sacha (Rachel McAdams) und Matt (Brian D’Arcy) ziehen mit und bringen eine Lawine ins Rollen. Mit Beharrlichkeit, Leidenschaft und Einfühlungsvermögen durchbrechen sie eine Mauer des Schweigens, gewinnen das Vertrauen von Opfern und bieten der Kirche samt Polit-Verbündeten die Stirn. Eine wahre Begebenheit, ein erschütternder Skandal und ein Ruhmesblatt des Journalismus. Das «Spotlight»-Quartett wurde 2003 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Regisseur Thomas McCarthy hat dieses brisante Stück publizistischer Zeitgeschichte auf die Leinwand gebracht – entschlossen, nüchtern, packend und erschütternd. Dramaturgisch wie schauspielerisch ein Bravourstück in bester Hollywood-Tradition.

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Das Tagebuch der Anne Frank
rbr. Leben zwischen Angst und Hoffnung. Sie starb vor gut 70 Jahren, im März 1945 im KZ Bergen-Belsen. Anne Frank war damals 15 Jahre alt. Sie hinterliess ein Vermächtnis, Tagebücher, die sie in ihrem Versteck von 1942 bis zur Entdeckung 1944 führte. Ihr Vater hatte ihr ein Poesiealbum zum 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 geschenkt. Ihre Aufzeichnungen, bereits einmal 1959 als Kammerspieldrama nach einem Bühnenstück von George Stevens verfilmt, bildeten die Basis für den deutschen Spielfilm. Er wurde vom «Anne Frank Fonds» in Basel initiiert. Fred Breinersdorfer, bekannt für Krimis, «Tatort»-Bücher, aber auch für die Drehbücher zu «Sophie Scholl – Die letzten Tage», (2005) und «Elser – Er hätte die Welt verändert» (2015), plante eine Trilogie über Opfer- und Heldenbiografien aus der NS-Zeit. Die Anfrage, den Tagebuchstoff in ein Drehbuch umzuwandeln, kam zur richtigen Zeit. Und so stellte er das Tagebuch mit Originalzitaten ins Zentrum, um eine möglichst hohe Authentizität zu erreichen. Eine Arbeit, die sich zusammen mit den Produzenten über annähernd drei Jahre hinzog. Hans Steinbichler («Polizeiruf 110», «Das Dorf des Schweigens», der letzte Film mit Helmuth Lohner) führte Regie. Aus Annes Sicht, mit ihren Worten entfaltet sich das Leben im Versteck eines Hinterhofhauses in Amsterdam. Erklärte Absicht des Filmers war es, ein kluges, normales Mädchen, abgeschottet von der Welt und doch gedanklich mittendrin, zu zeigen, ihre Gefühle sicht- und hörbar zu machen. Lea van Acken verkörpert diesen Teenager authentisch, eingesperrt, bedroht. Sie verdeutlicht ihre kleinen Freuden, Neugierde, Ängste, aber auch Hoffnungsschimmer. Um sie rankt sich um die Familie, den Vater «Pim» Otto (Ulrich Noethen), ihre Mutter Edith (Martina Gedeck) und Schwester Margot (Stella Kunkat), die Mitbewohner, den Jüngling Peter van Pels alias Peter van Daan im Film (André Jung), seine Eltern (Margarita Broich und Leonard Carow) und der Zahnarzt Fritz Pfeffer/Albert Dussel (Arthur Klemt). Anne Frank feiert ihre Geburtstage, hat ihre ersten Tage, kuschelt mit Peter, tauscht Zärtlichkeiten aus, streitet, bangt und schreibt alles nieder. Das Leben von acht Personen auf engstem Raum an der Prinsengracht 263 war aufreibend, nervend, oft spannungsgeladen. Das zeigt der Film in seinen besten Momenten. Er berührt, auch weil wir wissen, dass es kein Happyend gibt, dass die Gefahr der Entdeckung durch Nazi-Schergen wie ein Damoklesschwert über den verfolgten Juden schwebt. Phasenweise dringt die Aussenwelt in den kleinen Kreis der Flüchtlinge ein – durch Nachrichten, Radiomeldungen, Bomberangriffe. Und eines Tages hat das Leben im Versteck ein Ende. Wer schliesslich den Tipp gab, die Anzeige machte, bleibt unklar im Film, ebenso was mit Annes Aufzeichnungen geschah, die zuletzt achtlos am Boden lagen. Das Drama endete mit der Deportation nach Auschwitz und dem Scheren der Haare. Erschreckend, wie aktuell diese Familien- und Gesellschaftstragödie wirkt – im Angesicht von Verfolgung und Flucht heute. Im Film wird es angetönt: Anne Frank und ihr Schicksal haben die Zeit überdauert, sind Dokument und Mahnzeichen zugleich.
Otto Frank überlebte als einziger aus diesem Kreis die KZ-Gräuel, erhielt nach Kriegsende die Tagebücher von Helferin Miep Gies, Sekretärin in Franks Firma, welche die Franks und die anderen versteckt und versorgt hatte. Otto Frank zog 1953 nach Basel und gründete dort 1963 den «Anne Frank Fonds». Er starb 1980. 1950 erschien erstmals in deutscher Sprache «Das Tagebuch der Anne Frank».
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Keeper
rbr. Lebensentscheidung. Liebe, Lust und Sex sind eine Sache, doch Kinderkriegen eine andere, eine zukunftsweisende Entscheidung. Maxime und Mélanie nehmen’s locker, sie lieben sich. Was kann schöner sein…bis Mélanie erfährt, dass sie schwanger ist. Was nun im Teenie-Alter von 15 Jahren? Maxime ist überfordert, fühlt sich machtlos, ohnmächtig und kann sich nur mühsam mit dem Gedanken anfreunden, Vater zu werden. Und Mélanie (Galatea Bellugi, Tochter eines Italieners und einer Dänin) fühlt sich im Stich, allein gelassen, will das Kind abtreiben. Maxime kriegt gerade noch die Kurve, der hoffnungsvolle Keeper (Goalie) steht seinen Mann. Seine Fussballerkarriere muss hinten anstehen. Die Eltern der beiden reagieren gegensätzlich und sind dem jungen Paar eigentlich keine Hilfe. – Der Brüsseler Regisseur Guillaume Senez (37) lieferte mit «Keeper» seinen ersten Langspielfilm. Genau und mit viel Empathie beschreibt er vorwiegend aus der Sicht des jungen Maxime (einmal mehr überzeugend der Schweizer Jungschauspieler Kacey Mottet Klein, «Home», «Sister»), wie junge Menschen sich der Verantwortung, dem Leben stellen. Ein trotz aller Problematik und Ernsthaftigkeit erfrischender Film, der für Liebe und Lebenslust plädiert. Die Kamera führte übrigens Denis Jutzeler, der oft mit dem Schweizer Alain Tanner zusammengearbeitet hat.
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El Clan
rbr. Ruchlose Familienbande. Es begab sich in den Achtzigerjahren, dass eine Familie in Buenos Aires Schlagzeilen machte: Die Puccios sind spezialisiert auf Entführungen und Erpressungen. So erging es auch Ricardo, Mitglied des Rugby-Nationalteams «Puma». Schier unfassbar, Star des Teams ist Alejandro (Peter Lanzani) und Kumpel Ricardos, und lässt sich von seinem Vater als Handlanger des Ricardo-Kidnapping einspannen. Arquimedes Puccio (glänzend glatt und perfide Guillermo Francella) ist Kopf eines kriminellen Clans, spezialisiert auf Entführungen und Erpressungen. Und mittendrin Junior Alejandro, der unter der Knute seines Vaters steht – aus Respekt und Furcht. Erst als bekannt wird, dass der ruchlose Patron seine Geisel auch bei Erfüllung der Lösegeldforderung nicht freigibt, sondern eliminieren lässt, zweifelt Alejandro an der Familienbande. Im Gegensatz zu seinem Bruder kann er sich nicht lösen und lässt sich weiter einbinden. – Diese Mafiageschichte der anderen, der argentinischen Art hat Autor und Regisseur Pablo Trapero, Oscar-Preisträger für «El secreto de sus ojos» 2009, fasziniert, schon als Teenager. Das waren keine gewöhnlichen Kriminellen, sondern gutbürgerliche, gut getarnte Verbrecher mit besten Beziehungen zur Junta. Ihre Opfer gehörten wohlhabenden Familien an, und der Patron war einerseits ein grosser Familienmensch und andererseits ein ruchloser Mörder. Ursprünglich wollte Trapero ein Familienporträt zeichnen. Unmöglich, sein Drama «El Clan» entwickelte sich zu einem melodramatischen Thriller, Psychotrip und Zeitbild. Mit dem Niedergang der kriminellen Militärdiktatur in Argentinien fiel auch der Puccio-Clan. Filmer Trapero (60) hielt sich teils eng an den Fakten, nahm sich aber auch ein paar künstlerische Freiheiten heraus, indem er beispielsweise manches verdichtete und ausliess, beispielsweise die Selbstmordversuche des ältesten Sohns. Sein Ziel, einen Film zu schaffen, der nicht dokumentiert, sondern sich echt anfühlt, hat er erreicht. Sein Film ist ein Dokument über ein Monster unter dem Deckmantel eines Grossbürgers, über die verhängnisvolle Verzahnung von Faszination und Furcht.
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Son of Saul
rbr. Lebendig zwischen Toten. Es ist ein schwerer, unmenschlicher Stoff, der einen mitnimmt – gnadenlos und ungeschminkt. Kein vergnüglicher, entspannender Kinofilm also. Man kann die Augen verschliessen wie viele gestern und heute, oder man nimmt teil am Leben eines KZ-Häftlings in Auschwitz-Birkenau 1944. Saul, der Ausländer (Geza Röhrig), wurde einem Sonderkommando im Lager zugeteilt, diese KZ-Gefangenen müssen der Vernichtungsmaschine dienen: Juden antreiben, ihre Habseligkeiten durchsuchen, Leichen entsorgen, Ascheberge in den Fluss schaufeln. Sie können dafür ein etwas besseres Leben im Lager führen und ihr Leben um ein paar Wochen, Monate verlängern. Saul entdeckt einen Knaben, der vom Gas noch nicht umgebracht wurde, dann aber doch stirbt. Sein Sohn, meint er, und er tut alles, um ihm ein jüdisches Begräbnis mit einem Rabbi zu ermöglichen. «Son of Saul» beschreibt eine Hölle auf Erden, nicht direkt und frontal, sondern diskret, hintergründig. Die Leichen, die Verbrennungen, die Erschiessungen bleiben schemenhaft im Hintergrund – man ahnt und hört sie. Der Ton macht Musik, wobei der Film auf jeglichen Musikteppich verzichtet. So wird das Ohr geschärft, das Auge auch. Der Film nimmt strikt die Position und Perspektive Sauls ein. Obwohl Brutalität nur angedeutet, die innere und äussere Qual der Menschen nur angetönt werden, die Nazi-Gräuel nur spukhaft erscheinen, ist dieser Film näher am Thema, am Mord und Martyrium an Menschen durch Menschen als bisherige KZ- oder Holocaust-Filme. Der Ungar Lászlo Nemes hat mit seinem düsteren, schier unerträglichen Drama in dunklen Brauntönen, die nur am Ende hoffnungsvolles Grün signalisieren, wahnsinnige Wirklichkeit wachgerufen. Es kann nur einen Oscar geben! Diese Nazi-Verbrechen mögen 75 Jahre her sein, bleiben aber gegenwärtig. Die Jagd des Menschen auf Menschen ist aktuell wie eh und je.
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The Choice
rbr. Rührende Romanze wie einst in «Love Story». Wer die Wahl hat, hat nicht immer die Qual, kann sie aber erleben, wenn er gewählt hat. Dem lebens- und liebeslustigen Junggesellen Travis Parker (Benjamin Walker, «By the Sea») fallen die Schönheiten quasi in den Schoss. Der gewissenhafte Tierarzt Travis geniesst an den Wochenenden das vergnügliche Partyleben am See (North Corolina) und lässt sich nicht auf feste Beziehungen ein, bis er eines Tages der neuen, natürlich attraktiven Nachbarin Gabby Holland (Teresa Palmer, «Point Break») begegnet. Die ist jedoch nicht auf den Mund gefallen und erweist sich als widerborstig. Er beisst sich an der selbstbewussten Studentin die Zähne aus, na ja, eben nur eine Weile, bis auch der Funken bei ihr zündet. Nach dem Motto «Was sich neckt, liebt sich» werden die beiden ein Liebespaar – mit Herz und Haaren. Hochzeit, Kinder, ein himmlisches Familienleben. Es sind die kleinen Entscheidungen, die tagtäglich getroffen werden und den Weg bestimmen. Man kann darüber streiten, ob er oder sie die falsche Entscheidung getroffen hat, als sie auf ihn im Restaurant wartet und er einen Tiernotfall verarztet. Sie verunfallt, fällt ins Koma, und Travis wartet und wartet auf Erlösung. Die Ärzte raten, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten… Zuckersüss mit bitteren Beigeschmack – Ross Katz hat den Liebesbestseller von Nicholas Sparks kongruent umgesetzt, übrigens die elfte Filmadaption der Sparks-Bücherhits. Wie das Buch so die Bilder – romantisch durch und durch, ein bisschen altmodisch, eingebettet in eine meist heile Welt mit Kratzern und Erschütterungen. Das Drama über zwei Partner fürs Leben, das einen Knacks bekommt, lebt von Emotionen und schönen Bildidyllen. Das Herz spielt die Hauptrolle – ein Fall für Romantiker: Die Liebe siegt.
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Room
rbr. Überleben auf engstem Raum. Gefangen, ausgeliefert, abhängig. Man kennt die diversen Entführungs- und Missbrauchsfälle à la Natascha Kampusch. Und nun ein kanadisch-amerikanisches Kinodrama: Eine Mutter und ihr Sohn, mussten jahrelang in einem neun Quadratmeter kleinen Raum leben und überleben. Beim enervierenden Kammerspiel «Room» nach dem Roman von Emma Donoghue, die auch das Drehbuch schrieb, ist der Fokus ganz auf die beiden Gefangenen gerichtet. Joy «Ma» Newsome (Brie Larson, Golden Globe als beste Schauspielerin und Oscar-nominiert) gaukelt ihrem fünfjährigen Sohn Jack (Jacob Trembay) eine Scheinwelt vor. Beide sind der Gnade und Willkür von Old Nick (Sean Bridgers), dem Kidnapper ohne Lösegeldforderung, ausgesetzt. Endlich scheint der Zeitpunkt gekommen, dass Jack reif ist für eine Flucht. Er muss sich tot stellen, um so dem «Gefängnis» entrinnen zu können. Der Trick gelingt, und die Polizei kann die zurückgelassene Joy befreien. Für den Jungen beginnt eine neue Phase. Er entdeckt eine neue Welt. Diese Befreiungsphase ist ein ebenso wichtiger Akt im Film wie das Eingesperrtsein, das «Bündnis» von Mutter und Sohn. Joy zerbricht schier an der wiedergewonnenen Freiheit und den eigenen Emotionen. Im zweistündigen Drama, sensibel und einfühlsam inszeniert von Lenny Abrahamson (ebenfalls Oscar-nominiert für Besten Film), stehen denn auch nicht die Gefangenschaft und physischen Aspekte im Zentrum, sondern die psychischen Folgen. Der Regisseur verzichtet auf Sex- und Gewaltszenen und skizziert den Peiniger Old Nick nur grob. Es bleibt unklar, wie Joy in die Gewalt des Entführers geriet, was ihn trieb und ob Jack ein Opfer der Gewalt, ein «Produkt» der Gefangenschaft ist. Mit wenigen Andeutungen schafft Abrahamson ein Klima des Ausgeliefertsein, des stillen Vertrauens und der Hoffnung sowie der immer wieder gefährdeten Zweisamkeit von Mutter und Sohn. «Room» ist ein psychologisches Meisterwerk – fesselnd auch nach der Befreiung.
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Chocolat
rbr. Der erste schwarze Clown Frankreichs. Einen Film unter dem Titel «Chocolat» gab es bereits im Jahr 2000, eine märchenhafte Romanze mit Juliette Binoche – um eine süsse Verführung, um Pralinen und Schokolade eben. Jetzt, im aktuellen Kinodrama «Chocolat» von Roschdy Zem, erlebt der erste schwarze Clown Frankreichs quasi eine Auferstehung. 1868 als Sklave auf Kuba geboren und nach Bilbao verkauft, flüchtet Raffael Padilla als 14Jähriger, schlug sich nach Frankreich durch, verdingte sich in einem Zirkus und wurde als junger Mann vom Clown Footit zum schwarzen Partner aufgebaut. Der weissen Footit (James Thiérée) und der farbige Narr Chocolat alias Padilla (Omar Sy, genau: Der ziemlich beste Freund alias «Intouchables») wurden zum Zirkushit in Paris. Das hatte es noch nicht gegeben: Der doof Schwarze und der überlegene Weisse lieferten schwarzweisse Slapsticknummern. Das Publikum war begeistert. Doch irgendwann hatte Chocolat die Nase voll, immer nur den unterlegenen, getretenen und verhöhnten Hanswurst zu spielen. Er wollte ernst genommen werden und versuchte sich im ernsten Fach – auf der Bühne als schwarzer «Othello». Das Drama, mehr tragisch denn komisch, basiert auf wahre Begebenheiten. Padilla alias Chocolat war berühmt, wurde sogar vom Maler Toulouse-Lautrec auf Plakaten verewigt wurde. Der Film bietet neben der Geschichte einer brüchigen Freundschaft und Karriere, vor allem ein gesellschaftliches und menschliches Drama, mit viel Liebe zum Helden und Details, gefühlvoll und «nostalgisch» inszeniert.
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Erbarme dich: Matthäus Passion Stories
rbr. Matthäus-Erkundungen. Ein ungewöhnlicher Assoziationsbogen, fast möchte man sagen, Panoptikum, wäre da nicht die Musik, die alles zusammenhält, vertieft, verinnerlicht: Johann Sebastian Bachs «Matthäus Passion». Ungewöhnliche Seh- und Betrachtungsweisen, ungewöhnliche Annäherung und Auseinandersetzung: Der Holländer Ramón Maria Gieling (63), Schauspieler, Autor, Theater- und Filmregisseur, dreht seit 40 Jahren Filme und hat sich nun einem der wichtigsten Werke Bachs filmisch genähert, der «Matthäus Passion», es aufgesogen, sichtbar gemacht.
Ein Obdachlosen-Chor probt (wobei eine «Speisung» wohl ebenso wichtig ist), Chorleiter Simon Halsey, US-Regisseur Peter Sellars, der zusammen mit Halsey 2010 in der Berliner Philharmonie Bachs Matthäus Passion inszeniert hatte, der gewichtige Dirigent Pieter Jan Leusink oder Laien, welche das Leiden Christi und die Kreuzigung (nach dem Grünewalds Isenheimer Altar) nachstellen, reflektieren quasi Bachs Werk, werden zu Betrachtern und Beteiligten. Die Faszination des Werks überträgt sich auf die Akteure und die Zuschauer. Sprunghaft, brüchig, dann wieder schlüssig muten Gielings szenischen und musikalischen Erkundungen an. Bachs «Erbarme dich!» wirkt wie ein Fanal, reisst mit und rührt. Ein eigenwilliger und einzigartiger filmischer Streifzug durch Bachs Passion.
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Zoomania
rbr. Kleines Kaninchen ganz gross. Auf die Idee muss man erstmal kommen: Alle Tiere leben auf dem Land oder im Grossstadtdschungel (nie war das Wort passender) – Veganer (sind alle Pflanzenfresser Veganer?) neben Raubtiere, Geflügel neben Federvieh, Vögel, Klein- oder Trampeltiere. Ein Paradies auf Erden – ohne Menschen. Wir wissen ja, was die veranstalten oder verunstalten können. Der jüngste Disneyfilm «Zoomania» könnte aktueller, missionarischer oder hoffnungsvoller nicht sein – angesichts des Kriegs- und Flüchtlingselends heutzutage. Natürlich gibt’s hier auch Eitelkeiten und Eifersucht, Protzentum, Missgunst und Vorurteilen. Aber die lassen sich abhauen, wie das flotte Kaninchen (oder Häsin?) beweist. Sie trimmt sich superfit, um neben all den Kraftprotzen die Tüchtigkeitstests für einen Cop-Job zu bestehen: Das flinke Hoppel-Girl vom Land, Judy Hopps, meldet sich nach bestandenen Prüfungen bei der städtischen Polizeizentrale und wird vom Boss subito aufs Abstellgleis gestellt, heisst soll Parkbussen verteilen. Und prompt erzielt die ehrgeizige Judy «Rekordumsätze». Ihre grosse Stunde schlägt aber erst, als bisher friedfertige Tiere ihre Aggressionen nicht mehr bändigen können. Raubtiere sollen es eben in den Genen haben, wird behauptet. Doch Lieutenant Hopps kommt zusammen mit dem verschlagenen Kumpan Nick, notabene einem Fuchs, einer Verschwörung auf die Schliche. Mehr sei nicht verraten. – Das 3D-Kinogaudi mit Hintersinn (Regie: Byron Howard und Rich Moore) präsentiert eine prächtige Palette von Typen, Gags und Anspielungen. Nicht genug, dass sich eine Häsin (Kaninchen) und ein cleverer Fuchs so nahe kommen und alte Vorurteilen über Bord werfen, dass uniformierte Machos wie der Polizeiboss (ein Büffel) auch gute Seiten haben und Raubtier nicht gleich Raubtier ist, es gibt auch wunderbare Zwischenspiele und Seitenhiebe, etwa Officer Hopps bei einer Behörde vorstellig wird und dort auf Faultiere trifft – willig, aber soooo langsam.Ob der wiederhergestellte Friede von Dauer, das plötzliche aggressive Verhalten geheilt und ob alle Tiere Veganer sind, kann der Animationsfilm nicht nachhaltig beantworten. Aber er setzt Ausrufezeichen, amüsiert und karikiert tierisch gut eben auch Menschen.
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Late Shift
rbr. Mitbestimmung. Das gab’s noch nicht im Kino! Entsprechend ausgerüstet mit App-Version von «Late Shift» (ab 10. März im App Store erhältlich) oder in bestimmten Kinos wie dem Houdini in Zürich (ab 17. März, kann der Zuschauer beim Handlungsverlauf mitbestimmen). Die Story zu «Late Shift » beginnt simpel: Matt (Joe Sowerbutts) übernimmt einen Wachdienst in einem Parkhaus und wird in einen mörderischen Komplott in London verwickelt. Die Expertin May-Ling (Haruka Abe) ist beim Raub einer millionenschweren chinesischen Vase verwickelt wie Helfer Sébastian (Joel Basman). Es geht um ein Familienstück, Gangster, Fälscher, dubiose Drahtzieher, um Gewinn und Gefühle – wie eben in einem Krimi üblich. Autor und Regisseur Tobias Weber hat seiner Phantasie freien Lauf gelassen, bietet diverse Verästelungen und Entscheidungsmöglichkeiten an. Ob es zum glückliche oder blutigen Ende kommt, ob der Film 85 oder doch nur 60 Minuten dauert, entscheidet die Mehrheit im Kinosaal. Welche Entscheidung wird getroffen: Bleibt Matt oder geht er, fährt er mit dem Lift auf- oder abwärts oder verlässt er ihn, insistiert er oder wendet er sich ab? Je nach Knopfdruck der Zuschauer. Der Thriller kann so oder so ausgehen – kann letztlich auf sieben verschiedene Weisen enden. Diese Schweizer Weltneuheit, von Baptiste Planche (im interaktiven Filmformat CtrlMovie) produziert (Kosten: 1,5 Millionen Franken), lockt Zuschauer quasi auf den Regiestuhl im Kinosessel. Vorhang auf für die Kino-Interaktion!
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Robinson Crusoe
rbr. Tierischer Spass. Wer hat Angst vor grossen und kleinen Tieren? Robinson, der berühmte Schiffbrüchige, sicher nicht. Obwohl die Insel, an die er gespült wird, ihm doch nicht ganz geheuer scheint. Da gibt es zwar keine wilden Eingeborenen, Piraten oder gar Geister, aber verängstigte Tiere, die ihre Inselidylle gegen Fremde verteidigen. Letztlich siegt die Neugierde – vor allem beim naseweisen Papagei Mick, der leicht verletzt von Robinson gepflegt und auf Dienstag getauft wird (statt Freitag versteht sich). Ebendieser bunte Kumpel schmiedet Freundschaftsbande zwischen dem fremden Zweibeiner und den Inselbewohnern – dem halbblinden Ziegenbock Zottel, der gewichtigen Tapir-Lady Rosie, dem Eisvogel Kiki, Schuppentiger Pango, dem Stachelschwein Epi und Chamäleon Carmello. Der schiffbrüchige Jungmatrose und sein hündischer Begleiter Edgar richten sich ein, freunden sich mit den Insulanern an und erwehren sich gemeinsam des fiesen aggressiven Katzenpärchens Ping und Pong (vom Schiff) samt Gefolgschaft. Das ist lustig anzusehen im 3D-Format, pfiffig und rasant wie ein Actionfilm – für die ganze Familie auch für jüngste Kinogänger (in der deutschen Synchronfassung sprechen Matthias Schweighöfer den gestrandeten Robinson, Cindy aus Marzahn die ängstliche Rosie und Dieter Hallervorden den meckernden Zottel). Ben Stassen und der französische Regisseur Vincent Kesteloot haben der alten Abenteuergeschichte neues tierisches Leben eingehaucht, ohne dass die Tiere vermenschlicht werden. Dienstag & Co sind wie sie sind – friedlich, solidarisch, argwöhnisch, aber nicht fremdenfeindlich. Das sagt schon viel über diesen pfundigen Animationsfilm.
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Our Little Sister
rbr. Schwesterlicher Zuwachs. Drei Schwestern begraben ihren Vater, der die Familie vor 15 Jahren verlassen hat: Sachi, Yoshino und Chika begegnen dabei überraschend der 13jährigen Suzu, ihrer Halbschwester. Der schüchterne Teenager ist auf sich allein gestellt, die Schwestern haben Mitleid und laden Suzu zu sich ins elterliche Haus in Kamakura (bei Tokio) ein. Hirokazu Kore-eda («Like Father, Like Son») beschreibt erneut eine Familiengeschichte, Spuren der Annäherung, wachsender Zuneigung und Bindung, aber auch interner Konflikte gestern und heute. Durchdrungen ist der feinfühlige Film von grosser Liebe, Heiterkeit und Harmonie, die auch Risse und Konflikte heilen. Der Japaner Kore-eda, 1962 in Tokio geboren, greift in «Our Little Sister» aufs Marga «Umimachi Diary» von Akimi Yoshida zurück, einem japanischen Comic über Selbstfindung des Teenagers Suzu, ihren Schwestern und der Küstenstadt Kamakura. Es ist ein schöner, zarter Film über Kommen, Zusammenkommen und Gehen in einer Kleinstadt. Regisseur Kore-eda bemerkt: «Was mich wirklich interessiert, ist nicht nur die Schönheit der Landschaft von Kamakura – oder die der vier Schwestern – sondern die Haltung dieser Küstenstadt, alles zu akzeptieren, alles zu absorbieren und zu umarmen.» Ein wunderbar leises Filmpoem.
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London Has Fallen
rbr. Terror an der Themse. Es musste wohl so kommen. Nach dem Erfolg «Olympus Has Fallen» (2013) wurde ein Sequel produziert. Szenarium und Personal sind bekannt: Der US-Präsident Benjamin Asher (Aaron Eckhart), Vizepräsident Trumbull (Morgan Freeman), Präsident-Bodyguard Mike Banning (Gerard Butler) und die Leiterin des Secret Service, Lynne Jacobs (Angela Bassett) sind wieder am Ball. Diesmal ist Terror an der Themse angesagt: Staatsoberhäupter wichtiger Nationen, u. a auch die deutsche Bundeskanzlerin, finden sich in London ein, um dem gestorbenen britischen Premier die Ehre zu erweisen. Eine Falle, die der pakistanische Drahtzieher Aamir Barkawi jahrelang geplant und inszeniert hat. Er will sich an den Amerikanern rächen, die vor Jahren durch einen Drohnenangriff seine Familie getroffen haben. London wird von einer Armee von Terroristen flach gemacht, gesprengt, zerstört ohne Rücksicht auf Zivilverluste. Zielobjekte sind Präsident Asher und Haudegen Banning. Asher soll gefangen und in IS-Art vor laufender Kamera geköpft werden. Das dauert eine Action-Ewigkeit (99 Minuten). Jeder kann sich denken, wie’s ausgeht. Für Freunde von Verfolgungsjagden, Explosionen, Ballereien, eiserner Partnerschaft und ein bisschen Familienliebe ist dieses Actionvehikel möglicherweise ein Leckerbissen, aber sonst…
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Les saisons – Unsere Wildnis
rbr. Wildnis – Wunsch und Wirklichkeit. Die Erde hat sich gewaltig gewandelt seit Menschengedenken. Die Sehnsucht nach Natur und die Liebe zum Wald, zum Ursprünglichen sind geblieben. Die Eiszeit ging vor 15 000 Jahren zurück und eine Klimaerwärmung folgte. Die Gletscher schmolzen vor 12 000 Jahren, und der Wald bedeckte den europäischen Kontinent. Die grosse Zeit der Jäger und Sammler. Menschen wurden dann sesshaft vor rund 6000 Jahren. Der Homo sapiens bediente sich des Waldes. Siedler begannen zu roden und Böden zu beackern. Ein langer, aber rigoroser Prozess setzte ein, Städte entstanden, Wald und Tiere wurden zurückgedrängt und dezimiert. Ein neues Bewusstsein hat nun zumindest teilweise zur Besinnung geführt – angesichts des unverantwortlichen Raubbaus, der Klimaveränderung, der Erwärmung und Treibhauseffekte. Die beiden französischen Dokumentarfilmer, Jacques Perrin und Jacques Cluzard, die bereits mit den Naturfilmen «Nomaden der Lüfte – Le peuple migrateur» (2001) und «Unsere Ozeane – Océans» (2009) grosse Aufmerksamkeit fanden, haben eine phantastische Reise unternommen – über Jahrtausende. Aus Urzeiten, als Wälder Europa bedeckten und Bäume natürlich abstarben, als Bisons, Auerochsen, Hirsche zuhauf lebten und Menschen die Ausnahme waren, spannt sich der Filmbogen über Nutzung und Ausbeutung bis zu Holzwirtschaft, Raubbau und Verstädterung heute. Auf ihrer Zeitreise durch Wald und Wiesen – einst, gestern und heute – stimmen die Dokumentarfilme Jacques Perrin und Jacques Cluzaud eine Hymne auf die Natur an, plädieren für eine Welt miteinander von Mensch, Wolf und Wald. Kein politisches, sondern ein empathisches poetisches Statement. Jacques Cluzaud plädiert für einen neuen Blick «auf unsere komplizierte und komplexe Beziehung zur Natur» und möchte eine «schöpferische Emotion» auslösen. Dass der Film sich jeglichen Kommentars enthält, ist ebenso wohltuend und durchdacht wie die Grundperspektive. Die Bilder sprechen für sich.
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Grüsse aus Fukushima
rbr. Nachwehen. Fünf Jahre ist es her, dass Japan von der Katastrophe von Fukushima heimgesucht wurde. Viele Opfer, viel Leid, aber Wesentliches hat sich nicht geändert – weder waren ein ernsthafter Atomkraftausstieg noch wirkliche nachhaltige Hilfe der Opfer angesagt. Breite japanische Schichten – vor allem in Politik und Wirtschaft – würden Fukushima, das Waterloo einer Industrienation, am liebsten verdrängen. Die Gedenkfeiern kürzlich bleiben Augenwischerei. Die deutsche Autorin und Filmerin Doris Dörrie («Kirschblüten – Hanami») hat nicht vergessen. Sie reiste ein halbes Jahr nach der Katastrophe im November 2011 vor Ort. Die Begegnungen mit heimgesuchten Menschen liessen sie nicht mehr los. So entwickelte sie allmählich die Idee zum Film «Grüsse aus Fukushima», ihrem ersten Kinofilm, den sie komplett in Japan gedreht hat. Marie (Rosalie Thomass) will sich endlich selber beweisen, reist nach Japan und möchte Katastrophenopfern helfen. Aber wie? Sie scheint fehl am Platze, bis sie die alte Satomi (Kaori Momoi) trifft, eine der letzten Geishas von Fukushima. Und die hat nur eine Bitte: Zurück in ihre Heimat, an ihren alten Wirkungsort. Und so reisen die beiden Frauen an den Ort des Horrors, in eine gesperrte, verwaiste, verwundete Region. Gedanken, Geister der Vergangenheit werden geweckt, Schulden aufgerufen, Wunden brechen auf. Am Ende finden beide Frieden, blicken nach vorn statt zurück. Doris Dörries schwarzweisses Melodram, mit viel Liebe zu den Figuren, dem geschundenen Land gedreht, ist ein karges Gedicht auf das Leben, auf Findung und Zuneigung. Nicht immer schlüssig und bisweilen versponnen. In Marie, der Suchenden, die wie Satomi alte Geister (Traumata) besiegen möchte, steckt viel von Doris Dörrie. So entstand ein ungebundener, spontaner Film, der sich vom Schauplatz leiten, weniger lenken lässt und auch mal ausbricht.
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Melody of Noise
rbr. Lärm, Beschallung, Klang oder gar Musik? Nicht alles, was tönt, tut gut oder gefällt. Wo hört der Lärm auf, wo fängt der Klang, die Musik an? Die Grenzen sind nicht eindeutig zu bestimmen. Manche empfinden das Trommeln auf Blech, Töpfen oder Pfannen als Zumutung, können mit der Elektronikmusik eines Bruno Spoerri wenig anfangen. Andere lassen sich vom Trommelfeuer des Ostschweizer Duos Bubble Beatzs begeistern. Der Lärm von Maschinen (einige sprechen vielleicht vom Sound eines Traktors oder eines Rennwagens), der Glockenklang von Kirchen und Kühen, die Geräuschkulisse in Industriehallen, auf Baustellen oder Autostrassen, die lauten und leisen Töne in der Natur vom Wispern der Baumwipfel bis zu Wasserfällen – sie alle kratzen oder kitzeln unsere Ohren. Die Dokumentarfilmerin Gitta Gsell hat Geräusche, Töne, Klänge aufgefangen, hat Klangschöpfern und Musikern, aber auch Tüftlern und Arbeitern über die Schultern in ihre Werkstätten geschaut. Der Berner Stefan Heuss beispielsweise baut Instrumente aus alten Küchengeräten, einer Abzugshaube oder einer Pfanne und bringt Erstaunliches zu Gehör. Spannend sind die Aktivitäten des Ostschweizer Duos Bubble Beatzs (Kay Rauber und Christian Gschwend), das aus Schrott ein gigantisches Instrumentarium kreiert und Massen bewegt – selbst in China bei Livekonzerten. Das Rumoren und Rauschen, Bibbern und Beben, das hier Leinwandresonanz findet, stört und verstört, elektrisiert und teilweise fesselt. Gsells «Lauschangriffen» und akribischer Filmrecherche erweisen sich als akustischen Panoptikums und Sammelsuriums aus Geräuschen, Tönen und Rhythmen. Ihre Klang- und Geräuschbilder zwischen Müll und Konzertsälen zeigen auch, wie wichtig Ton und Sound für Film und Kunst sein können.
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The Chinese Recipe
rbr. Studieren, kopieren, entwickeln. China ist ein Wirtschaftsgigant und begehrter Absatzmarkt. Die asiatische Grossmacht ist uns gleichwohl ziemlich fremd und undurchsichtig. Ist der «Gelben Gefahr» zu trauen? Wir wissen manches über ideologische und erzieherische Disziplinierung, über das Elend der Wanderarbeiten und verschiedener Regionen. Wie aber funktioniert die wirtschaftliche und produktive Entwicklung im Alltag, im Detail? Was steckt hinter dem Vorwurf des Kopierens? Der Emmentaler Filmer und Produzent Jürg Neuenschwander («Kräuter und Kräfte») hat sechs Jahre in Shanghai gelebt und ist in Kontakt mit Kleinunternehmer gekommen, beispielsweise einer Gruppe junger Open-Source-Erfinder, die an Drohnen bastelten. Audio-Tüftler Xiaohou Zhou ist Gründer der eigenen Firma «Happy Buying Elecrtronics». Er sucht auf Schrottplätzen und anderswo Markengeräte und Bestandteile und baut daraus neue Verstärker und Ähnliches. Sein Produkt ist oft zehnmal so billig wie ein internationales Markengerät und «besser als das Original», behauptet er. Der ehemalige Architekt Chuan Angelo Yu und sein Team basteln an Drohnen. Sie haben es bis zur Flugreife gebracht. Die verschworenen Tüftler gründeten das Start-up-Unternehmen «HexAirbo». Es gelang ihnen, ihre Drohne am Maker Faire im Silicon Valley zu präsentieren. Ein anderer Erfolgsfall ist Ruilin Wang. Er wie auch sein Vater waren Opfer der chinesischen Kulturrevolution. Erst spät konnte er studieren, wurde Ingenieur und Funktionär an einer Fabrik für Futtermühlen, die Bühler-Maschinen kopierte. Wang suchte die Selbständigkeit, gründete 2003 die Firma Baolong, kopierte und entwickelten Futtermühlen weiter. Das stach dem Ostschweizer Bühler-Konzern ins Auge. Man wurde aktiv. Am Ende ist man Partner geworden, vereinbarte ein Joint Venture und wurde zu Bühler Changzhou – mit Riesenerfolg. Neuenschwanders Recherche über das «chinesische Rezept» zeigt: «Wir studieren, wir kopieren nicht», erläutert der Elektrobauer Xiaohui Zhou. Nachahmen, lernen und weiterentwickeln ist alte chinesische Tradition. Die Protagonisten dieser Beobachtungen (ohne Kommentierung und Wertung) sind sympathische, kreative und pfiffige Erfinder und Vermarkter. Der Film zeigt die positiven Seiten privater chinesische Entwicklung.
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Free to Run
rbr. Frauen preschen vor. Laufen ist zum Volkssport geworden. Wer zählt die Silvester- und die Marathonläufe in den Weltstädten von Berlin bis New York? Wer hätte das gedacht? Vor 40 Jahren war es alles andere als selbstverständlich, dass Frauen mitrennen durften. Ihnen war dazumal ein Teilnahme an solchen Rennen verboten. Die Schweizerin Kathrine Switzer war eine Pionierin, sie setzte sich über Vorurteile und Verbote hinweg und lief und lief. Der Historiker und Filmer Pierre Morath hat sich auf die Lauf-Spuren der Frauen gemacht, die gegen eine Männerbastion anrannten, und der Männer wie Frank Shorter, Fred Lebow oder Steve Prefontaine, die das Laufen zum Volkssport und Ereignis wie eben dem New Yorker Marathon machten. Er hat tief in den Archiven gegraben und Dokumentationsmaterial zusammengestellt, das Staunen lässt – besonders wohl die jüngere Generation. Man erlebt, wie Katherine Switzer bei einer illegalen Teilnahme in New York vom Veranstalter handgreiflich behindert wird oder wie der erste Frauenmarathon an den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles durchgeführt wurde. Die Amerikanerin Joan Benoit gewann, und die Schweizerin Gabriela Andersen-Schiess (39) torkelte total dehydriert durchs Ziel. Sie benötigte für die letzten 500 Meter fast sieben Minuten, erholte sich aber relativ rasch. Bilder, die man nicht vergisst. Pierre Moraths spannende und aufschlussreiche Dokumentation zeigt auch auf, wie Marathonveranstaltungen zum Event und wichtigen wirtschaftlichen Faktor wurde etwa für die Metropole New York. Geld oder Geist – ist mancherorts die Frage. Der famose Film «Free to Run» kehrt zu den Anfängen zurück, windet den Pionieren einen Siegerkranz, lässt sie erzählen, beleuchtet die Entwicklung des Laufens im öffentlichen Raum und hinterfragt. Ein Plädoyer auch für Beinfreiheit und Emanzipation.
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As I Open My Eyes
rbr. Befreites Singen. Tunis um 2010. Die 18jährige Farah (Baya Medhaffar) hat ihre Matura gemacht und soll Medizin studieren. Doch ihr Herz hängt an der Musik, an Rockmusik, sie singt in einer Band und schreibt kritische Texte. Ihre Mutter Hayet (Ghalia Benali, eine bekannte tunesische Sängerin) versucht den Ausbruch ihrer Tochter zu tolerieren, zu begreifen. Doch es kommt zum Bruch. Farah verliebt sich in das Bandmitglied Borhène (Montassar Ayari) und gerät in den Fokus der Staatspolizei. Sie wird verhaftet und Verhören unterzogen. Die Mutter beginnt um ihre verschwundene Tochter zu kämpfen. Sie ist gar bereit, sich einem früheren Freund hinzugeben, der für den Staat arbeitet.– Die Filmerin Lely Bouzid beschreibt die Stimmung, das Klima der Angst, der Überwachung am Ende der Ära Ben Ali, also vor der Revolution. Die junge aufsässige Farah steht für eine Jugend, die ausbrechen will, gegen die politischen Strukturen und Einengungen rebelliert. Sie tut dies mit angriffigen Texten, mit ihrem Lied «A peine j’ouvre les yeux», das dem Film «As I Open My Eyes» seinen Titel gab. «Im Fokus steht die aktive, aufbrausende Jugend, die Musik machen will», erklärt Leyla Bouzid. «Die Religion steht in ihrem Leben nicht im Vordergrund. Mich interessierte es, diese energiegeladenen und kreativen jungen Menschen zu filmen.» Dabei spielt die Musik eine treibende Rolle, die der irakische Komponist Khyam Allami und seine Band «Alif Ensemble» beisteuerten. – Musik spielt auch im Dokumentarfilm «Sonita» eine existentielle Rolle. Hier bricht die 18jährige Sonita, eine afghanische Immigrantin im Iran, aus und versucht sich als Rapperin Gehör zu verschaffen. Darüber im nächsten Monat mehr.
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Batman V Superman: Dawn of Justice
rbr. Super-Crash. Wenn die gängigsten Comichelden abgekocht, sprich die Kinos x-mal erbeben liessen (oder auch nicht), wenn also keine neuen Spidermen, X-Men oder Avengers in Sicht sind, arrangiert man ein Super-Gipfeltreffen oder besser eine pompöse Schlacht der Kraftmeier. So geschah es also, dass der Held von Metropolis, Superman (Henry Cavill) alias Reporter Clark Kent, und der düstere Ritter von Gotham City, Batman (Ben Affleck), im Privatleben Milliardär Bruce Wayne, aufeinandertreffen. Supermans Image ist angekratzt, seine Einsätze werden in Frage gestellt. Die Senatorin Finch (Holly Hunter) zitiert ihn gar vor ein Tribunal. Natürlich ist die Welt existentiell bedroht und wird von ungeheuren ausserirdischen Machtkreaturen heimgesucht. Das purzeln die Wolkenkratzer wie Legosteine. Natürlich hat auch Fiesling Lex Luther Jr. (Jesse Eisenberg), Supermans Intimfeind, seine Finger im Spiel. Die ganze zusammengebastelte Geschichte um die Feindschaft der Superhelden, ihren Imageschaden (sind sie nun böse oder gut, Bedrohung oder Rettung?) und ihre von Emotionen geschmiedete Koalition, bleibt letztlich wirr, chaotisch und künstlich. Dank der von Luther gekidnappten Martha Kent (Diane Lane), die Batman an seine Mutter Martha Wayne erinnert, spannen die Powerhähne zusammen, und Lois Lane (Amy Adams) darf um ihren Clark Superman bangen. Doch ohne die knackige Amazone Wonder Woman (Gal Gadot) wären die beiden Kampfmaschinen aufgeschmissen. Wie immer diese gewaltige Materialschlacht ausgeht, von Zack Snyder inszeniert, eine Wiederauferstehung des Trios Batman, Superman und Wonder Woman ist bereits geplant: Für 2017 wurde der Film «Justice League One» mit dem geballten Super-Trio angekündigt.
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NACH OBEN

Photo/Film