«Fragiles Gleichgewicht: Unsere grosse kleine Farm»
Von Rolf Breiner
Um 2010 schlugen der US-Filmer John Chester und seine Frau Molly ein neues Lebenskapitel auf: Sie begannen, einen verödeten Landstrich, eine Autostunde von Los Angeles entfernt, zu beackern, heisst zum neuem Leben und Blühen zu bringen. Auf über 80 Hektaren ist daraus ein Paradies auf Erden entstanden – mit 10 000 Obstbäumen, unzähligen Pflanzen, 250 Haus- und Wildtieren, bewirtschaftet von John, seiner Frau Molly und rund 20 Farmern und Mitarbeitenden.
John Chester (47) hat diese Entwicklung mit all ihren Problemen, Rückschlägen, Erfahrungen und Erkenntnissen in einem spannenden Film dokumentiert: «The Biggest Little Farm» ist ein wunderbares lebendiges Beispiel über die Kraft und Balance der Natur, Heilung und Optimismus, nicht zuletzt über Ökosysteme, die sich selbst regulieren. Wir sprachen mit dem Farmer und Filmer John Chester.
Ein Farm-Paradies in Kalifornien – Der Filmer und Farmer John Chester und sein Dokumentarfilm «The Biggest Little Farm»
Es gibt Zeiten und Situationen, da ist man/frau der Stadt, des Stadtlebens müde und sehnt sich nach Ruhe, Natur, Bodenständigkeit. Bei John und Molly Chester gab es einen weiteren gewichtigen vierbeinigen Grund, ihr Hund Todd. Der bellt nämlich hörbar und unermüdlich, wenn die beiden die Wohnung verlassen. Nicht nur Schweinegeruch, wie jüngst ein Nachbarschaftsstreit in der Schweiz belegt, stört und mindert die Lebensqualität, sondern auch ständiges Hundegebell nervt und fordert Gegenmassnahmen. John und Molly mussten sich entscheiden, Todd wegzugeben oder die Wohnung in Los Angeles zu verlassen. Klarer Fall: Todd war dem Ehepaar lieber und wichtiger als ihr urbanes Daheim.
Und so schlugen die beiden Städter 2010 ein neues Kapitel auf. John, der Filmer seit 25 Jahren unter anderem mit drei Emmys ausgezeichnet, und seine Frau Molly, begannen einen verödeten Landstrich, eine Autostunde (40 Meilen) nördlich von Los Angeles entfernt, zu beackern. Ihr Ziel war, das Stück Land über 80 Hektaren wiederzubeleben und zum Blühen zu bringen. Die Böden mussten «aufgepäppelt», heisst bepflanzt, bewässert, reaktiviert werden. Ein hartes Stück landwirtschaftlicher Arbeit. Tatsächlich hat sich daraus ein Paradies auf Erden entwickelt, die Apricot Lanes Farms, bewirtschaftet von John (47) und Molly sowie rund 20 Farmern (Mitarbeitern). 10 000 Obstbäume, unzähligen Nutz- und Wildpflanzen sind heimisch geworden, 250 Haus- und Wildtieren u.a. Ziegen, Schafe, Enten, Hühner, Perlhühner, Pferde, Hochlandrinder. Eine Schweizer Milchkuh namens Maggie grast sich hier ebenso zufrieden wie viele andere. Stars im Film sind freilich die Sau Emma und ihr treuer Begleiter, der Gockel Rooster.
John Chester hat diese Entwicklung über acht Jahre mit alle ihren Problemen, Rückschlägen, Erfahrungen und Erkenntnissen in einem spannenden Film dokumentiert: «The Biggest Little Farm». Er machte auf seiner europäischen Promotiontour kurz auch in Zürich Station und erlebte die Premiere im Lunchkino. Er war begeistert. «The Biggest Little Farm» ist ein wunderbares lebendiges Beispiel über die Kraft und Balance der Natur, Heilung und Optimismus, nicht zuletzt über Ökosysteme, die sich selbst regulieren. Wir sprachen mit dem Farmer und Filmer John Chester.
Wie entstand die Idee zum Film, wollten wir wissen? «Zuerst war das Farmprojekt, das gab’s noch kein Filmprojekt, denn ich wusste gar nicht, worüber denn der Film handeln sollte.», erzählt John Chester. «Natürlich, ich habe mein Leben lang gefilmt und war motiviert, auch auf den Apricot Lane Farms zu filmen. Über fünf Jahren lang habe ich gewisse Momente festgehalten. Aber ich hatte noch keine Idee, keinen Schlüssel, die Begebenheiten mit Tieren, mit Insekten, Pflanzen, mit der Natur filmisch zu erzählen. Dann irgendwann fand ich den Schlüssel. Das Stichwort heisst Biodiversität. Ich wollte die Geschichte von einem ausgleichenden System erzählen, von der Komplexität der Natur und einem gesunden Ökosystem.»
Die Farm wuchs, der Alltag war anstrengend, oft mühsam, vor Rückschlägen war man nicht gefeit – seien es Dürre, Stürme oder der Einfall von Vögeln, Schnecken oder Kojoten, die unzählige Hühner töteten. Der Eingriff des Menschen – mal wurde ein Kojote erschossen – half nicht wirklich. John Chester beobachtete die Natur, das Verhalten der Tiere und sah in der Erneuerung des Ökosystems die Lösung, setzte auf Diversität. «Das war etwa 2015», erinnert sich Chester. «Ich sah die Rückkehr der natürlichen Vielfalt im Einklang mit meinen Intensionen. Das war die Geschichte. Ich wollte erzählen, was passiert, wenn die Natur auf die Farm zurückkehrt. Wir sind Teil der Natur. Beide Kräfte müssen kombiniert werden, die der Natur und die Menschen, wobei wir Naturkräfte akzeptieren müssen, auch wenn sie gegen unsere Intentionen beim Bewirtschaften laufen.»
Menschliche Eingriffe, so zeigt der Film auch, können neue Probleme bewirken. «Alles, was wir zur Verbesserung eingesetzt haben, rief neue Probleme hervor», gesteht Chester, «wir haben es dann meistens aufgegeben, weil es nicht funktionierte. Wir haben gelernt, vorwärts zu gehen, tiefer zu schauen und Komplexität zu erkennen. Es braucht Zeit, bis eine Balance hergestellt ist.» Zwei Dinge sind wichtig bei der Art Farming, die Chester und seine Mitarbeiter verfolgen: Passion, Geduld und Beobachtung.
Welche Ratschläge würde John Chester Farmern mit auf den Weg geben?
«Meiner Ansicht nach müssen wir Systeme und Elemente der Natur wiederherstellen und nachahmen (Biomimikry). Wir müssen die Balance der Nature einbeziehen, Symbiosen kombinieren. Wir müssen die Unabwägbarkeiten des Lebens akzeptieren, das ist die Triebkraft, der Wirkstoff des Lebens».
Sozusagen als roter Faden zur Farmentwicklung laufen amüsante Episoden mit der Sau Emma und ihrem Gockelkompagnon. Ein Beispiel auch, um die Vielfalt des Zusammenlebens zu zeigen, die Balance zwischen Tieren. John Chester gezeichnet sein «Biggest Little Farm» als Organic-Farm, wir würden Biofarm sagen. Er verkauft zwar direkt, betreibt aber keinen Bioladen – noch nicht, sagt er. Das bedeutet: «Unsere Organic-Farm verzichtet auf Pestizide und chemische Zusätze. Es ist existenziell notwendig, dass wir Biodiversität und eine gesunde Erde generieren. Wir können auf unserm Planeten nicht ohne Biodiversität und gesunde Erde leben. Das sind wir unsern Kindern schuldig».
Während John Chester seinen Film in Europa begleitet, führt seine Frau Molly die Farm. «Sie ist der Boss», meint John. Die beiden engagierten Farmer sind Eltern eines Sohnes geworden, der auch kurz im Film auftritt. Inzwischen ist auch auf ein geplantes Bilderbuch von John Chester herausgekommen: «Saving Emma the Pig» (Feiwel & Friends/ Macmilan Verlag). Emma geht’s übrigens gut, sie wiegt laut John Chester 600 Pfund.
«Leberkäs Junkie», der sechste Kinofilm aus der komischen Krimireihe
Rita Falk, die Autorin und ihre Provinzkrimis
rbr. Die Titel ihrer Bücher und Filme sind so anregend und appetitlich wie die Geschichten selber. Ob Dampfnudel, Sauerkraut oder eben Leberkäs – bei den Provinz-Krimis der Bayerin Rita Falk spielt das Essen immer eine Rolle, aber auch der Schalk, das Schräge, die Kontroverse und mindestens eine Leich‘. Die sechste Verfilmung ihrer bald zehn Romane ist nun breit auch bei uns gestartet: Leberkäs Junkie Franz Eberhofer ermittelt wieder mit viel Schmäh, Schrulligkeit, Schnaps und Bier. Wir trafen die Autorin in Zürich.
In Bayern sind sie so bekannt wie Franz Beckenbauer oder Franz Josef Strauss, der Eberhofer Franz und der Birkenberger Rudi. Die beiden ungleichen Partner, Franz, der Dorfpolizist, und Rudi, der Privatschnüffler, ermitteln auf dem Land, genauer in Niederbayern. Denn da gibt’s nicht nur Schweinskopf al dente, Griessnockerl und Leberkäs, sondern auch manche Leich‘. Und so muss sich der geplagte Dorfpolizist Franz Eberhofer (Sebastian Bezzel) nicht nur mit seiner widerspenstigen Susi (Lisa Maria Potthoff), Mutter vom Söhnlein Paulimann, den Geboten seiner Oma (Enzi Fuchs), einer Kochkoryphäe, und seinem kiffenden Papa (Eisi Gulp) auseinandersetzen, sondern auch mit einer Brandleich, die wie der Schweinebraten seiner Oma riecht. Erschwerend kommt hinzu, dass Franz, der «Leberkäs-Junkie», wegen erhöhten Cholesterin-Spiegels auf Diät gesetzt wird. Aber was ein derber Bayer ist…eben. Ausserdem hat der genervte Franz noch seinen Sohnemann Pauli am Hals, der auf den ersten Geburtstag zusteuert und von seiner Mama Susi beim überforderten Papa abgesetzt wurde.
Es wäre jetzt müssig und spielverderbend, die verwickelte Leberkäs-, Bier- und Brandgeschichte, die Wirrungen und Wendungen um Privates und Polizeiliches, um Verzicht und Verzehr weiterzuerzählen. Am besten schaut man mal beim «Leberkäs-Junkie» rein, der bayrischen Krimikömödie von Ed Herzog, die mit 20 Kopien in der Deutschschweiz gestartet ist. Nur so viel: die «Junkie»-Episode basiert auf dem siebten Band aus der Franz-Eberhofer-Reihe (der zehnte, «Guglhupfgeschwader», kommt am 15. August heraus). Der Film dreht sich neben einem Mord-(Brand-)fall und bietet obendrein allerhand zwischenmenschlichen Streit, eine neu entflammte Liebe von Papa Eberhofer, die Auftritte einer robust-radikalen Liesl (Ex-«Tatort»-Kommissarin Eva Mattes) und einen bekannten Fussballer im Unruhestand als Trainer, nämlich Weltmeister und Bayer Klaus Augenthaler. Die netten schrulligen Typen, sind so gar nicht nach bekannten Krimimustern geschnitzt. Als Zugabe gibt’s Schauplätze wie den Kreisel vor dem Dorf, der auch mal als Babytherapie-Bewegungsmodell genutzt wird und den es in Tat und Wahrheit tatsächlich gibt. Er wurde jüngst in Franz-Eberhofer-Kreisel umbenannt wurde. Das nennt man touristisches Marketing!
Ich nenn diese schräge Buch- und Filmreihe einfach «Knödel-Krimis». Das klingt griffig und prägt sich ein. «Aber», wirft die Autorin Rita Falk bei unserer Zürcher Begegnung ein, «alle Titel sind verschieden und beziehen sich auf ein bayrisches Gericht. Ich nenn sie lieber Provinzkrimis.» Na gut. Und sie haben Erfolg, besonders in Bayern. 2010 schickte Rita Falk ihr kurliges Gespann Eberhofer-Birkenberger auf Ermittlertour («Winterkartoffelknödel»). Die bisherigen fünf Verfilmungen seit 2013 haben 3,4 Millionen Zuschauer gesehen. Und nun wurde eine PR-Offensive in der Schweiz gestartet (seit 1. August laufen 20 Kopien in Deutschschweizer Kinos). Rita Falk und Fussball-Gott Buengo alias Castro Fokyi Affum aus Ghana stellten «Leberkäs-Junkie» jüngst im Zürcher Lunchkino vor vollem Haus vor.
Eine Erfolgsstory. Wie bringt die Autorin es fertig, in zehn Jahren zehn Provinzkrimis zu schreiben? «Ich liebe es zu schreiben, und wenn man so etwas mit grosser Freude macht, kommt das irgendwie an. Die Arbeit ist ein Spass für mich, und dann kann man in zehn Jahren auch zehn Krimis schreiben. Ich habe die Figuren gern um mich und halte mich gern in Kaltenkirchen auf. Das Schreiben ist für mich eine Kür», gesteht die Verfasserin.
Wie entsteht denn so ein Krimi, gibt es eine bestimmte Vorgehensweise, eine Methode? «Ganz unterschiedlich», so Rita Falk, «manchmal habe ich einen Plot, der bis zum Schluss durchgesponnen ist. Dann gibt’s auch Krimis im Kopf, wo ich bis zum Schluss nicht weiss, wer der Täter ist. Oft berät mich mein Mann, liefert quasi eigene Fälle, die ich dann natürlich verfremde. Manchmal weiss auch schon die private Geschichte vom Franz, von der Oma und so und dazu einen Krimi konstruieren muss.» Welchen Part übernimmt denn ihr Mann, der Rudolf Falk? «Ich lese ihm die Abschnitte abends vor, die ich geschrieben habe, und geht er sehr kritisch drüber – mit den Augen eines Polizisten. Aber da gibt es auch Momente, dass wir uns nicht einig sind. Es gibt da eine Szene, wo der Franz auf den Plattenspieler schiesst. Mein Mann meinte: Kein Polizist schiesst auf den Plattenspieler. Da habe ich nur gesagt: Franz schon – fertig!»
Es ist eine eingespielte Mannschaft vor und hinter der Kamera. Ed Herzog hat alle Eberhofer-Krimis inszeniert – mit eingespielter Besetzung, dem Franz alias Sebastian Bezzel, dem Eberhofer-Clan, Partner Rudi, den Kumpels, dem Vorgesetzten, dem Bürgermeister usw. Der Kern steht treu zum Provinzkrimi à la Falk. Kein Frust, keine Müdigkeit? «Es ist immer eine grosse Freude, wenn wir uns treffen wie jetzt bei der Weltpremiere in München. Es ist wie ein Klassentreffen. Eine tolle Truppe», schwärmt «Knödel-Kreatorin» Falk. Sie ist die Autorin, andere schreiben die Drehbücher. Welchen Einfluss hat Rita Falk? «Es war mir immer sehr wichtig und habe es von Anfang klargestellt, dass ich alle Drehbücher lese und eventuell mein Veto einlegen kann. Und das habe ich auch schon genutzt, das betrifft auch die Besetzung», unterstreicht die Eberhofer-Spezialistin. «Aber es ist eigentlich unspektakulär, weil die Chemie stimmt, etwa zwischen der Produzentin Kerstin Schmidbauer und mir.» Im jüngsten Film «Leberkäs-Junkie» gibt es ein Wiedersehen des «Tatort»-Pärchen Bezzel – Mattes vom Bodensee. Wer ist kam denn auf diese Idee? «Es ist ein gemeinsamer Wunsch von Sebastian und von mir. Seit Jahren wollten wir schon, die Eva Mattes ins Spiel bringen. Jetzt fanden wir eine Rolle für sie – genial als Liesl Mooshammer. Das ist so mutig, so brachial – einfach oscarreif.»
Ich glaube, die Ebenhofer-Provinzkrimis haben eine gewisse Vorreiterrolle gespielt – bei schrägen TV-Vorabendkrimis wie «Mord mit Aussicht» (2007 bis 2014), der in der Eifel spielt, oder bei der bayrischen Provinzposse «Hubert und Staller» (2011 bis 2018, jetzt «Hubert ohne Staller»). «Ich möchte mich nicht vordrängen, aber wir waren auf alle Fälle sehr früh dabei», meinte auch Rita Falk. «Ursprünglich ist die erste Verfilmung ‚Dampfnudelblues‘ (2013) fürs Fernsehen gedreht worden, kam aber ins Kino.»
Die «Knödel-Krimis» sind sehr erfolgreich. Wie hat die Kritik eigentlich im Laufe der Zeit reagiert? «Am Anfang hat man’s nicht begriffen. Da wurde geschrieben: Jeder Viertklässler schreibt besser. Die haben nicht verstanden, dass es so gewollt ist. Langsam ist der Groschen gefallen.» Kritik hat Rita Falk nicht verbogen, sie ist sich und ihren Filmen treu geblieben. Es geht weiter mit bayrischen Eigenarten und Gerichten. Der Appetit ist gross – bei der «Köchin» wie auch beim Publikum.
Demnächst steigt das «Guglhupfgeschwader» zum Jubiläum auf – ab 15. August im Buchhandel. Wer Lust auf bayrische Rezepte und Gewohnheit hat, wird auch von Rita Falk bedient – mit «Arnika und Bohnenwachs. Omas Eberhofers bewährtes Wissen für Haushalt und Küche», dtv, München 2017.
«Locarno 2019: Fredi M. Murer erhält einen Leoparden für sein Lebenswerk – Ein poetischer Visionär des Films»
Er hat über 50 Jahre das Schweizer Filmschaffen mitgeprägt – von «Chicorée» (1966) über «Grauzone» (1979) und «Höhenfeuer» (1985) bis «Vitus» (2006) und «Liebe und Zufall» (2014). Der Innerschweizer Fredi M(elchior) Murer wird anlässlich des Filmfestivals Locarno am 15. August mit einem Leoparden für sein Lebenswerk (Pardo alla carriera) geehrt.
Von Rolf Breiner
«Seine Poesie stand immer im Dienste des politischen und zivilen Engagements und betrachtete die Welt – insbesondere die Schweiz – mit anderen Augen«», lobte das Filmfestival Locarno anlässlich der Ankündigung des Pardo alla carriera 2019. Vor 40 Jahren hatte Murer seine erste Locarneser Premiere mit «Grauzone», und 1990 stellte der Filmer seinen Dokumentarfilm «Der grüne Berg» im Rahmen der ersten Ausgabe der Semaine de la critique vor, die heuer ihr 30-Jahr-Jubiläum feiert. Fredi M. Murer, der poetische Visionär, 1940 in Beckenried geboren, in Altdorf aufgewachsen und in Zürich heimisch geworden, hat sich ein Refugium in der Zürcher Altstadt geschaffen: Ein «Einsiedler» inmitten seiner Werke und Visionen. Wir trafen uns zu einem mehrstündigen Gespräch über Filme gestern und heute, Filmstoffe und Verwirklichungen, Erwartungen, Errungenschaften und Ehrungen.
Mit 75 Jahren hast du dich vom Filmschaffen radikal zurückgezogen. Was gab den Anstoss: dein Alter, eine gewisse Müdigkeit oder…?
Fredi M. Murer: Es gibt viele Gründe, weswegen ich aufgehört habe, Filme zu machen. Schon nach «Vitus» wollte ich mit der Filmerei Schluss machen, um mich wieder meinen anderen künstlerischen Neigungen wie Zeichnen und Schreiben usw. zuzuwenden, doch dann kam ein weiteres Projekt dazu…
Und das hing mit deiner Mutter zusammen…?
Ja, meine Mutter hatte mir anlässlich ihres 90. Geburtstags fünf dicke Ordner übergeben und gesagt: Fredl, du solltest gescheiter mal einen Roman von mir verfilmen, dann würden die Leute wenigstens drauskommen. Da habe ich erst realisiert, dass wir eine Schriftstellerin als Mutter haben. Sie war nicht nur Mutter von sechs Kindern, sondern auch eine grosse Leserin und Couturière mit breiter Kundschaft rund um den Vierwaldstättersee. Meine Mutter war überaus neugierig, hat genau hingehört, wenn die vornehmen Damen über ihre Leben, ihre Ehekrisen und Einsamkeit sprachen. Kaum wieder zu Hause hat meine Mutter diese «Geständnisse» säuberlich notiert. Später, nach ihrem 70. hat sie aufgrund dieser Notizen vier Romane verfasst. Der fünfte Roman war autobiographisch und schilderte ihre grosse Jugendliebe. Und dieses Buch wurde dann zur Vorlage für meinen letzten Film «Liebe und Zufall». Und somit wurde der letzte Wunsch meiner Mutter erfüllt.
Und dann war Schluss mit Filmen. Warum?
Ich habe gemerkt, ich komme aus der analogen Zeit. In den Sechziger-, Siebziger- oder Achtzigerjahren besass das Filmemachen eine gewisse Exklusivität. Die Filmemacher waren zu dieser Zeit eine grosse Familie und kleine Minderheit. In dieser Zeit war das Wort «Film» auch ein Synonym für Links. Es gab keine Ausbildung, es hiess Learning by Doing. Wir haben uns gegenseitig weitergebracht, der Imhoof, Dindo und Lyssy usw. Die Digitalisierung und Akademisierung, die grassierende Workshop-Kultur, das theoretische Pseudowissen und die Systematisierungen von Drehbüchern sind meiner anarchischen Künstlerseele zuwider gelaufen. Das hatte auch zur Folge, dass in all den Jurys und Gremien, wo Filmgelder verteilt werden, zunehmend solche Workshop-Abgänger/innen sassen. Die wenigsten haben je an einem Set gestanden und kannten das Metier nur vom Hörensagen. Ich musste mir teilweise bei den Anhörungen Dinge sagen lassen, die einem Filmgrossvater nicht mehr zumutbar waren. Es war Zeit, Abschied zu nehmen – mit 75.
Die Zeit ist anders geworden, das Filmen, das Organisieren, Realisieren…
Das Medium Film war seit jeher ein Zeitgeistmedium, der Zeitgeist hat sich extrem verändert wie auch die Technologie. Das Filmen hat seine Exklusivität verloren und wurde zu einer Art Volkssport. In den Achtzigerjahren waren wir im Filmemacherverband, der Association suisse des scénaristes et réalisateurs de films, von den Welschen gegründet, 50 Mitglieder schweizweit, jetzt sind es 300. Überspitzt gesagt, es gibt bald mehr Schweizer Filme, als Zuschauer. «Höhenfeuer» hatte 250 000 Zuschauer und «Vitus» 280 000, jetzt ist man schon glücklich, wenn ein Spielfilm 10 000 Zuschauer hat. Auch ich musste zur Kenntnis nehmen, dass mein Publikum mit mir gealtert ist, zu Hause oder im Altersheim darauf wartet, bis meine Filme um 23 Uhr auf SRF laufen.
Das Filmen ist mühsamer, bürokratischer, aufwendiger in verschiedener Hinsicht geworden…
Je mehr Geld im Spiel ist, desto grösser ist der Einfluss der Geldgeber und Produktionsfirmen geworden. Damals waren die Jurys im BAK nicht Filmexperten, sondern Filmliebhaber. Aufgrund einer 15seitigen Erzählung habe ich Geld für «Höhenfeuer» gekriegt – mit der Bedingung, vor Drehbeginn ein Drehbuch abzuliefern. Heute unvorstellbar. Dieses Vertrauen hat den eigenen Mut gestärkt. Heute müssen 100seitige Dossiers mit Verleihgarantien, dramaturgischen Gutachten, Finanzierungsnachweisen und und und abgeliefert werden, die mehr Energie und Zeit kosten, als ein Drehbuch zu schreiben. Das bevorzugt den Produzentenfilm und killt den Autorenfilm.
Du bist vom Zeichnen auf den Film gekommen? Was steckte dahinter?
Ich war in der Schulzeit Linkshänder und hochgradiger Legastheniker. Rechtshändig schreiben, kombiniert mit meinem «Defekt» führte dazu, dass mir Schreiben Mühe und ich dazu noch wahnsinnig viele Fehler machte. Dennoch habe immer die längsten Aufsätze geschrieben, aber die kamen zurück als rote Schlachtfelder: mit 99 Fehlern, 77 Fehlern und so. Beim Zahnarzt habe ich erstmals ein Comicbuch gesehen: «Les aventures de Tintin», bekannt als «Tim und Struppi». Das war für mich eine Offenbarung, dass man mit Bildern Geschichten erzählen kann. So habe ich das nächste Mal mein Aufsatzheft vollgezeichnet und bekam mit zwölf Jahren zum ersten Mal Applaus von meinen Mitschülern und sogar vom Lehrer. Seiher bin ich allem Geschriebenem soweit als möglich ausgewichen.
Und dieser Methode bist du treu geblieben…
Ich wollte ursprünglich Cartoonist oder Illustrator werden, bin aber auf Umwegen schliesslich beim Film gelandet. Aber ich habe alle meine Filme immer zuerst gezeichnet – als Storyboard. Weil die Sprache und das bildnerische Denken in verschiedenen Hirnregionen zu Hause sind, haben die beiden Sichtweisen bei mir immer eine ergänzende Rolle gespielt.
Es soll eine Ausstellung mit deinen Zeichnungen in Locarno geben. Was hat es damit auf sich?
Es sind nur zwölf Zeichnungen von etwa hundert, die ich vor zwei Jahren für eine szenische Lesung im Zürcher Theater Rigiblick angefertigt habe – nach der Erzählung «Die Heilige» von Gabriel Garcia Márquez. Sie wurden als ein visuelles Element der Inszenierung auf eine grosse Leinwand projiziert. Als die Festivaldirektorin Lili Hinstin mich in meinem Atelier besuchte, hat sie meine Zeichnungen gesehen. Das müsse man unbedingt ausstellen, meinte sie. Nun werden die Illustrationen im Festivalzentrum Palacinema zu sehen sein.
Du machst immer noch einen aktiven, tätigen Eindruck. Wohin fliesst deine schöpferische Kraft?
Ich war leider immer ein Sammler statt ein Jäger. Im Moment bin ich damit beschäftigt, mein riesiges Archiv mit Materialien zu meinen Filmen, Erzählungen, Drehbücher, Zeichnungen, diversen Reden und Laudationen beispielswiese für Markus Imhoof, Peter Liechti oder Bruno Ganz zu archivieren und zu ordnen. Inzwischen habe ich praktisch alle meine Filme digitalisiert, damit sie sichtbar bleiben.
Du arbeitest also am eigenen Vermächtnis.
Sozusagen.
Und nun einen Leoparden für dein Lebenswerk. Ich hätte mir gewünscht, dass dein Film «Höhenfeuer», der Locarno-Gewinner von 1985, auf der Piazza Grande aufgeführt wird. War davon nicht die Rede?
Nebst «Höhenfeuer» werden übrigens noch drei weitere Filme von mir gezeigt. Die Programmierung ist natürlich Sache des Festivals.
Die Öffentlichkeit nimmt dich wieder in Beschlag dank des Ehren-Leoparden. Wie ist die Gefühlslage, die Erwartung, die Freude oder Skepsis?
Etwas ambivalent. Eigentlich habe ich mit 75 einen harten Schnitt gemacht und mich aus der Filmszene – ohne Groll – verabschiedet. Ich wollte die noch verbleibende Zeit für mich und meine Drei-Generationen-Familie haben. Natürlich weiss ich es sehr zu schätzen, neben Harry Belafonte, Francesco Rosi, Claude Goretta, Bulle Ogier oder Bruno Ganz einen Ehren-Leopard zu bekommen. Es freut mich, auch weil Locarno so etwas wie eine zweite Heimat für mich war.
«Höhenfeuer» wurde in Locarno 1985 zum besten Film erkoren. Welche Erinnerungen hast du an diese Momente?
Es war so totenstill während der Aufführung in der Fevi, und ich dachte, die schlafen alle, die 3000 Besucher. Und am Schluss ging so ein orkanartiger Applaus durch den Saal, dass ich für Sekunden irgendwie über dem Boden schwebte.
Preise können beflügeln, vielleicht auch belasten, wecken aber immer viel Aufmerksamkeit. Wie schätzt du jetzt den Leopard fürs Lebenswerk ein?
Anerkennung durch Festivalpreise hat immer stimulierende Wirkung.
Sie sind auch eine Ermutigung, seine künftigen Projekte mit demselben Anspruch und Ehrgeiz voranzutreiben. Wissend, dass ein Film immer auch ein Produkt des Teamworks ist. Ein Dirigent ohne Orchester ist ein ziemlich einsamer Mensch. Auch bei «Höhenfeuer» hatte ich immer ein Wir- und nicht ein Ich-Gefühl. Erst die Summe aller kreativen Tätigkeiten am Set und in der Postproduktion macht ein Meisterwerk aus.
Dein Film «Grauzone» wird wiederaufgeführt. Ein visionäres Werk, das wie bei George Orwells «1984» über einen Überwachungsstaat von der Wirklichkeit überholt wurde.
Ich habe «Grauzone» einen «fiktiven Dokumentarfilm» genannt, der die allgemeine Orientierungslosigkeit zehn Jahre nach 1968 und das zunehmend repressive Klima thematisierte. Indem die Hauptfigur des Films im Auftrag des Konzernchefs die gesamte Belegschaft systematisch bespitzelt, von der Lehrlingsabteilung bis zum obersten Kader, hatte mein Film sozusagen die Fichen-Affäre von 1989 vorweggenommen. Und der Widerstand formiert sich in meinem Film über «Radio Eisberg auf UKW 101» einem Piratenradio, bevor es in der Schweiz Piratenradios gab. Im Nachhinein sagte man «Grauzone» visionäre Qualitäten nach. Jedenfalls haben sich viele Achtundsechziger in diesem Film wiedererkannt.
Bist du noch Beobachter des Schweizer Films, des Schweizer Filmschaffens? Was bewegt dich, regt dich auf?
Ich hatte im Laufe meiner aktiven 50 Filmerjahre eine Überdosis abbekommen, dass ich nur noch selten ins Kino gehe. Und zehn Jahre davon habe ich als Präsident des Filmgestalter-Verbandes und als Gründungspräsident der Schweizer Filmakademie meine altruistische Schuldigkeit getan. Jetzt gibt es den Schweizer Film auch ohne mich und mich auch ohne den Schweizer Film.
Fredi Murer in Locarno
«Der grüne Berg» (1990) am 13. August im Palacinema um 14.30 Uhr
«Höhenfeuer» (1985) am 14. August im Palavideo um 14 Uhr
«Grauzone» (1979) am 15. August im Palacinema um 16.15 Uhr
«Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» (1974) am 16. August im Grand Rex um16 Uhr
Gespräch mit dem Publikum am 16 August im Kino Spazio um 13.30 Uhr
«Filmmekka Locarno: «Jenseits aller Norm»»
Das Filmfestival Locarno ist wieder weiblich geworden, was die Festivaldirektion angeht. Die Pariserin Lili Hinstin (42) hat die Nachfolge von Carlo Chatrian angetreten, der dem Ruf nach Berlin gefolgt ist. Mitte Juli präsentierte sie das Programm 2019 im Berner Erlacherhof. Insgesamt werden annähernd 130 Filme in diversen Sektionen vom 7. bis 17. August aufgeführt. Experimentielles ist angesagt, der Schweizer Film ist eher mager vertreten. Hauptattraktion auf der Piazza Grande ist mit Abstand das jüngste Tarantino-Werk «Once Upon a Time…in Hollywood» am 10. August.
Von Rolf Breiner
Man war auf die erste grosse Pressekonferenz der neuen Direktorin in der Deutschschweiz gespannt. Berner Stadtpräsident und Gastgeber Alec von Graffenried hiess Festivalpräsident Marco Solari und die Direktorin Lili Hinstin willkommen. Er fühle sich Locarno sehr verbunden, meinte er, sei doch Locarno die Cinema-Hauptstadt und Bern die politische Hauptstadt. Marco Solari freute sich wie ein Schneekönig über die frisch importierte Direktorin Hinstin, die vormals als Kulturmanagerin aktiv war (Französische Akademie in Rom, Leiterin Filmfestival Entrevues Belfort).
Seit 20 Jahren (!) führt Solari die Geschicke des Filmfestivals äusserst erfolgreich und schlägt nun mit der neuen Direktorin ein fünftes Kapitel auf. Sein Ziel 2025: «Wir müssen bis dahin das 7. oder 8. wichtigste und erwähnenswerteste Filmfestival der Welt sein und bleiben. Wir dürfen nicht alt werden.» Er spricht auch davon, dass dieses Festival ein «Mosaik aus vielen Bausteinen» sei.
Und das setzt neu die Französin Lili Hinstin zusammen. Und die verspricht ein Festival «Jenseits aller Norm».
Wieviel Gewicht sie auf das Piazza-Programm legt, zeigte sie an der Pressekonferenz, wo sie unnötig lang und breit über die nominierten Filme referierte. Vielleicht auch, weil das Angebot nicht mit grossen Namen und Titeln glänzt. Hervorzuheben sind diesbezüglich nur Filme wie «Lettre à Freddy Buache» von Jean-Luc Godard (7. August), «Once Upon a Time…in Hollywood» von Quentin Tarantino (10. August), «Notre Dame» von Valérie Donzelli (11. August), «Diego Maradona» von Asif Kapadia (15. August) oder «To the Ends of the Earth» von Kiyoschi Kurosawa. Zweitfilme, also Streifen, die um Mitternacht aufgeführt werden, figurieren nun unter der Marke «Crazy Midnight». Hier findet sich auch der zweite Schweizer Piazza-Film (nach Godard) wieder: «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» von Natascha Beller (11. August). John Waters, der in Locarno als Ehrengast geehrt wird, ist am 16. August präsent mit seinem Werk «Cecil B. Demented» aus dem Jahr 2000, aber erst gegen Mitternacht. Warum kein Film Fredi M. Murers, der am 15. August für sein Lebenswerk mit einem Leoparden ausgezeichnet wird, auf der Piazza zu sehen ist, bleibt ein Geheimnis der Direktorin. Murer hatte 1985 immerhin mit «Höhenfeuer» den Goldenen Leoparden gewonnen! Natürlich sind Filme des Innerschweizers auch in Locarno 2019 zu sehen, freilich in verschiedenen Kinos: «Der grüne Berg» am 13. August im PalaCinema, «Grauzone», «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» und «Höhenfeuer».
Mit Schweizer Filmen, hat man den Eindruck, hat die neue Leiterin nicht viel am Hut. Darauf angesprochen, meinte sie: «Es sollen qualitative Kriterien zählen, keine diplomatische.» Das war nicht sehr diplomatisch, aber deutlich. Schweizer Filme haben in Locarno keinen Heimvorteil. Im Wettbewerb fanden nur zwei Schweizer Produktionen die Gnade der Auswahlkommission, die 17 Filme nominierte. «O Film do Mundo» stammt von Basil Da Cunha und wird als Schweizer Produktion taxiert, «Bergmál» von Rúnar Rúnarsson ist eine Schweizer Koproduktion.
Gleichwohl sind am Lago Maggiore Schweizer Premieren gesichert. Im zweitwichtigen Wettbewerb «Cinesti del presente» (16 Filme) ist «L’Ile aux Oiseaux» von Maya Kosa und Sergio da Costa sowie «Love Me Tender» von Klaudia Reynicke zu sehen.
Ausserhalb der Wettbewerbe feiert Samirs Spielfilm «Baghdad in My Shadow» Weltpremiere (10., 11. und 12. August). In diesem Zusammenhang ist auch der Dokumentarfilm «Wir Eltern» von Eric Bergkraut und Ruth Schweikert zu erwähnen.
Im Rahmen des Filmfestivals hat der Schweizer Film im «Panorama Suisse» einen sicheren Platz, organisiert vom Festival, Swiss Films und den Solothurner Filmtagen. Zehn Filme werden aufgeführt – bekannte wie auch unbekanntere: «Madame», «Wo gehöre ich hin?», «Baracoa», «Immer und ewig», «Architektur der Unendlichkeit», «Gateways to New York» oder die Spielfilme «Cronofobia», «Der Unschuldige», «Zwingli» und «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse».
Ein sicherer Wert ist alljährlich die Auswahl der Filmkritiker, «Semaine de la Critique», die nun die 30. Ausgabe präsentiert. Sieben ausserordentliche Dokumentarfilme wurden ausgewählt, u.a. die schweizerisch-deutsche Produktion «Another Reality» und der Schweizer Film «Shalom Allah» (Weltpremiere).
Filmfestival Locarno bedeutet auch Preisregen. Hier seien nur die wichtigsten erwähnt: Premio Raimondo Rezzonico an Komplizen Film (8. August), Leopard Club Award an Hilary Swank (9. August), Pardo alla carriere an Fredi M. Murer (15. August), Pardo d’onore an John Waters (16. August).
Ein besonderes Anliegen sei ihr die Jugend, manifestierte Lili Hinsin. Dazu wurde extra ein BaseCamp in Losone installiert, wo 230 Jugendliche kostenlos teilnehmen können. Die Sektionen Pardi domani (Concorso internazionale und nazionale) gehören seit Jahren zum festen Festivalbestand. Wie auch die Retrospektive, von der Direktorin etwas links liegen gelassen. Sie steht in diesem Jahr unter dem Motto «Black Light» und widmet sich Filmen, welche sich Minderheiten in der Gegenwart befassen wie beispielsweise «Rue Cases-Négres» von Euzhan Palcy.
Die Sektion «Signs of Life», die dem experimentiellen Film ein Forum gibt, heisst jetzt «Moving Ahead» (16 Filme), etwa «Color-Blind» (Frankreich/Deutschland) von Ben Russell, «Kasiterit» (Indonesien) von Riar Rizaldi oder «In Memoriam» Frankreich) von Jean-Claude Rousseau.
Ein Nebenschauplatz (ausserhalb der Spielstätten) sind verschiedenen Talk-Foren, beispielsweise im Spazio Cinema (beim Fevi) vom 15. bis 17. August um 11 Uhr. Persönlichkeiten (Maya Rochat und Michel Comte, Barbara Treutlein und Daniel J. Müller, Arthur Jafa) aus Kunst und Wissenschaften diskutieren. Für die Locarno-Kampagne der Mobiliar, Hauptpartner des Festivals, hat der Fotograph und Filmer Peter Lindbergh acht Kulturschaffende porträtiert. Der Dokumentarfilm «Peter Lindbergh – Women’s Stories» startet übrigens am 8. August in unseren Kinos.
Locarno eröffnet sein Filmfestival mit der italienisch-französischen Komödie «Magari» von Ginevra Elkann. Sie erzählt von drei eng miteinander verbundenen Geschwistern – am Mittwoch, 7. August, um 21.30 Uhr auf der Piazza Grande (Weltpremiere).
www.locarnofestival.ch
Filmtipps
L’Ordre des Médicins
rbr. Helfen, ohne helfen zu können. Vor einem Jahre feierte das Spielfilmdebüt «L’Ordre des Médicins» des Parisers David Roux auf der Piazza Grande Premiere. Jetzt hat es das Spitaldrama in die Kinos geschafft. Inspiriert wurde Roux von seinem Bruder, einem Arzt, und seiner Mutter, die in kritischem Zustand ins Spital eingeliefert worden war. So entwickelte sich ein intimer, sehr persönlicher Film über Spitalalltag, krebskranke Patienten und einen jungen Arzt, der mit dem Sterben seiner Mutter konfrontiert wird, selber aber nicht helfen kann. Simon (Jérémie Renier) ist Lungenarzt, engagiert und mit viel Herz versieht er seinen Job, bemüht sich liebevoll um seine Patienten. Doch als seine krebskranke Mutter Mathilde (Marthe Keller) eingeliefert wird, gerät sein Berufsselbstverständnis ins Wanken. Denn all seine Erfahrungen, sein Wissen, sein Einsatz sind vergebens, laufen ins Leere. Er überschreitet Kompetenzgrenzen, seine Aktionen führen nicht weiter, er fühlt sich ohnmächtig, machtlos, verloren. «Es ist eine Glaubenskrise, womit Simon konfrontiert wird», meint Autor und Regisseur Roux. «Er hat sein ganzes Leben der Medizin geopfert und erkennt plötzlich, dass sie nicht alles kann.»
Sehr realistisch und intim taucht Roux in die Spitalwelt ein (der Film spielt sich überwiegend in diesem Bereich ab). Hier die kühle medizinische Szenerie mit ihren Klinikstrukturen, Gängen, Neonröhren und Krankenzimmern, dort die Menschen mit ihren Sorgen, Ängsten, Zweifeln, der Technokratie, den Ärzten und Personal ausgeliefert. Simons Mutter (sehr überzeugend Marthe Keller) nimmt ihr Schicksal gelassen an, bleibt trotz allem vital, sucht Trost in ihrem Glauben, ihrer Kultur. Eindrücklich ist die Szene, als ein jiddischer Chor an ihrem Spitalbett auftritt. Und der Regisseur gesteht: «Da hat sich meine eigene Geschichte in den Film geschlichen…Die Vergangenheit, die Gegenwart, das Leben, der Tod, alles vermischt sich in diesen Gesängen…Wie eine Feier des Lebens, das ohne Tod nicht denkbar ist, Das war das Ding meiner Mutter, die Verbindung zwischen dem Leben und dem Tod.» Der Sohn und Mediziner ist erschüttert, im Gegensatz zu seiner Mutter, die mit ihrem Leben abgeschlossen hat. Ein schwerer Lernprozess für den engagierten Mediziner. «L’Ordre des Médecins» wirkt wie ein Kammerspiel über Leben und Tod. Eine besinnliche Begegnung, tragisch und doch auch tröstlich.
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Parasite
rbr. Wie Maden im Speck. Der Filmtitel «Parasite» könnte nicht treffender sein. Wie Kletten, Blutsauger oder eben Parasiten unterwandert eine arme Familie eine wohlhabende. Aus sozialem Elend in den Luxus: Jüngling Ki-woo (Song Kang-ho) kann sich bei der gut situierten Familie Park als Englischlehrer einschmeicheln – stellvertretend für einen Kollegen. Er fasst bei der vierköpfigen Familie Fuss, trickst Haushälterin und Chauffeur aus, indem er sie bei den Parks anschwärzt und eigenen Familienmitglieder einschleust, den Vater als Fahrer, die Mutter als Wirtschafterin. Selbst seine Schwester Ki-jung (Park So-dam) kann er den ahnungslosen Arbeitgebern als Kunstlehrerin schmackhaft machen. Wie Maden im Speck machen sich die vier «Parasiten» breit und toben sich aus, als die Parks eine Reise unternehmen. Mitten in die Party der Schmarotzer platzt die geschasste Haushälterin, die klammheimlich ihren Sohn im Keller des Hauses einquartiert hat und versorgt. Und dann kehren die Hausbesitzer frühzeitig zurück…. Das Sozialdrama nimmt Shakespear’sche Züge an – mit einem Schuss schwarzem Humor und zynischem Beigeschmack.
Der Film des Südkoreaner Bong Joon Ho beginnt wie eine leicht frisierte Sozialstudie, entwickelt sich zu einer Gaunerkomödie und Sozialfarce und endet als blutiger Thriller. Die Sozialtragödie «Parasite» wartet mit einige groben Wendungen und Überraschungen auf. Die Verkettung wahnwitziger Begebenheiten und heilloser Begierden läuft am Ende aus dem Ruder. Opfer ist dabei nicht nur die wohlhabende, rechtschaffende Familie Park, naiv, aber nicht unsympathisch, sondern auch die armen Parasiten, die an ihrer eigenen Gier scheitern. Schräg und scheusslich, brav und brutal – das neuste Werk des Südkoreaners Bong Joon-ho zieht alle Register einer gesellschaftspolitischen Satire, eines Dramas und Thrillers, in Cannes 2019 mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet. Er schildert Klassenkampf nicht nur zwischen Oben und Unten, sondern auch zwischen Unten und Unten. Etwa nach dem Motto «Geld ist wie ein gutes Bügeleisen, es glättet alle Falten.»
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Die Drei !!!
rbr. Verschworene Girlies-Gemeinschaft Rechtzeitig zu den Sommerferien startet die erste Verfilmung der Erfolgsbuchreihe «Die Drei!!!» (vier Millionen verkaufte Bücher) im Kino. Eingefleischte Leserinnen wissen, um was es geht. Die drei Teenager-Detektivinnen Marie, Franzi und Kim halten ihre Spürnase im Wind – natürlich auch in den Sommerferien. Die Girlies bilden eine verschworene Gemeinschaft: Marie Grevenbroich (Paula Renzler), selbstbewusst, mathematisch begabt und Fashionfan, Franzi Winkler (Alexandra Petzschmann), rothaarig, kühn und Sportskanone, und Kim Jülich (Lilli Lacher), Bücherwurm und Krimifan. Als kecke Verbrecherjägerinnen sind der Polizei, sprich Kommissar Peters (Hinerk Schönemann), wohl bekannt und nicht immer gut gelitten. Kims Mutter (Bibiane Beglau) hat ihre Tochter dazu verdonnert, am «Camp Algebra» teilzunehmen. Denkste! Kim schliesst sich lieber klammheimlich ihren Freundinnen an, um am Theaterprojekt «Peter Pan» mitzuwirken. Klar, das ist viel spannender, erst recht, wenn das Projekt in einem heruntergekommenen geheimnisvollen Theater inszeniert werden soll. Dazu hat der seltsam schräge Theaterpädagoge Robert Wilhelms (Jürgen Vogel) aufgerufen, und schon beginnt das undurchsichtige Treiben, wo ein geisterhaftes Heulen einsetzt, die Garderobe verwüstet wird und eine Mahnschrift droht «Verschwindet aus Nimmerland!». Für die Drei!!! ist klar, das ist Fall für sie: Das Phantom muss entlarvt werden. Nach allerlei Irrungen und Wirrungen, nach Eifersüchteleien mit Verena, dem Intermezzo mit dem Schauspieler Klaus Schmitt (Sylvester Groht), der offenbar noch eine Rechnung offen hat, und dem verdächtigen Verhalten der Newcomerin Milie ist dasTrio nahe daran, den wahren Peter Pan zu entlarven, aber….
Für Produzent Christian Becker war von vornherein klar, dass man nicht irgendeines der Bücher verfilmen, sondern eine eigene Geschichte erzählen wollte. Die Buchreihe «Die Drei???», ursprünglich den USA lanciert und von Jungs besetzt, wurde in Deutschland ab 1993 weitergesponnen. Ab 2006 ist eine Detektivserie mit und für Mädchen ins Leben gerufen worden, eben unter der Marke «Die Drei!!!» (mit drei Ausrufezeichen), Bisher wurden 70 Fälle veröffentlicht. Jetzt hat die Zürcherin Viviane Andereggen die erste Kinofassung inszeniert – und dass mit Bravour. Die Filmerin, in der Schweiz aufgewachsen, hat bei verschiedenen TV-Produktionen Regie geführt («Kein Herz für Inder», «Chiemseekrimi», «Rufmord»). Das spannende Sommerabenteuer «Die Drei !!!» ist schmissig, variantenreich und vergnüglich. Ein Spass mit namhafter Besetzung nicht nur für Teenager. Im Gegensatz zu vergleichbaren US-Produktionen geht’s hier auch ohne Sex und Suff, Blut und Brutalität. Sehenswert!
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The Lion King
rbr. Altes neu verpackt. Einmal mehr greift die Disney-Traumfabrik in die eigene Schatztruhe und erweckt erfolgreiche Zeichentrickfilme zu neuem Leben – wie beim «Dschungelbuch» (2016) oder «Aladdin» (2019). Realverfilmungen sollen jüngere Zuschauer in die Kinos locken. Nun also das Herrschaftsmärchen vom «König der Löwen». Das etwas andere Königsdrama hat sich als Dauerbrenner entpuppt, sei es als Zeichentrickfilm von 1994 oder in Form eines fantastisch ausgestatteten Musicals. (Das läuft beispielsweise seit 2001 in Hamburg).
Vor 25 Jahren geschah es: Junglöwe Simba, designierter Königserbe, wurde Zeuge, wie sein Vater Mufasa vom heimtückischen Nebenbuhler Scar, Simbas Onkel, in eine Falle gelockt und den Abgrund gestürzt wurde. Simba, von Scar als indirekter Verursacher gebrandmarkt, fühlt sich schuldig und geht ins Exil. Die alte Macht- und Vater-und-Sohn-Geschichte ist sich gleich geblieben, auch die berühmten Songs von Hans Zimmer und Elton John sind wieder zuhören: «The Circle of Life», «Hakuna Matata» oder «Can You Feel the Love», neu interpretiert von Beyoncé. Auch das beliebte Duett zwischen dem Erdmännchen Timon und dem Warzenschwein Pumbaa «The Lion sleeps tonight» darf nicht fehlen.
Simba (Stimme: Donald Glover) wächst also unter Obhut der witzigen Gefährten Pumbaa und Timon auf. Es ist die junge Löwin Nala (Stimme: Beyoncé), die Simba in seinem Exil aufspürt und ihn animiert, sein Erbe anzutreten, sprich seinen Onkel Scar zu entmachten, der auch dank einer Horde rüder Hyänen, als tyrannischer König herrscht. Simba hört die «Signale» und bricht in die heimatliche Savanne auf…
Eines muss man der neusten Disney-Produktion zugutehalten, sie ist auf dem neuesten technischen Stand und überrascht als sogenannter Realfilm. Tatsächlich wirken die Tiere allesamt natürlich real vom kleinsten Insekt über Antilopen bis zu Giraffen und Elefanten. Und doch sind sie im Studio, in CGI-Verfahren (3-D-Computergrafik) entstanden. Computer Generated Imagery (CGI) heisst die Methode realistischer Computeranimation für den Film. In einem parallelen Produktionsakt wurden Hintergründe und Schauplätze am Computer erschaffen und mit den Figuren kombiniert.
Man wähnt sich in einem Naturfilm, bevölkert von perfekt animierten Tieren. Nie wirken Szenen plakativ oder gekünstelt. Bezüglich afrikanischen Landschaften nehmen sich Regisseur Jon Favreau und sein riesiges Team einige Freiheiten. Savanne, Berge, Schluchten, Dschungel wechseln nach Belieben. Favreau versprach, dass es in seiner Verfilmung keine Tiere gäbe, die auf den Hinterbeinen stünden und singen würden. Richtig, doch verziehen die Löwen oder Hyänen auch keine Miene, wenn sie klagen, leiden oder singen. Sie bleiben Tiere, wobei der Hyänen-Horde mit der «Leitwölfin» Shenzi die Rolle der eindimensionalen schurkischen Leibwache (natürlich zähnefletschend) zukommt. Ihnen ist die eigene Beute näher ist als die Gefolgschaft zum selbsternannten «König» Scar.
Durchweg herrscht männliche Dominanz im tierischen Königsdrama à la Afrika. Die Königin und Gefährtinnen kuschen unter Scar, allein Simbas Jugendfreundin Nala ergreift die Initiative, den Tyrannen zu stürzen. Sie hat ein echtes Löwenherz. Am Ende herrscht ist die gute alte Ordnung wiederhergestellt und eine neue Königsfamilie wird gegründet.
Jon Favreaus tierischer Märchenfilm ist schaurig schön anzusehen und anzuhören, doch verharrt er im Althergebrachten, zementiert alte Herrschaftsstrukturen, singt das Lied der freien Natur (ohne Menschen) und heilen Welt, wenn nur der rechte Pascha herrscht.
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Rebelles
rbr. Zocker, Zicken, Zaster. Sie verdienen sauer ihr täglich Brot, arbeiten in einer stinkigen Fischkonservenfabrik, erbeuten unverhofft und ungewollt eine Sporttasche voller Euros. Und das kam so: Die einstige Miss Calais, Sandra (Cécile de France), kehrt nach 15 Jahren in ihre Heimat Bouloge-sur Mer zurück – auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Sie schlüpft bei ihrer Mutter (Béatrice Agenin) unter, die in einem abgetakelten Wohnwagen haust und einen maroden Campingplatz namens L’Eden leitet. Notgedrungen nimmt die Heimkehrerin einen Fliessbandjob in der örtlichen Fischfabrik an. Prompt will Jean-Mi (Patrick Ridremont), der Boss, der einstigen Schönheit an die Wäsche. Die wehrt sich massiv. Der geile Kerl hat Pech und verliert brutal seine Männlichkeit. Er schreit Zeter und Mordio. Das ruft zwei Kolleginnen, die resolute, gut beleibte Nadine (Yolande Moreau) und die flotte Marilyn (Audrey Lamy), auf den Plan. Sie kommen Sandra zu Hilfe. Im Eifer des Gefechts stürzt der Täter die Treppe runter – tot. Nicht genug, das Trio findet am Tatort eine Tasche, prall gefüllt mit Euros. Was tun? Behalten, ein neues Leben anfangen?
Die Drei denken praktisch und entsorgen Jean-Mi, der offensichtlich dick im Drogengeschäft steckt, fachgerecht – in 520 Fischdosen. Doch diese Art Entsorgung ist noch das kleinste Problem. Jean-Mi wird vermisst, und von der Polizei gesucht, allen voran vom strafversetzten Leutnant Digne (Samuel Jouy). Drogengangster aus Belgien suchen den Verschwundenen ebenfalls, beziehungsweise den Zaster und rücken dem lokalen Mittelsmann (Simon Abkarian) auf die Bude. Das weibliche Trio entwickelt erstaunliche kriminelle Energie, wobei die unerschütterliche Nadine auch mal eine Schrotflinte zur Hand nimmt. Das kann bös enden…
Doch Regisseur Allan Maduit lässt seine Flintenweiber nicht verkommen, die von den Gangster gejagt und gefangen werden, der Polizei aufsitzen und beinahe von Sandra im Stich gelassen worden wären. Ein Film zur sommerlichen Entspannung – schräg, witzig und wechselhaft. Nicht immer logisch, aber lasterhaft lustig. Da sind weder Tiefgang noch psychische Raffinessen gefragt. Über das Trio Infernal erfährt man just das Notwendigste. Immerhin lernt eine von ihnen ihren leiblichen Vater kennen, der auch keine saubere Weste hat. Die drei Arbeiterinnen begehren gegen ihren tristen armen Alltag auf. Dass Allan Mauduit sie gleich zu Rebellinnen macht, ist so übertrieben wie das ganze Katz-und-Mausspiel zwischen Männlein und Weibchen in dieser Krimikomödie, die freilich ein blutiges Ende nimmt – im Stile eines Italo-Western. Und mit einem Augenzwinkern.
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Yao
rbr. Afrikanische Reise. Der Wille oder Wunsch können Berge versetzen. Filmautor Philippe Godeau entwirft folgendes Szenario: Der Knabe Yao (Lionel Basse), um die 13 Jahre jung, hat sich in den Kopf gesetzt, sein grosses Idol, den Schauspieler Seydou Tall (Omar Sy), zu treffen. Als der in Dakar angesagt ist, um ein Buch zu präsentieren, reist Yao über 387 Kilometer, um ein Autogramm zu holen. Ein Freund kneift, und so schlägt sich junge Fan allein durch. Seydou, der Star aus Frankreich mit senegalesischen Wurzeln (wie übrigen auch der Schauspieler Omar Sy), ist berührt, findet Gefallen an dem mutigen aufgeweckten Burschen. Er wird durch ihn an seine Wurzeln, seine Heimat erinnert, die er jetzt bewusst erlebt. Denn er wird Yao auf dessen Heimweg begleiten. Auf andere Weise ist es auch eine Reise zu seinem Sohn Nathan, von dem er getrennt lebt, weil es die Mutter so will. Ein kleines Zwischenspiel mit der durch die Lande tingelnden Sängerin Gloria (Fatoumata Diawara), die sein Angebot ablehnt, mit ihm zu kommen, bestärkt ihn, zu seiner Familie zurückzufinden. Yao versteht und übergibt seinem «Reise-Vater» ein Geschenk für Nathan, ein Tagebuch mit Zeichnungen.
Omar Sy, der gefeierte Star aus «Intouchables» und «Chocolat», wirkt wie ein Baum, eben eine grosse Stütze für den Jungen Yao: Begleiter, väterlicher Freund, Vorbild. Godeau und sein Kameramann Jean-Marc Fabre erzählen eine Geschichte von Sehnsucht und Heimkehr, Bescheidenheit, Bewährung und Besinnung auf die eigenen Wurzeln. Das Roadmovie lebt auch von den afrikanischen Bildern, man spürt den Staub, die Sonne quasi auf der Haut. Keine touristischen Perspektiven, sondern authentische Spiegelungen aus dem Senegal. Ein Satz bleibt besonders in Erinnerung: «Schicksal ist, wenn Gott incognito unterwegs ist.» Eine stimmige berührende Kinoreise.
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Skin
rbr. Aus der Haut gefahren. Ein Film, der nicht nur unter die Haut geht, sondern auch eine Häutung beschreibt. Der aus Israel stammende Regisseur Guy Nattiv, 1973 in Tel Aviv geboren und in New York lebend, greift eine tatsächliche Begebenheit auf. Ein Mann aus der faschistischen Szene im ländlichen Ohio hat von den Gewaltaktionen der Rechtsextremisten die Nase voll und will aus der sektiererischen Bewegung namens Viking Social Club aussteigen. Doch das ist so oder so nicht einfach, denn Bryon Widner ist mit Tatoos übersät – vom Kopf abwärts.
Bryon (Jamie Bell) ist in die Neonazi-Szene reingewachsen und gross geworden. Seine Wahlfamilie haust abseits der Gesellschaft und pflegt einen Kult zwischen nordischer Mythologie und nationalsozialistischer, rassistischer Ideologie. Die erste Filmszene setzt ein Ausrufezeichen und Vorgriff: Bryon lässt sich die ersten Tätowierungen entfernen. Ein Prozess, der über Monate, Jahre dauert. Entscheidend für diese Wandlung ist eine Frau. Er begegnet Juli (Danielle Macdonald), Mutter von drei Gören verschiedener Väter. Juli ist entschlossen, sich von der rechten Szene abzuwenden. Bryon bändelt mit der korpulenten alleinerziehenden Frau an, fühlt sich bei ihr geborgen und entwickelt Verantwortungsgefühl für die Kinder. Doch so einfach lassen ihn Ziehvater Fred (Bill Camp) und «Mom» Shareen (Vera Farmiga) sowie die Skinhead-Gang nicht gehen. Die energische Juli und ihre Kinder sind in Gefahr. Menschenrechtsaktivist Daryle Jenkins (Mike Colter) hilft dem Aussteiger. Mit Hilfe des FBI mutiert Bryon, das heisst: er lässt sich in 25 schmerzhaften Eingriffen seine Tatoos entfernen.
Basierend auf dem Kurzfilm «Skin», ausgezeichnet mit einem Oscar, schildert Filmautor Guy Nattiv die psychische und physische Wandlung eines jungen Mannes. Der schonungslose Spielfilm geht teilweise tatsächlich unter die Haut. Dabei bietet der Brite Jamie Bell («Billie Elliott – I Will Dance», 2000) eine überzeugende Performance. «Skin» ist ein Entwicklungsfilm, aber auch ein Liebes- und Selbstfindungsfilm – brutal, fesselnd, hautnah und letztlich positiv. Ein Manko: Man erfährt so gut wie nichts über die Vorgeschichte von Bryon und seine Tatoos, die er wie Trophäen trägt und wohl diverse (Un-)Taten markieren. Immerhin, aus dem gewaltbereiten Skinhead Bryon wird ein geläuterter, gereifter Mensch mit humanem Bewusstsein. Es ist nie zu spät…
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Yesterday
rbr. Blackout mit den Beatles. Gedankenspiele können heiter und entlarvend sein. Was wäre, wenn die Welt weiblich wäre, wenn die Sonne nicht mehr untergehen würde oder wenn es keine Beatles gegeben hätte? Nun, dass es die Pilzköpfe aus Liverpool gegeben hat, wissen wir, aber wissen es auch die anderen im Film? Regisseur Danny Boyle («Slumdog Millionaires») legt es darauf an. Sein Held, der erfolglose indisch-britische Singer-Songwriter Jack Malik (Himesh Patel) hat eine Begegnung der seltsamen derben Art. Er wird nachts während eines mysteriösen Stromausfalls von einem Bus angefahren und landet in einer anderen, ihm aber doch bekannten Welt. Ihm kommen eine und andere Melodien in den Sinn, die einst die Beatles weltberühmt gemacht haben. Nur, die kennt keiner mehr ausser Jack. Nicht mal Google hat die Famous Four aus Liverpool auf der Platte, heisst im Angebot. Keiner kann sich an die Hits der Pop-Pilzköpfe erinnern.
Jack «schlachtet» quasi seine musikalischen Erinnerungen aus, tritt auf und begeistert. Seine Managerin und Freundin Ellie (Lily James) staunt nur noch, und die Welt sprich Hörerschaft wundert sich. Jack steigt zum Popstar auf, fühlt sich nicht recht wohl in seiner Haut – als Beatles-Erbe und Imitator. Er forscht nach, sucht und findet den alten (vergessenen) John Lennon, der einsam, aber zufrieden irgendwo an einem wilden Küstenstrich haust. Der hat gar nichts gegen Jacks Erfolg, rät ihm aber. ehrlich zu sein.
Die Begegnung mit dem Beatles-Veteran ist nur eines der kuriosen Zwischenspiele, die Danny Boyle in seine Popkomödie «Yesterday» einstreut. Dazu gehören auch ein altes Ehepaar, das sich erinnert und freut, die alten Songs wiederzuhören, oder Popstar Ed Sheeran himself, der Jack unterstützt und als Vorgruppe auftreten lässt. Später ist Ed bei Konzerten des Hit-Stürmers Jack eher zweite Wahl.
Für Beatles-Fans ist es ein Vergnügen, wie die alten Hits aus dem Nichts auftauchen, wie Jack seinen ziemlich desinteressierten Eltern «Let it Be» vorspielt, einen spontanen Wettbewerb mit Ed Sheeran dank «A Long and Winding Road» gewinnt und grosse Hits wiederbelebt (insgesamt 17 im Film). Für einige Songs recherchiert Jack, forscht nach «Eleonor Rigby» (die Kombination eines Ladens in Bristol und den Vornamen einer Schauspielerin), sucht die «Penny Lane» (eine Strasse in Liverpool) auf. «Yesterday» hält Ed für den besten aller Songs, rät aber zum Titel «Hey Dude» – ob «Jude» zu verfänglich schien?
Trotz bissiger Spitzen gegen die Musikindustrie, verkörpert durch die ehrgeizige, raffgierige Managerin Debra Hammer (Kate McKinnon), ist «Yesterday» vor allem eine Huldigung an die Musik der Beatles und ein etwas gezwirbelter Liebesfilm, der mit einer zweifachen Offenbarung im Wembley Stadion endet. Man muss anmerken, dass sich die musikalische Hommage auf die bekannte erfolgreiche Seite der Beatles beschränkt. Das tut aber der spritzigen Pop-Phantasie mit einem anziehenden Himesh Patel als Underdog keinen Abbruch, der dank vermeintlich vergessener Beatles-Hits zum Publikumsliebling aufsteigt. Die Idee ist witzig, die Musik «beatig» und die romantische Headline schmusig. «Love Love Me do» könnte man als Schlussakkord für die filmische Liebeserklärung setzen oder auch Beatles Forever.
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Long Shot
rbr. Eine unmögliche Verbindung. Das kennt man aus Märchen und Romanzen: Gegensätze ziehen sich an. Es müssen ja nicht gerade die Schöne und das Biest sein, aber so ähnlich. Fred Flarsky (Seth Rogen), mehr Flegel denn Feingeist, ist ein verbissener investigativer Journalist. Er eckt immer mal wieder an und kündigt (oder wird gekündigt) bei einem Brooklyner Blatt. Ein Typ mit potthässlicher Windjacke, Basecap und wucherndem Bart. Eher mit Abstand zu geniessen. Und dieser arbeitslose Fred trifft auf einer Benefizparty zufällig seine Babysitterin wieder. Sie ist eine aparte Schönheit geworden, politisch engagiert und avisiert als Aussenministerin den nächsten Karrieresprung an: Charlotte Field (Charlize Theron) will erste US-Präsidentin werden. Die Umfragewerte sind gut, nur fehle ihr Witz und Humor, heisst es. Und so kommt die Kandidatin auf die spontane Idee, den Schreiberling Fred als Ghostwriter zu engagieren. Er soll ihren Reden Pfiff und Pfeffer beimischen. Nur hat sie nicht mit seiner Sturheit und seinem «grünen Engagement» gerechnet. Charlotte hat Umweltbewusstsein auf ihre Fahnen geschrieben. «Rettet Bienen, Bäume und die Weltmeere» (Bees,Trees and Seas). Das gefällt Parteileuten, Unternehmern und dem Mediengigant (Andy Serkis) gar nicht. Sie setzen Charlotte erpresserisch unter Druck. Parallel zur politischen Karriereebene entwickelt sich eine «unmögliche» Liebesgeschichte zwischen der kühlen Politikerin und dem etwas ängstlichen Redeschreiber, der nicht gerade einem Schönheitsideal entspricht.
Regisseur Jonathan Levine inszenierte diese romantische Komödie mit Feingefühl, am Ende gönnt man dem ungleichen Paar ein Happyend. Mit Ironie und Humor zeichnet Levine das internationale Politparkett, die Empfänge, die Partys, das Versteckspiel der Verliebten. Irgendwie siegt die Liebe über die Politik, und da wären wir wieder beim Märchen. Und solche sieht man gern, besonders wenn die Südafrikanerin Charlize Theron, die den Film mitproduzierte, mitwirkt. Sie ist eine Wucht – elegant und souverän, verletzlich und verliebt.
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Push – Für das Grundrecht auf Wohnen
rbr. Verteuern, vertreiben, verdienen. Das Problem nimmt in einigen Städten wie in Berlin oder London drastische und dramatische Formen an. Die Mieten steigen mit jedem Verkauf, mit jeder «Sanierung». Leilani Farha ist UNO-Sonderberichterstatterin für angemessenes Wohnen. Sie bereist die Welt, um die Mietpreisentwicklungen, Wohnrelationen und -krisen zu beobachten und die Gründe festzuhalten, weshalb Menschen aus ihren Wohnungen gepusht werden – von Berlin und London, bis New York, Toronto, Tokio oder Bangkok. Der schwedische Filmer Frank Gertten hat sie begleitet, Wohnsituationen dokumentiert, Stimmen gesammelt. Die Soziologin Saskia Sassen von der Columbia University beispielsweise erklärt «Global Cities» und weshalb leerstehende Wohnungen lukrativer und profitable sein können. Autor Roberto Saviano («Gomorrha») schildert, wie sich in Steueroasen der kriminelle und legale Kapitalismus treffen und geschäften. Die Mietpreise steigen weltweit. Wohnimmobilien sind Anlage- und Spekulationsobjekte, sind Ware geworden, die auf Nutzer und soziale Bedürfnisse keine Rücksicht nehmen. Leilani Farha stellt zutreffend fest: «Ich glaube, es gibt einen riesigen Unterschied zwischen Wohnen als Handelsware und Gold als Handelsware. Gold ist kein Menschenrecht, wohnen schon.»
Global Player wie Blackstone und seine Hedgefonds kaufen Gebäudekomplexe und Quartiere auf, um sie gewinnbringend zu sanieren oder weiterzuverkaufen. Da steckt auch Schweizer Geld drin, beispielsweise von diversen Pensionskassen. Ansonsten bleiben die Immobilienstrategien der Pensionskassen in der Schweiz unerwähnt. Diese hochaktuelle Dokumentation «Push» klärt auf und mahnt, ohne in Polemiken zu verfallen. Sie zeigt auch ein positives Beispiel, wie man mit leerstehendem Wohnraum umgehen kann. Barcelona mit Bürgermeisterin Ada Colau büsst Firmen, die Häuser leer stehen lassen, und kauft selber Häuser, um sie Mietern zu angemessenen Preisen zur Verfügung zu stellen.
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Inna de Yard
rbr. Die Seele Jamaikas. Sein Werk als Regisseur ist mehr als erstaunlich, ja unglaublich. Peter Webber hat Fernsehserien wie «Men Only» (Channel 4), Dokumentation wie «The Sand and the Rain» über den Macuna-Stamm in Kolumbien oder «For the Love of Books» geschaffen. Er hat Spielfilme wie «Girl with the Pearl Earring» mit Scarlett Johansson , «Hanibal Rising» oder «Emperor» mit Tommy Lee Jones und Matthew Fox inszeniert. Und nun hat er sich auf die Spuren alter Männer in Jamaika begeben. Was heisst Spuren: Er hat legendäre Reggae-Musiker und Stimmen geradezu wiederentdeckt und wiedererweckt. Sie heissen «Der Rebell» (Kiddus I), «Der Godfather» (Ken Boothe, «Electric Dread» (Winston McAnuff) oder «Leader der Congos» (Cedric Myton). Dazukommen die Jungen wie VAR, «Chief oft the Maroons» oder JAH9 (Janine Cunningham), die Rasta-Prinzessin und Rebellin.
Das Ur-Quartett versammelte sich an den grünen Hängen von Kingston und wollte die alten Hits wie «Everything I Own» (mit dem Boy George berühmt wurde) oder «By the Rivers of Babylon» (Boney M.) wiederaufleben lassen, das Gene neu beleben, ein Album einspielen und auf Tournee gehen. Im Garten (eine Terrasse über in den Bergen von Kingston) versammeln sich die legendäre Reggae-Recken, jetzt um die 70 Jahre alt. Sie sangen und spielten mit Bob Marley, Peter Tosh oder Jimmy Cliff. Jetzt wollen sie ihr eigenes Ding drehen, Peter Webber und seine Kameraleute sind dabei. Eben in echter Reggae-Atmosphäre im Garten, daher der Name «Inna de Yard». Und sie spielten, sangen und feierten, dass es eine Freude ist.
«Inna de Yard» ist denn auch mehr als ein Musikfilm, eine Biografie, der Film ist ein Bekenntnis, eine Hommage an «The Soul of Jamaica» und seine «Helden», eine Art Buena Vista Social Club of Reggae. Peter Webber ging mit den Rasta-Künstlern auf Welttournee – bis hin zu Konzerten in Paris. Ein vibrierendes Kulturzeugnis. «Die Aufnahmesession für ‚Inna de Yard‘ stehen im Mittelpunkt eines Films, der sich mit der Kultur, Identität und Geschichte Jamaikas, eines faszinierenden und magischen Landes, auseinandersetzt. » Sehen, hören und sich Mitreissen lassen!
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Kursk
rbr. Gefangen und geopfert. Noch ein Fall einer wahren Begebenheit, der fürs Kino zubereitet wurde. Im Jahr 2000 nahm ein russisches Atom-U-Boot in der Barentsee Kurs auf – für ein Manöver. Die K-141-Kursk war mit Marschflugkörpern bestückt – sank, wohl infolge einer Explosion, ausgelöscht durch einen technischen Defekt. Das U-Boot, gebaut 1990/91, war ziemlich marode. Die russische Militärführung behauptet, die Kursk sei durch ein US-Boot gerammt worden und alles, also die Rettung der Überlebenden, im Griff zu haben. 23 U-Bootfahrer hatten sich in eine unbeschädigte Sektion retten können.
Regisseur Thomas Vinterberg und Drehbuchautor Robert Rodat entwickelten das Drama auf drei Ebenen. Einer familiär- privaten, einer menschlichen und einer militärisch-politischen. Anfangs wird eine Hochzeit gefeiert, die Seeleute werden von ihrer Familien und Freudinnen verabschiedet. Man lernt die Männer, die sich da in einen «stählernen Sarg» begeben, und ihr privates Umfeld kennen. Allen voran Kapitänleutnant Michael Averin (Matthias Schoenaerts), er lässt seine Frau Tanya (Léa Seydoux) und seinen Sohn Misha zurück, die um ihn bangen. Zu den Besatzungsmitgliedern zählen u.a. Kapitän Shirokov (Martin Brambach), Sasha (Kristof Coenen), Anton Markov (August Diehl) oder Pavel Sonin (Matthias Schweighöfer). Ein Neuling an Bord ist Leo (Joel Basman), der letztlich eine verhängnisvolle Rolle spielt.
Explosionen haben die Kurks lahm gesetzt und einen Grossteil des Bootes zerstört. Das U-Boot sitzt auf dem Meeresgrund fest. Im hinteren Teil konnten sich 23 Männer retten, doch die Luft wird knapp. Die russische Admiralität, allen voran Vladimir Petrenko (Max von Sydow), versprecht vollmundig Rettung, doch die Flotte verfügt über keine speziellen Rettungsboote, nur über Tauchkapseln. Führungskräfte der Nato, bieten Rettung an. Kommandant David Russell (Colin Firth) der britischen Navy macht sich für einen Einsatz stark, doch die russische Führung wehrt ab, lässt Hilfe nicht zu – aus Prestigegründen. Als nichts mehr geht, lenkt die russische Führung ein. Nach elendig langen drei Tagen gelangen norwegischen Tauchern bis zum U-Boot, sie konnten die Rettungsluke zu öffnen. Zu spät. Angehörige und auch Militärs machen die russische Führung für den Tod der Seeleute verantwortlich, die eine Rettungschance gehabt hätten. Die Besatzung bestand zwischen 112 und 118 Seeleuten. In einer ergreifenden Abdankungsszene verweigern Angehörige, allen voran Averins Sohn Misha, dem greisen Admiral Petrenko den Handschlag.
Das sagt alles über die Haltung und Verantwortung der russischen Führung. Interessanterweise verzichtet Regisseur Thomas Vinterberg darauf, Präsident Putin anzuklagen, der im Jahr 2000 bereits Präsident der Russischen Föderation war, also oberster Verantwortlicher. Der Däne Vinterberg («Die Jagd»), einer Mitbegründer der Dogma-Bewegung, konzentrierte sich wie erwähnt auf drei Handlungsebenen, auf die Geschehnisse unter Wasser (Besatzung) und über Wasser (militärische Führung) sowie auf Land (die Angehörigen). Er legte dabei das Gewicht auf das Zwischenmenschliche, das Emotionale, wobei er ständig und zuweilen hektisch, die Ebenen wechselte, einmal die Dramatik forciert, dann wieder verlangsamte. Nicht immer zum Vorteil. Sein Katastrophenfilm ist stark in den U-Boot-Szenen, bringt die Verlassenheit, Verzweiflung und Tapferkeit der Männer unter Wasser rüber. Insgesamt eine starke belgisch-französisch-norwegische Produktion. Der Zürcher Joel Basman («Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse») zeigt in einer markanten Nebenrolle eine überzeugende Leistung. Der Vielbeschäftigte ist demnächst im Spielfilm «Der Büezer» zu sehen.
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They Shall Not Grow Old
rbr. Verheizt und verloren. «Der Krieg frisst seine Kinder» – es gibt wenige Filme, welche diese Erkenntnis so drastisch und wirklichkeitsnahe auf die Leinwand brachten wie Peter Jacksons «They Shall Not Grow Old». Man denkt an Filme wie «Im Westen nichts Neues», «Die Brücke», «Apokalypse Now» oder «Dunkirk». Doch Jacksons Filmmontage in 3D entwickelt Anziehungskraft, weil sie unglaublich authentisch, hautnah und dokumentarisch modern wirkt. Der Neuseeländer Jackson ist vor allem bekannt geworden durch seine Trilogie «Lord of the Rings». Einem Archäologe vergleichbar ist er tief in die Archive des Imperial War Museums und der BBC gestiegen und hat altes Filmmaterial zum Ersten Weltkrieg ausgegraben.
Der Anfang 1914 – die Rekrutierung, die Euphorie der jungen Freiwilligen, ihre Militarisierung – wird überwiegend in Schwarzweissbildern dokumentiert, nur punktuell durch Farbsplitter (Flagge) ergänzt. Doch wenn es wirklich Krieg wird, in Flandern an der Front, werden die Bilder gelblich, schmutzig, farbig. Die Konturen werden markanter, schärfer, lebendiger. Jackson und sein Team haben die alten Aufnahmen bearbeitet, aufgepusht und angepasst (etwa in den Bewegungen heisst bei der Geschwindigkeit der Bilder). Veteranen kommentieren aus dem Off. Die blutjungen Soldaten, halbe Kinder noch, sprechen, erzählen über den schmutzigen, schlammigen Alltag, den unendlichen Beschuss, die grauenvolle Angriffe, das sinnlose Sterben. Sie erleben auch, dass die Gegner auch nur Menschen sind – Bayern, Preussen und andere – mit menschlichen Zügen, mit Leidensfähigkeiten und Ängsten.
Jackson, so wird berichtet, hätte die Aussagen der Soldaten von den Lippen ablesen lassen. Militärveteranen – beim Filmabspann werden Dutzende von Namen (Voices) aufgeführt – hätten dann die Texte eingesprochen.
Die Bilder sprechen für sich. Das Abenteuer Krieg – glaubten die jungen Soldaten – zeigte seine mörderische Fratze. Das Fazit: Nie wieder Krieg. Und doch, nur zwanzig Jahre später brachen Hitlers 1939 braune Kohorten und Militärs den Zweiten Weltkrieg vom Zaun.
Der Krieg ist kein Abenteuerspielplatz, machte Jünglinge nicht zum Mann, sondern zu Krüppeln und Veteranen, die dann nach Kriegsende in England keine Jobs fanden, gemieden und abserviert wurden. Manche fragten sich vielleicht angesichts der technischen Eingriffe und bei der massiven Bearbeitung des historischen Materials, bei Synchronisierung und Dramatisierung: Darf man das? Ich meine, das darf man sehr wohl. Denn das dokumentarische Material wurde nicht verfälscht, sondern verschärft, nicht verraten, sondern in eine zeitgemässe Bildsprache verwandelt. Einen besseren Anti-Kriegsfilms als «They Shall Not Grow Old» sehe ich weit und breit nicht. Er führt drastisch vor Augen: Krieg ist nicht das letzte (oder erste) Mittel der Politik, sondern ein Moloch, der Menschen entmenschlicht und verschlingt. Heute wie vor 100 Jahren!
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Cronofobia
rbr. Verlorene Identitäten. Sie sind keine Lebenskünstler, eher Lebensleidende, die sich scheinbar finden und doch verloren gehen. Michael Suter (Vinicio Marchioni) ist ein Eigenbrötler, Privatdetektiv, ständig unterwegs als Tester. Er überprüft Kundenservice in Hotels, in Restaurants, an Tankstellen. Man wird nicht recht schlau aus ihm: Ist er auf der Flucht, auf der Suche? Er reist durch die Schweiz in einem Transporter, wechselt das Aussehen, als wollte er sich verschiedene Leben aneignen. Anna (Sabine Tomoteo) schleppt ein schweres Trauma mit sich. Sie hat ihren Mann verloren. Sie verhält sich störrisch, rebellisch. Und diese beiden einsamen Seelen kreuzen sich, genauer: Michael spürt Anna nach, sucht ihre Nähe, ihre Liebe? Wenn man will, ein Roadmovie von Zürcher Hotels zu Tessiner Stätten, Bündner Villen und anderswo. Und doch kein Roadmovie, eher eine Seelenwanderung, Fluchtversuche aus dem eigenen Gefängnis.
Der Tessiner Francesco Rizzi, geboren in Mendrisio, beschreibt in seinem Spielfilm-Debüt einen rätselhaften Zustand einer Angststörung.
«Cronofobia» handelt vor der Angst, sich der Zeit, des Vergehens, des Zerrinnens zu stellen. Rizzi geht es um den Prozess permanenter Veränderung, um Mobilität und Rastlosigkeit, aber auch um Sehnsucht nach Vergangenem, nach einem Ruheort, einem Halt. «Auf der einen Seite ist Suter, eine Art Grossstadt-Asket, ein rastloser Mann, der ständig sein Aussehen ändert, der fast nichts hat, nicht einmal ein echtes Zuhause; er ist ein Mann, der alles tut, um zu vergessen und um sich selbst und seiner Schuld zu entfliehen», erklärt der Filmautor. «Auf der anderen Seite ist Anna, eine Frau, die sich weigert, die Realität zu akzeptieren und die wie erstarrt in der Vergangenheit lebt.» Francesco Rizzis Beziehungsdrama ist sperrig, fordert Aufmerksamkeit und wohl auch Zuneigung zu einem spröden Thema. Man folgt den Protagonisten und verliert sich wie sie. Ein intimes Intermezzo, das gewollt vieles offen lässt.
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Le grand bain
rbr. Wenn Männer baden gehen und auftauchen. Sie tatsächlich «baden gegangen», haben versagt, verloren, Pech gehabt. Sie alle, um die vierzig Jahre alt, stecken in einer privaten, beruflichen, menschlichen Krise. Eine scheinbar komische Idee, nämlich die einer männlichen Synchronschwimmtruppe, führt sie zusammen, ganz unterschiedliche Typen mit verschiedenen Problemen, Sorgen, Hoffnungen. Der Teamgeist schweisst sie zusammen – trotz aller Hänseleien, Skepsis und Zweifel.
Bertrand (Mathieu Amalric) ist deprimiert, wird gleichwohl von seiner Frau (Marina Fois) gestützt und unterstützt. Laurant (Guillaume Canet) ist alles anderes als ein Sympathieträger, streng, aufbrausend, ekelig. Kein Wunder haben ihn Frau und Mutter verlassen, sie haben von ihm die Nase voll. Thierry (Philippe Katerine), der Badeangestellte, verkörpert das genaue Gegenteil – schüchtern, unbeachtet, einsam, der bei Frauen so wenig landet wie ein Fisch an Land, es sei denn er ist gestrandet. Poolverkäufer Marcus (Benoît Poelvoorde) will die Realität partout nicht wahrhaben, dass seine Badewannen eben auf dem Trockenen bleiben. Simon (Jean-Hugues Anglade) jobbt als Kantinenmitarbeiter, lebt in einem Wohnwagen und träumt immer noch von einer Rockmusikerkarriere. Seine Frau verachtet ihn, hat ihn verlassen, seine Tochter kann ihn nicht ernstnehmen, hat höchstens ein wenig Mitleid. Das Duo Basile (Alban Ivanov) und Avanish (Balasingham Thamilchelvan) wirkt wie ein Fremdkörper, man versteht sich, auch ohne Französisch. Dieser komischen Clique in Badehosen nimmt sich die Schwimmlehrerin Delphine (Virginie Efira) an, die aber anfangs mehr Interesse an ihren Zigaretten als an den untrainierten «Wasserratten» zeigt, aber dann… Erst recht als ihre alte Partnerin Amanda (Leila Bekhti) im Rollstuhl zur Seite «steht». Einst hatten die beide sportliche Erfolge als Synchronschwimmerinnen gefeiert, sich dann aber entzweit. Die Strampelmänner sollen fit gemacht werden für die Weltmeisterschaft in Schweden und Frankreich vertreten…
Gilles Lellouche hat mit «Le grand Bain – Ein Becken voller Männer» eine liebenswürdige Sozialkomödie geschaffen, die entfernt an jene arbeitslose Männer in Sheffield erinnert, die ihre Krise mit einer Stripshow bewältigen wollten in «The Full Monty – Ganz oder gar nicht» (1997). Lellouche Tauchgang hat Tiefgang – trotz aller Mätzchen, neckischen Zwischenspiele und Galgenhumor. Die desillusionierten Mannsbilder ohne Flossen, aber mit Mut und Teamgeist sind keine Vorzeige-oder Muskelmänner, avancieren gleichwohl zu Helden mit Herz. Lellouches Ensemblefilm, in Frankreich ein Grosserfolg, amüsiert, ohne in Kitsch und Klamauk zu versinken. Er begleitet ein «Fähnlein der sieben aufrechten Schwimmer», angeführt von zwei Frauen. Zeitgemäss komisch und liebenswürdig.
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to be continued