«Filmporträts und Persönlichkeiten auf der Spur»
Von Rolf Breiner
Filmporträts sind so alt wie das Kino, angefangen über historische Helden, Krieger, Kaiser, Staatsmänner, Dichter bis zu Architekten, Künstlern oder Malern. Just ist wieder ein entsprechender Trend auszumachen. Wir richten unser Augenmerk auf Filmporträts über den Fussballgott Diego Maradona, den im September verstorbenen Fotografen Peter Lindbergh («Peter Lindbergh – Women’s Stories») und den Schweizer Maler Franz Buchser («The Song of Mary Blane»).
Bruno Moll entdeckte den Schweizer Maler Frank Buchser, der im 19. Jahrhundert die marokkanische Stadt Fez – undercover – besuchte und in den USA in Mission unterwegs war: «The Song of Mary Blane». Eine filmische Annäherung an eine fremde Zeit mit Querverbindungen zu heute.
Interessante, spannende Persönlichkeiten haben immer wieder zu Filmwerken animiert, und das seit Beginn der Kinogeschichte. Bereits 1897 wurde ein Filmporträt über Jesus geschaffen. Diesbezüglich muss man grundsätzlich zwei Formen unterscheiden, eine dokumentarische und eine spielerische, fiktionale Form, also Dokumentar- oder Spielfilme, dazwischen positioniert sich die Mischform Dokufiction, die besonders im Fernsehen bei historischen Themen wie Luther, Marx und andere sehr beliebt ist. Dokumente und Archivaufnahmen werden mit Spielszenen ergänzt oder vermischt.
Historische Geschichtsbilder wie «Zwingli» oder Künstlerporträts beleben die Leinwand, so beispielsweise das Filmdrama «Colette» (2018) über die französische Schriftstellerin und Künstlerin Colett, die Biografie «Paula» von 2016 (mit der Schweizerin Carla Juri) über die Malerin Paula Modersohn-Becker oder der Spielfilm «At Eternity’s Gate» (2019) über Vincent van Gogh. Aber auch die spielerische Dokumentation über ein Tanzgenie «Yuli» (2018), wobei der kubanische Balletttänzer Carlos Acosta sich selber einbringt, oder aktuell der Spielfilm «Nurejew – The White Crow» bewegen.
Er war ein Künstler auf seine Art – auf dem Rasen. Ein Lebenskünstler war er nicht, der Argentinier Diego Maradona. Aus dem Armenviertel am Stadtrand von Buenos Aires erklomm er die Weltbühne des Fussballs, zuerst kurz in Barcelona, dann von 1984 bis 1991in Neapel. Er wurde verehrt, vergöttert – trotz oder eben der «Hand Gottes» (er hatte bei der WM 1986 in Mexiko ein Tor gegen England mit der Hand erzielt). Er wurde mit der argentinischen Nationalmannschaft Weltmeister (und gewann im Final 3:2 gegen Deutschland). Im Süden Italiens wurde ihm geradezu himmlisch gehuldigt, als der den SSC Neapel 1986/87 erstmals zum italienischen Meister schoss. Der Abstieg begann nach der WM 1990 in Italien, Argentinien warf Italien aus dem Wettbewerb (nach Penaltyschiessen), verlor aber im Endspiel gegen Deutschland 1:0. Im folgenden Jahr wurde ihm Kokain nachgewiesen, der SSC Neapel löste seinen Vertrag auf. Maradona, drogensüchtig und alles andere als fit, tingelte von Sevilla zurück nach Argentinien, versuchte sich als Club-Trainer, später auch als argentinischer Nati-Coach (2008 bis 2010). Der Dokumentarfilm «Diego Maradona» (2019) von Asif Kapadia konzentriert sich vor allem auf die Erfolgsjahre in Neapel. In 130 Minuten wird Aufstieg und Fall eines Idols und Halbgottes beschrieben und dokumentiert, der dem Erfolg nicht gewachsen war, sich auf sich selbst verliess und scheiterte. Das Filmporträt, natürlich mit herrlichen Fussballszenen gespickt, spart die dunklen Seiten des Stars, der zwischen Drogen und fussballerischer Genialität schwankte, nicht aus – sowohl was seine Verstrickungen mit dem Mafiamilieu als auch sein Privatleben samt Liebschaften und Lügen (über Jahrzehnte an verweigerte er die Anerkennung eines Sohnes) betrifft.
Und doch bleibt das Porträt, das teilweise mit spektakulärem Archivmaterial aufwartet, trotz tiefem Blick hinter die Kulissen unvollständig, unbefriedigend. Vieles bleibt rätselhaft – trotz Statements seiner Begleiter, Kommentatoren oder von ihm selbst.
Diego Maradona lebte sein Leben bis zur Neige aus – vor allem ausserhalb des Spielfeldes. Warum wurde er nicht gebremst, warum wurde ihm nicht geholfen, warum liess er sich nicht helfen? Die Bezüge zur Gesellschaft, die verheerendes Vernetzung von Glanz und Gloria, von Anspruch und Absturz werden nur angetippt, aber nicht analysiert. Die Tragödie Maradona ist auch ein Spiegelbild einer Gesellschaft, die auf Gewinn und Ruhm, auf Biegen und Brechen geeicht ist. Trotz allem, keine Heldenhymne, sondern eine menschliche Tragödie. Sehenswert – nicht nur Fussballfans.
Man nennt ihn den «Regisseur unter den Fotografen». Zu Recht, hat der Deutsche Peter Lindbergh doch unbekannte Sternchen zu Stars gemacht, sie inszeniert statt nur für Modemagazine abzulichten. Der 74jährige Künstler und Filmer mit bürgerlichem Namen Peter Brodbeck, 1944 im damaligen Wartheland, heute Polen, geboren, revolutionierte die Modefotografie. Er starb am 3. September in Paris.
Mit 18 Jahren zog es ihn in die Schweiz, in Krefeld begann er ein Malstudium, wandte sich 1971 der Fotografie zu und lebte ab 1988 in Paris. Von dort eroberte er die Modewelt, arbeitet für die Zeitschriften Vogue, The New Yorker, Vanity Fair oder Rolling Stone. Modells wie Naomi Campbell, Cindy Crawford, Tatjana Patitz, Christy Turlington oder Linda Evangelosta wurden zu Superstars. Seine Modesessions entwickelten sich zu Inszenierungen auf dunklen Strassen und Industriegeländen und anderen Szenerien abseits von Glanz und Glamour. Er hat sie alle in ein anderes (Schwarzweiss-)Licht gesetzt, Stars wie Catherine Deneuve, Charlotte Rampling, Madonna, Nastassja Kinski, Tina Turner, aber auch die Stones oder John Travolta. Am Filmfestival war Peter Lindbergh mit zahlreichen Porträts präsent, vereinigt auf riesigen Schwarzweiss-Plakaten. Unter dem Titel «Emozioni!» vereinigte er die Persönlichkeiten Stephan Eicher, Musiker, Sandra Knecht, Künstlerin und Köchin, Christa Bösch & Cosima Gadient, Modedesignerinnen, Kerim Seiler, Künstler und Architekt, Shirana Shabazi, Künstlerin und Fotografin, Max Hubacher, Schauspieler, und Maya Rochat, Künstlerin. Unübersehbar in der Festivalstadt. Da ist es unverständlich, dass Jean Michel Vecchiets Filmporträt «Peter Lindbergh – Women’s Stories» nicht im Rahmen des Festivals aufgeführt wurde. Vecchiet versucht in seinem Dokumentarfilm das Phänomen Lindbergh zu fassen, zu bebildern. Er konzentriert sich dabei – siehe Titel – auf die facettenreichen Verhältnisse des Fotokünstlers zu Frauen, die dann auch zahlreich zu Bild und Wort kommen, Modells, Ehefrauen, Freundinnen, seine Schwester und mehr.
An der Fülle des Materials droht der Regisseur Vecchiet, ein jahrelanger Begleiter Lindberghs, schier zu ertrinken. Rastlos und umtriebig kuppelt er Fotodokumente, Statements und Filmaufnahmen, so dass man zuweilen als Zuschauer nicht mehr weiss, wo einem der Kopf steht, wer denn wann wieso und wie lange mit dem Künstler liiert war, ob sich Fotos aneinanderreihen oder Filmpassagen aus Lindberghs Werken mit Aufnahmen montiert und verschmolzen wurden. Sicher breitet sich hier spannendes, eindrücklich meisterhaftes Material aus, doch ein wenig mehr Struktur hätte der Hommage an Lindbergh und seine Musen gutgetan. Vecchiet liefert keine Chronologie, beschreibt im Grunde keine Lebensgeschichte, sondern arbeitet assoziativ – erhellend und irritierend zugleich. Erst gegen Schluss erklärt sich Lindberghs Karriere und Leidenschaft für Frauen. Die Mutter, die ihre künstlerischen Ambitionen nicht verwirklichen konnte, und seine Kindheit waren Ausgangspunkte, seine kreative Triebfeder. Ein Porträt wie ein Mosaik, das sich aus vielen Partikeln zusammensetzt. Ein abschliessendes Bild liefert der Film nicht, wohl aber eine aussergewöhnliche visuelle Reise.
Auf eine Reise ganz anderer Art begab sich der Oltener Filmer Bruno Moll. Er folgte den Spuren des Schweizer Malers Frank Buchser (1828 – 1890). Für viele ein Unbekannter. Er war ähnlich wie Karl Bodmer (1809 – 1893), der grosse Indianer-und Landschaftsmaler, ein Reisender mit Zeichenblock und bisweilen Staffelei. Ein Besessener auch, von der maurischen Kultur fasziniert als türkischer Scheich getarnt, der heimlich die Stadt Fez in Marokko bereist, was einem Christen bei Todesstrafe verboten war. Unbeirrt setzte Buchser sein Vorhaben 1858 durch, «Fez auf Papier zu bannen». Um 1866 erhält er von der Schweizer Regierung den Auftrag, ein Gemälde mit den «Helden des amerikanischen Bürgerkriegs» für den Nationalratssaal in Bern zu entwerfen. So macht er sich auf die Reise nach Charlottesville und Washington, um Skizzen von Persönlichkeiten wie General Lee, den Präsidenten Abraham Lincoln, Andrew Johnson oder Ulysses S. Grant anzufertigen. Nebenbei hatte ihn der Bundesrat mit der Mission betraut, gewisse Abklärungen über gewisse Schweizer Expansionsgelüste zu tätigen und moderne Waffen für die Schweizer Armee zu prokurieren, also anzuschaffen. Ungeheuerlich heute.
Bruno Moll stiess bei seinen Recherchen auf Buchsers Tagebücher und seinen Briefverkehr mit dem Bundesrat. Aus diesem Material rekonstruiert der Filmer den Reisebericht und das Porträt «The Song of Mary Blane». Der Titel bezieht sich auf ein Buchser-Gemälde, das ein Kulturbild Amerikas verdichtet – mit Schwarzen und Farbigen beim Picknick (es hängt im Kunstmuseum Solothurn).
Basis dieser Reise in den Maghreb und nach Nordamerika bildeten die Tagebücher Frank Buchsers, zitiert von Yves Raeber, und natürlich Bilder, Zeichnungen und Skizzen, denen Ingo Giezendanner im Film Hand lieh. Bruno Moll und seine Kameramann Edwin Horak fanden dazu stimmige Bilder, nicht selten an Originalschauplätzen, die teils als Illustrationen, teils als Assoziationen wirkten. Frappant bei dieser Belebung und «filmischen Annäherung an den Maler Frank Buchser» ist, wie aktuell sie sind. Leicht spannt sich der Bogen von den Konflikten im 19. Jahrhundert zu denen heute. Der Rassismus lebt nach wie vor – unter anderem Deckmantel, in anderen Worten weiter. Die Ausschreitungen in Charlottesville 2017, mit dem der Film beginnt, legen davon Zeugnis ab. Wie gesagt, die Reisen, das malerischen Dokumentation stehen im Zentrum dieses Dokumentarfilm. Der Mann Frank Buchser und sein privates Umfeld werden angedeutet, besonders was seine Haltung zu Frauen anging, die absolut dem 19. Jahrhundert verhaftet war. Er war kein Kostverächter. Ein Satz wie «Sie erlaubte mir von ihrer Liebe zu kosten» lässt tief blicken oder auch nicht. Hier hielt sich Porträtist Bruno Moll gegenüber dem Frauenheld Buchser zurück. Insofern blieb Buchser ein Mann seiner Zeit, ein Abenteurer mit Verständnis und Sympathie für Indianer und ehemaligen Sklaven.
«Zurich Film Festival 2019: Goldene Augen gehen in die USA, nach Rumänien und nach Deutschland»
Die Goldenen Augen der drei Wettbewerbe des 15. Zurich Film Festival gehen an SOUND OF METAL von Darius Marder (Internationaler Spielfilm), COLLECTIVE von Alexander Nanau (Internationaler Dokumentarfilm) und SYSTEMSPRENGER von Nora Fingscheidt (Fokus: Schweiz, Deutschland, Österreich). Der Preis der Kinderjury geht an ZU WEIT WEG von Sarah Winkenstette aus Deutschland. Ausserdem wird Cate Blanchett mit dem Golden Icon Award geehrt. Die Preise wurden im Rahmen der glamourösen Award Night im Opernhaus verliehen.
Die prestigeträchtigste Auszeichnung des Festivals, der Golden Icon Award, wurde an Cate Blanchett verliehen. Fünf Jahre nachdem sie BLUE JASMINE am Zurich Film Festival (ZFF) vorgestellt hat, ist die Oscar Preisträgerin wieder in Zürich, um den Golden Icon Award entgegen zu nehmen. Die beiden Mitbegründer des ZFF, Nadja Schildknecht und Karl Spoerri, sind erfreut, sie wieder in Zürich begrüssen zu dürfen: «Cate Blanchett ist eine der besten Charakterdarstellerinnen des heutigen Hollywood und eine der vielseitigsten Schauspielerinnen der Filmbranche. Sie hat auf der Kinoleinwand viele unvergessliche Charaktere zum Leben erweckt». Dazu gehören die Filmtrilogie LORD OF THE RINGS und die bösartige sowjetische Agentin Irina Spalko in INDIANA JONES AND THE KINGDOM OF THE CRYSTAL SKULL. «Es war uns eine Ehre, Cate Blanchett beim diesjährigen Festival unseren Golden Icon Award zu überreichen», so Schildknecht und Spoerri. Am gleichen Abend präsentierte Cate Blanchett ihren neuen Film WHERE’D YOU GO, BERNADETTE am Festival.
Das 15. Zurich Film Festival, das heute Sonntagabend zu Ende geht, verzeichnete rund 117’000 Besucherinnen und Besucher. Das sind 11 Prozent mehr als letztes Jahr. Die Co-Direktoren Nadja Schildknecht und Karl Spoerri sagen, der Rekord zeige, dass das Festival in der Schweiz gut verankert sei und international immer stärker ausstrahle. «Wir freuen uns, dass wir gegenüber dem Vorjahr nochmals rund 13’000 Zuschauer mehr anlockten», erklären die beiden Co-Direktoren Nadja Schildknecht und Karl Spoerri. «Insbesondere in den USA und in Deutschland ist die mediale Aufmerksamkeit in diesem Jahr nochmals markant gestiegen.“
Besonders erfreulich ist, dass der Fokus Wettbewerb, in dem erste, zweite und dritte Arbeiten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gezeigt wurden, 15 Prozent mehr Besucher verzeichnete als im letzten Jahr. Aber auch der Internationale Dokumentarfilm-Wettbewerb wurde besser besucht, ebenso die Gala-Sektion, die ZFF für Kinder-Reihe und die neue Sektion Hashtag, die dieses Jahr dem Thema «Speaking the Truth» gewidmet war. «Mit unseren Filmen ist es gelungen, Diskussionen zu Themen wie Umweltschutz oder die Bedeutung der freien Presse zu stimulieren», erklären Schildknecht und Spoerri. «Oft gab es nach den Vorstellungen engagierte Diskussionen des Publikums mit den Filmschaffenden und auch die Medien haben die relevanten Zeitfragen aufgegriffen».
Mit Cate Blanchett, Kristen Stewart, Javier Bardem, Oliver Stone, Roland Emmerich und Julie Delpy waren hochkarätige Gäste in Zürich. «Bei uns ist das Schaulaufen der Stars nicht Selbstzweck, alle unsere Gäste sind nach Zürich gekommen, um ihre Filme vorzustellen und über ihr künstlerisches Schaffen zu sprechen», sagen Schildknecht und Spoerri. «Vom ersten Tag an, als wir mit der Weltpremiere der Schweizer Grossproduktion ‚Bruno Manser’ starteten, herrschte eine gute Stimmung. Die Leute setzen sich mit den Filmen auseinander, geniessen aber auch die lockere Atmosphäre. Das ZFF ist ein Fest fürs Kino, dazu gehört auch, dass man Spass hat und Partys feiert, denn das Kino hat ja seine Wurzeln im Jahrmarkt».
Das 16. Zurich Film Festival findet vom 25. September bis 4. Oktober 2020 unter der neuen Leitung von Christian Jungen statt.
6. Oktober 2019
«Golden Eye Award für Kristen Stewart am 15. Zurich Film Festival»
Von Ingrid Isermann
Am 2. Oktober 2019, 20.15 Uhr findet im Zürcher Kino Corso die Galapremiere von «Seberg» statt, an der Kristen Stewart mit dem Golden Eye Award des ZFF ausgezeichnet wird. An der Pressekonferenz am Nachmittag im NZZ Foyer gibt die junge Schauspielerin, die Jean Seberg (1938-1979) im Film verkörpert, bereitwillig Auskunft über die tragische Story der Nouvelle vague-Ikone Seberg, die vom FBI wegen ihrer Unterstützung der Black Panthers massiv bespitzelt und verleumdet wurde.
Sebergs Privatleben geriet dadurch aus den Fugen, sie wurde mit nur 40 Jahren in ihrem Auto tot aufgefunden. Ob es Selbstmord oder Mord war, konnte nie aufgeklärt werden. Das FBI besitzt umfangreiche Dossiers über die illegalen Überwachungsprogramme, mit dem die Bürgerrechtsbewegung bekämpft und ausspioniert wurde. Im Film «Seberg» wird der ambitionierte Jungagent Jack Solomon auf die Schauspielerin angesetzt, dem mit der Zeit immer mehr Zweifel kommen und er seinen rigiden Einsatz und sich selbst zu hinterfragen beginnt. Regisseur Benedict Andrews erklärt, dass Jack fiktional ist und es diese bestimmte Person nicht beim FBI gegeben hat. Doch sie macht deutlich, wie skrupellos die Agenten vorgingen und Seberg das Leben zur Hölle machten, als auch noch bekannt wurde, dass sie mit dem schwarzen Bürgerrechtler und Moslem Hakim Jamal eine Affäre hat, der ihr sagte, sie spiele mit dem Feuer. Seberg unterstützte die Black Panther, die als Staatsfeinde galten, mit Geld und Aussagen gegen den Rassismus gegen Schwarze. Damit war sie im zentralen Fokus.
Ob Seberg naiv gewesen sei, ob sie das nicht gewusst hätte, wurde Stewart, die mit Dächlikappe auf ihrem blonden Kurzhaarschnitt auftrat, gefragt: «Wir wissen nicht alles, ich kann nur nachempfinden, wie man unter einem solchen Druck lebt und sie versucht hat, sich und ihre Privatsphäre zu schützen. Sie hatte ja nie die Chance, ihre Story selbst zu erzählen. Sie war auf der Suche nach Wahrheit».
Ob Kristen Stewart ihre eigenen Privatsphäre schützt? «I don’t keep my privacy private»,
sagt Stewart dazu, aber sie selbst sei nicht auf Social Media, «ich glaube nicht, dass ich das brauche, und bin glücklich, direkt persönlich mit meinen Freunden zu kommunizieren.
Aber ich verstehe, dass Social Media für viele Leute wichtig ist».
Ob sie auch Stellung nehme zu Genderfragen und Klimawandel? «Ich hab keine Angst, das auszusprechen, wenngleich es viele für nicht dringlich halten». Die Umstände des Todes von Jean Seberg bleiben im Dunkeln. Der Regisseur meint, «da könnten noch viele Stories erzählt werden».
Jean Seberg war den Menschen zugetan, sie war offen, Gewalt war nicht ihre Sache: «Sie hatte die reinsten Absichten», meinte Kristen Stewart, die Seberg glaubwürdig verkörpert und sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schauspielerin des Kultfilms «À bout de souffle» aufweist. Der Biopic «Seberg» ist nicht zuletzt wegen der Problematik der Überwachungen der amerikanischen Nachrichtendienste aktuell und sehr sehenswert!
(Siehe auch Archiv Nr. 38, 06/2014, Literatur & Kunst «Jean Seberg – Eine Amerikanerin in Paris»)..
Ausstellung COLOR MANIA im Fotomuseum Winterthur
I.I. Film ist seit Beginn der Kinematografie ein farbiges Medium und eine bunte Kunstform. Die im Laufe der Filmgeschichte entstandenen Farbfilmverfahren wurden zum Teil in enger Verflechtung mit der Fotografie entwickelt. Die neue Ausstellung COLOR MANIA im Fotomuseum Winterthur beleuchtet diese Entwicklung und die Geschichte des Materials Farbe in Fotografie und Film. Präsentiert werden Filmstreifen, grossformatige Bildmotive und Originalabzüge sowie Werke der zeitgenössischen FotografInnen und KünstlerInnen Dunja Evers, Raphael Hefti, Barbara Kasten und Alexandra Navratil, die aufzeigen, wie historische Farbverfahren und Techniken heute Anwendung finden.
Eröffnung & Apéro Freitag, 6. September 2019, ab 18 Uhr.
Kurzfilmprogramm Color Moods an den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur,
Donnerstag bis Sonntag 07.-10.11.2019
Sonderführung mit Prof. Barbara Flückiger, Filmwissenschaft Uni Zürich, und Buchpräsentation Color Mania, Samstag 9. November 2019, 14 Uhr.
Weitere Veranstaltungen unter www.fotomuseum.ch
Nachruf Fotograf Robert Frank (9.11.1924-9.9.2019): «Just look at the pictures»
Robert Frank mochte keine Erklärungen zu seinen Fotos, die Zuschreibungen und Interpretationen überliess er den Betrachtenden. Und was er fotografierte, war auf jeden Fall nichts Spektakuläres, nichts Eitles oder Aufsehenerrendes. Es war das Beiläufige, Nebensächliche, das uns im Alltag umgibt, das er mit wachen Sinnen und einem Gespür für das existenziell Menschliche wahrnahm und als Augenblick der Wahrheit festhielt. Da brauchte es keine grossen Worte, einfach hinschauen sollte man, vielleicht aus einer Perspektive, die man vorher noch nie beachtet hatte. So war Robert Franks legendärem Fotobuch «The Americans» (1959) zunächst kein Erfolg beschieden, zu melancholisch hatte
er die triste Gegenwart vieler Amerikaner abgebildet, die vom American Dream weit entfernt waren – und es heute unter Trump mehr denn je sind. Sein Augenmerk richtete der 1924 in einer jüdischen Familie in Zürich geborene Robert Frank stets auf die Schwachen, die Schwächeren am Rande der Gesellschaft. Auch in seinen Filmen war Frank experimentell unterwegs, mit eindrücklichen Bildern aus seinem privaten Familienleben und Einblicken in die Psychiatrie. Ein Film über die Rolling Stones 1972 war derart drastisch, dass die Band ihn lange unter Verschluss hielt. Ich erinnere mich an einen Auftritt von Robert Frank im Vortragssaal des Kunsthauses Zürich anlässlich seiner Ausstellung, einer der seltenen Besuche in seiner Heimatstadt, wo er lakonisch und trocken, aber präzise und humorvoll auf Fragen antwortete. Die Intensität des Altmeisters der Fotografie war beeindruckend.
Am 9. September 2019 ist einer der grössten Fotografen des 20. Jahrhunderts mit 94 Jahren verstorben. Im Fotohaus c/o Berlin ist eine umfangreiche Robert Frank-Ausstellung zu sehen. 13. September bis 30. November 2019.
Ingrid Isermann
«15. Zurich Film Festival mit starken Frauen»
rbr. Sie blicken auf 15 Jahre mit «Blut, Schweiss und Tränen» zurück, so die Festivalleiter Nadja Schildknecht und Karl Spoerri. Ihr Weg seit 2005 war beschwerlich, führte aber stetig bergauf. Jetzt haben sie den Gipfel erklommen und können mit der 15. Ausgabe des Zurich Film Festival (ZFF) ein Fähnchen setzen. Das Direktorenpaar Schildknecht (operative Leitung) und Spoerri (künstlerische Leitung) wird im nächsten Jahr das ZFF-Zepter abgeben, Nachfolger wird NZZ-Journalist Christian Jungen («Frame») sein. Standesgemäss am Uetliberg, sprich Hotel Atlantis by Giardino, luden die ZFF-Gründer und Festivalmanager zur letzten Pressekonferenz, um die Ausgabe 15 vorzustellen.
Nach anfänglichen Anfeindungen und steifer Gegenbrise hat sich das Zurich Film Festival (ZFF) längst etabliert und internationales und spätes nationales Renommée gewonnen. Die Zahlen sprechen für sich: Die Zuschauer stiegen von 8000 im Gründungsjahr 2005 auf 90 500 im Jahr 2016, von 98 000 im Jahr 2017 auf 104 000 letztes Jahr. Nun werden abermals über 100 000 Besucher angepeilt. Das Budget kletterte von 7,3 auf 7,8 Millionen Franken. Die Stadt Zürich 350 000 und der Kanton 270 000 Franken bei. Nadja Schildknecht und Karl Spoerri ist es gelungen, dass nun auch Gelder vom Bund nach Zürich zum ZFF fliessen. «Wir haben die Firma und deren Struktur so umgebaut, dass wir den Anforderungen des Bundesamtes für Kultur nunmehr gerecht werden. Der Bund fördert uns nun mit 247 000 Franken.», resümierte Nadja Schildknecht.
Das Festivalprogramm ist vielfältig bunt, dramatisch, anregend, unterhaltsam, illuster und attraktiv. Über 170 Filme wurden angekündigt – aus aller Welt, aber auch mit deutschsprachigem Schwerpunkt im Wettbewerb «Fokus» mit zwölf Filmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, beispielsweise mit «Volunteer», einem Schweizer Dokudrama über Flüchtlingshilfe in Griechenland, mit «Systemsprenger», einem deutschen Drama über einen wilden Neunjährigen oder mit «Lillian», einem Roadmovie aus Österreich über eine junge russische Frau in den USA.
Herzstück des ZFF ist der internationale Wettbewerb, in dem 38 Filme konkurrenzieren, aufgeteilt in drei Sektionen – wie erwähnt in «Fokus», in internationaler Spielfilm und Dokumentarfilm, darunter etwa der Schweizer Beitrag «Silence Radio», in dem sich die Journalistin und Nachrichtensprecherin Carmen in Mexiko für die Wahrheit einsetzt. Entsprechend werden Golden Eyes, die Goldenen Augen, vergeben. Gefragt sind wie immer Gala-Premieren und Special Screenings. Den Auftakt macht «Bruno Manser – Die Stimme des Regenwaldes», ein Schweizer Spielfilm von Nik Hilber über den verschollenen Umweltaktivisten Manser. Auf grosses Interesse dürften auch «Blackbird» mit Susan Sarandon und Kate Winslet stossen, «Gemini Man» mit Will Smith, «Judy» mit Renée Zellweger oder die Dramen «My Zoe» mit Julie Delpy und «Seberg» mit Kristen Stewart. Delpry und Stewart wie auch Roland Emmerich werden mit Golden Eyes ausgezeichnet. Zudem ist Emmerich wie Blanchett eine Retrospektive gewidmet.
Ausserdem sind auch Kinogrössen wie Donald Sutherland, Javier Bardem sowie Stammgast und Jurypräsident Oliver Stone präsent, die auch an den ZFF-Masters-Veranstaltungen teilnehmen. Abgerundet wird das 15. ZFF mit den Rubriken «Neue Welt Sicht», aktuell Kolumbien gewidmet, mit «Border Lines», Filmen, die sich mit Grenzsituationen auseinandersetzen, mit «Window to the World» und Filmen aus Hongkong oder San Sebastian, mit Serien und einem ZFF für Kinder (mit Wettbewerb). Bemerkenswert ist der nunmehr 8. Filmmusikwettbewerb unter dem Thema «Beyond the Matrix». 321 Komponistenaus 46 Ländern haben sich beteiligt und Vertonungen zum Kurzfilm «Danny and the Wild Bunch» eingesandt. Die fünf besten Stücke werden dann vom Tonhalle-Orchester am 28. September in der Tonhalle Maag aufgeführt.
Alles ist zum Zürcher Filmfest angerichtet. «Wir verstehen uns als Anwälte des Publikums und wollen elf Tage Lust aufs Kino entfachen», meint Organisator Karl Spoerri. Er sieht vor allem zwei Hauptthemen in diesem Jahr: «Der grüne Film, also Filme wie ‚Bruno Manser‘, die sich um die Umwelt kümmern, und Filme, die sich um Wahrheitssuche bemühen wie ‚The Laundromat‘, eine Satire mit Meryl Streep und Gary Oldman über die Panama Papers.» Die beiden Gründer haben ihr Kind, das ZFF, zum Laufen und Strahlen gebracht. Nadja Schildknecht war hoch erfreut anlässlich der Presseorientierung: «Unser Frauenanteil ist enorm gewachsen. 55 Regisseurinnen sind mit 55 Filmen präsent, das macht nahezu 40 Prozent des Gesamtangebots aus, dazu kommen zwei Golden Eyes an zwei Frauen, an Kristen Stewart (Golden Eye Award) und Cate Blanchett (Golden Icon Award).» Spezieller Gast wird der Formel1-Champion Lewis Hamilton sein –zur Schweizer Premiere des Rennfahrerdramas «Le Mans ’66» mit Matt Damon. Zu guter Letzt nutzt auch die Zürcher Filmstiftung die Gelegenheit, im Rahmen des ZFF den Zürcher Filmpreis 2019 zu vergeben – für den besten Kurzfilm, besten langen Dokumentarfilm und besten langen Spielfilm. Die Preise werden am 3. Oktober im Arena Cinema, Sihlcity verliehen. Der Publikumserfolg «Zwingli» ist nicht dabei, er wurde nicht nominiert. Da fragt man sich…
Programm Zurich Film Festival 26. September bis 6. Oktober 2019
https://zff.com/programm/1/
Tickets
zff.com, starticket.ch
ZFF-Verkaufsstellen, ab 16.9. Tickethäuschen Paradeplatz, Cinema Corso; ab 26.9. Festivalzentrum Sechseläutenplatz, Zürich
Kauf in den Kinos Corso Le Paris, Filmpodium, RiffRaff, Kosmos, Zürich
«17. Festival für Animationsfilme in Baden – Fantoche 2019»
Das 17. Treffen der Nationalen wie Internationalen Animationswelt geht in Baden an elf Locations über die Bühne bzw. Leinwände. Zum 17. Mal präsentiert Fantoche ausserordentliche Animationsfilme – vom 3. bis 8. September 2019. 20 Langfilme stechen hervor, dazu gibt es Wettbewerbe, animierte Dokfilme, Kinderfilme und die Sektion «Schuhe, Hemd und 100 Lire» zum Thema Migration.
rbr. Am Anfang steht die Hoffnung, die Heimat zu verlassen, aufzubrechen und ein neues Leben zu beginnen. Von Sehnsuchtsorten erzählen verschiedene Filme wie «Ah, America» (Ungarn 1984), «Chinti» (Rumänien 2012) oder «The Kiosk» (Schweiz 2013), vom Ankommen oder Heimat im Herzen. Schüler und Schülerinnen der Mittelschule setzen sich mit Migrationsgeschichten in selbst produzierten Animationsfilmen auseinander: «Spurensuche».
Fünf Animé-Abenteuer aus Japan sind zu sehen: «Ride Your Wave» (2019), eine Liebesgeschichte übers Surfen, «Penguin Highway» (2018), ein Abenteuerfilm um Pinguine, «Mirai» (2018), ein Film über Eifersucht zwischen Bruder und Schwester, «I Want to Eat Your Pancreas» (2018), ein Jugendrama, oder «Children oft he Sea» (2019), ein Film, in dem ein Mädchen Erfahrungen in einem Aquarium macht.
Andere Langfilme befassen sich Alpträumen und Gemälden («Ruben Brandt, Collector», Ungarn 2018), mit Leben in Kabul («Les Hirondelles de Kaboul», Frankreich 2019), mit dem Prozess gegen Nelson Mandela («The State Against Mandela and the Others», Frankreich 2018) oder mit Kriegsverbrechen und sexuelle Gewalt («Zero Impunity», Frankreich 2018). Der Film «Black is Beltza» (2018) aus Estland ist ein actionreicher Politthriller, führt vom Baskenland über Kuba bis nach Algerien. Spannend sind auch jeweils die Making-ofs mit Regisseur Milorad Krstić bei «Ruben Brandt, Collector» oder dem Schweizer Animator Simon Otoo beim Abenteuer «How to Train Your Dragon: The Hidden World» (USA 2019).
Schweizer Animationsarbeiten sind vor allem im nationalen Wettbewerb zu sehen, dazu kommt der internationale Wettbewerb in fünf Blöcken. Ergänzt wird die Competition mit dem Kinderfilm-Wettbewerb und rund zwei Dutzend Werken. Besonderes Augenmerk gilt in diesem Jahr dem Tessiner Schaffen. Unter dem Titel «La Svizzera Italiana Animata» werden diverse Arbeiten gezeigt – teilweise erstmals in der Deutschschweiz –, die im Auftrag des Tessiner Fernsehens (RSI) in den Siebziger- und Achtzigerjahre oder später von Tessiner Künstlern im Ausland entstanden sind. Workshops, die Retrospektive Joanna Priestly, Beiträge der Filmakademie Baden-Württemberg und andere Sonderaufführungen («Waltz With Bashir», 2008) runden das vielseitige Fantoche-Programm ab. Ausserdem präsentiert Lorenzo Matotti Bilder seines neusten Films «La fameuse invasion des ours en Sicile» in der Galerie DoK. Sein Werk ist auch in Baden zu sehen ist, ein Film um den Bärenkönig, sein Volk und Menschen.
mail@fantoche.ch
www.fantoche.ch
«Locarno Filmfestival 72 – Rückblick: Zweifelhafte Programmierung»
Filmfestival Locarno 2019: Ein neues Direktionskapitel wurde mit der Französin Lili Hinstin aufgeschlagen. Die einen winden ihr einen Lorbeerkranz, die anderen sehen ihre erste Programmierung eher skeptisch und kritisch. Gewinner waren einmal mehr die Filme und ihre Schöpfer: Der Portugiese Pedro Costa gewann mit dem Drama «Vitalina Varela» den Goldenen Leoparden, das Piazza-Publikum kürte «Camille» von Boris Lojkine mit dem Prix du Public.
rbr. Auch ohne Hellseher zu sein, war im Vorfeld schon klar, dass Quentin Tarantino mit seiner eigenwilligen Kinohommage «Once Upon a Time…in Hollywood» auf der Piazza Grande abräumen würde. Und so war es dann auch: Das Festival meldete 9000 Besucher, die dieser Western-und Hollywood-Huldigung samt Stargarnierung (Brad Pitt und Leonardo DiCaprio) auf den Leim gingen. Publikumsliebling (Prix du Public UBS 2019) wurde indes ein anderer: Boris Lojkine, Philosophiedozent und Doktor, der über Krise und Geschichte dissertierte, inszenierte «Camille». Sein Drama erzählt von der Fotojournalistin und Kriegsreporterin Camille, die sich 2013 voller Idealismus regelrecht in Zentralafrika in den Bürgerkrieg stürzte und ums Leben kam. Ein sicherer Kinowert (Trigon Film). Ansonsten erwies sich das Piazza-Programm, wie befürchtet, als spekulativ und nur punktuell attraktiv. Der Komödienabend (11. August) mit «Notre Dame» (wobei das eigentliche Drama bei der Präsentation kein Wort wert war) und «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» fiel halbwegs ins Wasser. Just 4600 Besucher wurden gemeldet. Von Tarantino abgesehen, registrierte man für die Piazza zweimal 6000 Zuschauer und zwar am 9. August beim Cockpit-Thriller «7500» und am 15. August natürlich beim durchaus kritischen «Diego Maradona»-Porträt.
Die Schweizer Komödie «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» von Natascha Beller hatte Wetterpech. Das hatte die Produktion, der Bern (BAK), Fernsehen und andere Institutionen jeden Support (Beitrag) verweigerten, nicht verdient. Die Krisen-Komödie um Frauen um und über 30 mit Kinderwunsch und Kinderproblemen kann nun seinen Unterhaltungswert in den Kinos beweisen.
Die Wettbewerbe gaben wie immer überwiegend unter Cineasten und Kulturjournalisten zu reden. Nur wenige werden es ins Kino schaffen. Gute Chancen hat der Gewinner «Vitalina Varela» (Goldener Leopard) des Portugiesen Pedro Costa. Er erzählt von einer Frau von den Kapverdischen Inseln, die ihren Mann, von ihm vor Jahrzehnten verlassen, nur noch tot auffindet. Die «hochartifizielle Inszenierung» wird Kunstfreunde anlocken. Die Protagonistin Vitalina Varela erhielt einen Leoparden als beste Schauspielerin. Ein Spezialpreis der Jury ging an «Pa-go» von Park Jung-bum aus Südkorea, dabei geht es um das Mädchen Yea-eun, eine Art Psychokrimi um Sehnsüchte, Begierden und Missbrauch». Einen Leoparden für die beste Regie heimste Damien Manivel für «Les enfants d’Isadora» ein, für einen Tanzfilm voll Anmut und Schönheit. Ein Fall für «Sternstunden»?
Nun, mit den Wettbewerben in Locarno – und nicht nur dort – ist es oft so, dass «Kunstwerken» eine Plattform geboten wird. Auch die neue künstlerische Leiterin Lili Hinstin setzt auf «Qualität» und nicht auf Nationalität. Das bekam der Schweizer Film deutlich zu spüren. Just einer schaffte es in den Wettbewerb: «O Film do Mundo» von Basil Da Cunha beschreibt Spiras Heimkehr von einer Erziehungsanstalt ins Elendsviertel von Lissabon. Chancenlos.
In der Sektion Concorso Cinesti del presente sah es nur wenig besser aus: Maya Kosa (Genf) und Sergio da Costa beschreiben in «»L’ile aux oiseaux» eine seelenvolle Begegnung in einer Vogelpflegestation; Klaudia Reynicke bemüht sich in «Love Me Tender» um eine Frau, die an Agoraphobie leidet, also Angst hat, ihre Wohnung zu verlassen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Gut gemeint, aber fürs Kino…?
Ausgezeichnet wurde übrigens «Baamum Nafi (Nafi’s Father)», eine Tragödie aus dem Senegal, in dem Mamadou Dia mehr als den Streit zweier Brüder schildert. Den Regiepreis bei den Cineasti del presente erhielt der Algerier Hassen Ferhani. In seinem Werk «143 rue de désert» liefert er ein geradezu stoisches «Kammerspiel»: Ein Kiosk in der Wüste an einer Fernstrasse, ein ältere Frau, die Tee, Gebäck und mehr anbietet, auf Passanten, Gäste, Einheimische wartet, die ihr die Welt in ihre Behausung/Cafe bringen. Sie erträgt den Alltag duldsam und optimistisch ergeben. Ein Film, jenseits von Mainstream, Action, Unterhaltung – bizarr, einmalig.
Präsident Marco Solari und Direktorin Lili Hinstin sind anscheinend höchst zufrieden mit dem Debüt 2019. Und doch ist es nie zu spät für Verbesserungen angesichts eines Festivals, so ein Einfall der «neuen Besen», es noch im Laufe des Anlasses wieder in Filmfestival umzubenennen.
Eine Bilanz
Der Publikumsandrang war mehr punktuell übergross, die Kinos zu klein. Ruth Schweikerts und Eric Bergkrauts Dokufiction «Wir Eltern» (Fuori concorso) beispielsweise wurde deswegen ein drittes Mal aufgeführt. Flexibel.
Die Schlangen bildeten sich vor den Kinoeingängen. Wer Glück hatte, konnte bei der Filmerübung «Under the God» (Part 1) vom PalaCinema Scala 2 ins 3 wechseln. Manchmal stand man auch vergebens an. An der Kommunikation darf gearbeitet werden.
Ein sicherer Wert ist alljährlich die «Semaine de la critique», die nunmehr ihr 30-Jahrjubiläum feiern konnte, die sich dem Dokumentarfilm widmet. Wieder waren Entdeckungen zu machen, zum Beispiel «Lovemobil» von Elke Lehrenkraus, Deutschland, und ihre Annäherung an Liebestrailer und deren Liebesdienerinnen; oder «Shalom & Allah» von David Vogel, Schweiz, und seine Annäherung an Schweizer, die zum Islam konvertierten.
Ehrungen in Ehren, aber die Leoparden-Awards mehren sich zusehends. Aber bitte, wenn schon, denn schon. Fredi M. Murer wurde der Leopard fürs Lebenswerk verliehen. Warum aber sein preisgekröntes Werk «Höhenfeuer», 1985 mit einem Golden Leoparden ausgezeichnet, nicht auf der Piazza Grande gezeigt wurde, bleibt ein Geheimnis der Direktorin, die im Übrigen als Moderatorin auf der grossen Piazza-Bühne recht unbeholfen und linkisch wirkte. Zwölf Zeichnungen von Fredi M. Murer sollten in Locarno ausgestellt werden. Nur musste man sie im PalaCinema suchen. Sie lagen lieblos arrangiert auf einer Treppenbrüstung. Ausstellungskultur
Apropos Piazza Grande: Warum es Samir packendes Exilantendrama «Baghdad in My Shadow«» nicht auf die Piazza schaffte, lag wohl an der etwas eigensinnigen Maxime Lili Hinstins, keine Nationen zu bevorzugen. Dabei waren auffallend viele französische Filme in Locarno zu besichtigen. Überhaupt hatte man das Gefühl, dass die Direktorin noch zu wenig Feeling für das Piazza-Programm entwickelt hat. Aber das kann ja noch werden.
Der zweisprachige Festivalkatalog ist zwar über 360 Seiten stark, sein Informationsgehalt aber dürftig. Spartanischen Inhaltshinweisen folgt ein «artifizieller» Sermon, der sich meistens als Schwafelei und abgehobenes Geschwätz erweist. In diesem Fall: Weniger Autoren, aber mehr Information bitte!
Man wird sehen bei der 73. Ausgabe vom 5. bis 15. August 2020.
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Preise Locarno Filmfestival 2019
Goldener Leopard (Internationaler Wettbewerb)
«Vitalina Varela» von Pedro Costa, Portugal
Spezialpreis der Jury
«Pa-go» von Park Jung-bum, Südkorea
Beste Regie
Damien Manivel, Frankreich, für «Les enfants d’Isadora»
Beste Darstellerin
Vitalina Varela, Portugal, für «Vitalina Varela»
Bester Darsteller
Regis Myrupu, Brasilien, für «A febre»
Besondere Erwähnung
«Hiruk-pikuk sials-kisah» von Yosep Anggi Noen, Indonesien
«Maternal» von Maura Delpero, Italien, Argentinien
Goldener Leopard Cineasti del presente
«Baamum nafi» von Mamadou Dia, Senegal
Preis für die beste Nachwuchsregie
«143 rue du désert» von Hassen Ferhani, Algerien
Spezialpreis der Jury
«Ivana cea Croaznica» von Ivana Mladenović, Rumänien
Prix du Public
«Camille» von Boris Lojkine, Frankreich
Preis der Ökumenischen Jury
«Maternal» von Maura Delpero
Semaine de la Critique
«The Euphoria of Being» von Réka Szabó, Ungarn
«Adolescentes» von Sébastien Lifshitz, Frankreich
Filmtipps
So Long, My Son
rbr. Chinesischer Mikrokosmos. Hinter dem Titel «So Long, My Son» verbirgt sich eine Tragödie auf verschiedenen Ebenen. Die Handlungsstränge verknäulen und entwirren sich, die Zeiten wechseln wie die Verhältnisse in China. Regisseur Xiaoshuai Wang spannte einen grossen Bogen über mehr als 30 Jahre Sozial- und Kulturgeschichte, von den Achtzigerjahren bis heute. Das braucht Zeit (drei Kinostunden), Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dafür wird man mit einem epischen Fresko belohnt, das vor politischem Hintergrund seine Menschen nie aus den Augen verliert. Ein kolossales und doch sehr intimes Kinowerk. «Helden» sind ein Ehepaar, das früh den Sohn verliert und das zweite Kind, das Liyun erwartet, abtreiben muss – aufgrund des chinesischen Ein-Kind-Diktats. Am Tod des Sohnes – er ertrinkt im Stausee -ist sein bester Freund Haohao nicht unschuldig. Die beiden Familien sind befreundet, und doch zwingt Haohoas Mutter Haiyan, verantwortlich für die Geburtenkontrolle, Liyun zur Abtreibung.
Wang Liyun und Liu Yaojun (Yong Mei und Wang Jingchun – beide Darsteller wurden in Berlin mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet) verlassen ihre Heimatstadt in Nordchina und siedeln sich in einem Küstendorf im Süden an. Liu Yaojun betreibt eine kleine Reparaturwerkstätte. Ihren Kummer kann auch der Adoptivsohn Xingxing (Wang Yuan) nicht lindern. Im Gegenteil, er ist rebellisch und haut eines Tages ab. Nach vielen Jahren gibt es ein Wiedersehen, als Haiyan tödlich erkrankt und stirbt. Sie fühlte sich ein Leben lang schuldig, die Vorschriften sprich Abtreibung erfüllt zu haben.
Es sind diese unglücklichen Episoden, die das Leben der Menschen prägen. Die Schuld bleibt ungesühnt. Die Umwälzungen von der Kulturrevolution bis zum Aufbruch in den Kapitalismus werden an kleinen Vorfällen spürbar. Etwa als ein Freund der Familie eine private Party und Musik von Boney M. spielt: Der Song «Rivers of Babylon» (Westmusik!) bringt ihn ins Gefängnis. Die Menschen werden zum Spielball der moderne Geschichte Chinas. Regisseur Xiaoshuai Wang schildert kleine oder eben grosse Tragödien, Veränderungen, Verlusten und Verletzungen. In seinem familiären Mikrokosmos spiegeln sich chinesische Entwicklungen, gesellschaftliche, soziale und politische wieder. Ein grandioses Werk mit langen Einstellungen und intimen Einblicken, von humanistischer Einstellung geprägt.
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Ich war noch niemals in New York
rbr. Abgesang. Es sollte wohl eine Hommage an das musikalische Werk Udo Jürgens werden. Herausgekommen ist eine Musikklamotte auf «Traumschiff»-Niveau – mit vielen bekannten Namen, Nummern und Nettigkeiten. Die Kino-Adaption des Musicals «Ich war noch niemals in New York» erinnert an musikalische Komödien aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Natürlich modern aufgepeppt und nach TV-Glamour-Machart serviert. Eben wie das Musicalleben so spielt: Eine Mamutschka (übertrieben aufgedrosselt Katharina Thalbach) verliert ihr Gedächtnis, landet «dummerweise» auf einem Kreuzschiff mit Kurs New York. Ihre Tochter, eine nervige TV-Schickse (Heike Makatsch), folgt ihr notgedrungen mit einem schwulen Maskenbildner (Michael Ostrowski) im Schlepptau. Der verknallt sich prompt in einen «zauberhaften »griechischen Adonis (der Schweizer Pasquale Aleardi), der aussieht, als käme er aus einem Kostümverleih und hätte sich in der Perücke vergriffen. Dann gibt’s da noch einen trauernden Witwer (Moritz Bleibtreu) mit Sohn (Marlon Schramm), der natürlich nicht allein bleibt, einen Kapitän (Stefan Kurt) der kurz mal auftaucht, und den Ein-Tänzer Otto (Uwe Ochsenknecht). Das ergibt ein paar hübsche Crashes, Herz-Schmerz-Begebenheiten, viel Schmalz und Schabernack. Einige der bekanntesten Udo-Lieder wie der Titelsong, wie «Griechischer Wein», «17 Jahr, blondes Haar» oder «Mit 66 Jahren» werden mehr oder wenige geschickt in die Handlung eingebaut, oder anders gesagt: der Handlung angepasst. Der «grösste» Clou ist die Szene, als Witwer die Asche seiner Frau vor New Yorks Skyline verstreut und dazu das Lied «Merci Chérie» ertönt. Spass muss sein.
Regisseur Philipp Stölzl hat mit der grosse Kelle angerichtet. Die Prominenz und manche Film-Laudatoren danken ihm. Bei dieser musikalischen Kreuzfahrt weiss man nicht so recht: Ist dies nun ein ironischer Ausflug mit Hollywood-Touch oder schlicht eine deutsche Dampfertour mit Udos musikalischer Begleitung? Oder doch nur eine Schmalzstulle mit Sahne, bei die Akteure selber ihre Stimme einbringen.
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Official Secrets
I.I. Der Polit-Thriller von Regisseur Gavin Hood feierte im Januar 2019 im Rahmen des Sundance Film Festivals Premiere und wurde auch am ZFF gezeigt. Es ist sechzehn Jahre her, seit Katherine Gun (Keira Knightley), Mitarbeitende des britischen Geheimdienstes GCHQ (Government Communication Headquarters) ein Memo eines ranghohen amerikanischen Geheimdienstmitarbeiters der National Security Agency (NSA) an die Presse weiterleitete. Die britischen Geheimdienstkollegen wurden darin aufgefordert, eine illegale Spionageoperation gegen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu unterstützen, die sich nicht für eine Invasion in den Irak ausgesprochen hatten. Wenige Wochen vor der Invasion veröffentlichte die englische Sonntagszeitung «The Observer» eine Titelstory des Inland-Politik-Redaktors Martin Bright (Matt Smith) mit der Schlagzeile «Enthüllt: Dreckige Tricks der USA, um Stimmen für den Irak-Krieg zu gewinnen».
Die damals 28-jährige Geheimdienstlerin versuchte 2003 auf eigene Faust, den Irak-Krieg zu verhindern, ein gefährliches, wagemutiges Unterfangen, das sie in erhebliche Schwierigkeiten brachte und mit einer Spionage-Anklage «Official Secrets Act» vor Gericht konfrontierte.
Vor kurzem wurde die wahre Whistleblowerin, Katherine Gun, von einem BBC-Moderatoren befragt, wie sie ihre Rolle heute sehe, ob sie eine Schuld eingestehe und ob sie es nochmals machen würde. Nein, gab sie zurück sie hätte keine Minute an ihrer Entscheidung gezweifelt, sie befand den bevorstehenden Krieg gegen Saddam Hussein wegen vermuteter Chemiewaffen als illegal. George Bush und Tony Blair zettelten einen Krieg unter falschen Voraussetzungen an. Dass der Krieg legal war, ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats, konnte das Gericht ihr nicht nachweisen und liess deshalb nach einem nervenaufreibenden Jahr die Anklage fallen, da Guns Strafverteidiger Ben Emmerson (Ralph Fiennes) von der Staatsanwaltschaft Dokumente verlangten, die die britische Regierung belastet hätten. Eine Sensation! Katherine Gun wollte sich nicht beugen und dem Anraten ihrer Anwälte folgen, sich schuldig zu bekennen, um eine jahrelange Haftstrafe zu vermeiden. Der spannende Film zeichnet die Geschichte der Geheimdienste in der Art eines Polit-Thrillers nach, der Thrill besteht vor allem darin, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, die zwar nicht abgewendet wurde, aber doch Recht behalten hatte. Nach dem Einmarsch der amerikanischen und britischen Truppen in den Irak wurde das Land völlig destabilisiert, der IS kam auf und die Bevölkerung leidet bis heute unter den chaotischen Zuständen. Mehr als 160.000 Soldaten und Zivilisten wurden getötet.
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Portrait de la jeune fille au feu
I.I. Ein Kleinod von Film. Wie ein Äquivalent der Malerei, mit langen Landschaftseinstellungen der bretonischen Steilküste, dem tosenden Meer, den schreienden Möwen, schwermütigen Menschen, die nicht viel reden. Zwei Stunden lang steht eine Frau im 18. Jahrhundert im Mittelpunkt, eine Malerin, Marianne (Noèmie Merlant), die das Geschäft ihres Vaters übernommen hat. Man sieht ihr zu, wie sie für ihre Schülerinnen posiert, und wie sie souverän Auskünfte erteilt, wie Selbständigkeit für sie eine Normalität darstellt, die es zu ihrer Zeit keinesfalls ist. Und wie sie Aufträgen nachreist, Menschen zu porträtieren, wie die junge Héloise (Adèle Haenel), die sich weigert, Modell zu stehen für ihr Hochzeitsporträt. Sie soll mit einem Unbekannten in Milano verheiratet werden. Ihre Schwester hätte statt ihrer mit ihm getraut werden sollen, sie hatte sich von den Steilküsten in den Tod gestürzt. Marinne soll Héloise heimlich malen, so ihre Mutter (Valeria Golino). Doch Marianne gesteht Héloise den Schwindel und zerstört ihr Bild. Daraufhin beschliesst Héloise, nun doch für sie zu posieren. Eine Intimität entsteht zwischen den beiden, die eine unmögliche Liebesgeschichte eingehen. Die Regisseurin Céline Sciamma inszeniert den wunderbaren Film als Kunstwerk, der in Cannes für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde.
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Maleficent 2: Mächte der Finsternis
I.I. Disney-Film mit gesellschaftskritischem Ansatz. Die Fee Maleficent (Angelina Jolie) ist ungehalten: ihre Adoptivtochter Aurora (Elle Fanning) ist erwachsen geworden und hat beschlossen, den Prinzen Phillip (Harris Dickinson) zu heiraten und die Moore, in denen sie aufgewachsen ist, verlassen und ins Menschen-Königreich Ulstead ziehen. Keine Begeisterung für die bevorstehende Hochzeit scheint auch Königin Ingrith (Michelle Pfeiffer) aufzubringen. Phillips Mutter macht aus ihrer Verachtung gegenüber Feen keinen Hehl. Während eines Dinners im Schloss des Königspaars geraten die Parteien aneinander. Phillips Vater, König John (Robert Lindsay), der die Heirat befürwortet. bricht plötzlich zusammen und die Königin beschuldigt Maleficent, ihn verflucht zu haben. Die Fee sieht sich gezwungen, zu fliehen. Maleficent wird von ihr mit lakonisch-subversivem Charme dargestellt, die ihre Dominanz eindrücklich unter Beweis stellt. Während Aurora in Ulstead Mühe bekundet, sich an die neuen Lebensumstände zu gewöhnen, schmiedet Königin Ingrith einen hinterlistigen Plan:«Lock her up!» fordert sie, als Aurora sich ihrem Willen widersetzt. Das erinnert ein wenig an Trumps Fight gegen Hillary Clinton. Der erste Teil der Maleficent-Saga war eine Adaption der Dornröschen-Geschichte, die Fortsetzung weicht deutlich davon ab. Maleficent begreift sich als Fee, die von den Menschen immer gefürchtet sein will und wird. Aurora als junge Frau, die ihre Heimat verlassen muss, wenn sie mit ihresgleichen leben will. Dass Feen und Menschen nicht in Frieden koexistieren können und die Unterschiede zu gross seien, erklären ihr die Multi-Kulti-Skeptiker. Ganz wie im richtigen Leben bleibt Identitätspolitik umstritten. Die gesellschaftskritischen Töne verleihen dem Film einen zeitgemässeren Anstrich. Und zum Schluss gibt’s doch noch ein Happy End. Der Film unter der Regie von Joachim Rønning wurde von Angelina Jolie mitproduziert. Jolie, 44, hat sich inzwischen auch als Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin etabliert.
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Pavarotti
I.I. Die Oper war sein Leben. Oscar-Gewinner Ron Howard (Apollo 13, Illuminati) widmet sein Musik-Doku dem weltberühmten, umschwärmten Opernsänger Luciano Pavarotti, mit bis heute unveröffentlichten Fotos und privaten Film-Aufnahmen. Pavarotti verkaufte 26 Millionen Tonträger, mit seinen Konzerten und einem Mix von Opern- mit Popmusik erreichte er Millionen. 2007 starb Pavarotti im Alter von 71 Jahren. Hollywood-Regisseur Howard setzt dem begnadeten Künstler mit seiner Biopic ein filmisches Denkmal, um dem ereignisreichen Leben des grossen Sängers nachzuspüren, wobei der Schwerpunkt auf dem künstlerischen Aspekt liegt. Der Film besteht aus einer Fülle an Konzert-Ausschnitten und Arien, von mehr oder minder guter Qualität, ergänzt durch Interviews mit Managern, Journalisten und Musikerkollegen wie Bono von U2. Es sind vor allem die begeisternden Aufnahmen der «drei Tenöre» Luciano Pavarotti, Placido Domingo, José Carreras und die emotionalen Konzertszenen mit Künstlern der Popmusik, die zeigen, dass Pavarotti die Grenzen klassischer Musik und Gesangskunst sprengte. Wer Pavarotti liebt, wird diese Doku als Erinnerung schätzen.
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Joker
rbr. Närrischer Wahnsinn. Vergessen Sie die diabolische Fratze von Jack Nicholson, der vor 30 Jahren als irrer Gegenspieler von Batman auftrat. Dazumal hatte ihn Tim Burton in Szene gesetzt und ihn –neben der DC-Comicserie – unsterblich gemacht. Nun ist er zurück – und wie! Todd Philips erzählt in seinem Horrordrama «Joker» quasi die Vorgeschichte: Wie wurde der Allerweltsclown zum mordenden Irren? Um es vorwegzunehmen: Der Trip in die Joker-Vergangenheit ist Kino pur – packend, unterhaltsam, furchteinflössend, phänomenal – mit Joaquin Phoenix in der Titelrolle. Nie war der Hollywoodstar so teuflisch gut. In Venedig wurde die Neuinterpretation mit dem Goldenen Löwen belohnt. Wir machen Bekanntschaft mit dem Verlegenheitsclown Arthur Fleck (Phoenix), der sich als Spassvogel 1981 auf den Strassen Gothams abmüht, verhöhnt, verfolgt, verprügelt wird. Er kümmert sich rührend um seine alternde nervige Mutter in einer schäbigen Wohnung, träumt von einer Comedian-Karriere und einem Auftritt in der Late-Night-Show von Murray Franklin (Robert De Niro). Das schafft er auch, aber bis es dazu kommt, geschieht viel. Unter anderem wird der Narr mit den irren Lachanfällen zum Killer und zur Kultfigur. Das Opfer mutiert zum Täter, der Wahnsinnige konfrontiert die Öffentlichkeit mit der schäbigen Wirklichkeit. Der Mensch, anfänglich als Lachnummer wahrgenommen, verwandelt sich zum Monster im Narrenkostüm und wird zum Helden. Kleine Nebengeschichte: Arthur suchte Halt bei einer Psychotherapeutin, der werden jedoch öffentliche Mittel gestrichen, und Arthur bekommt keine Medikamente mehr. Er driftet in den Wahnsinn ab… Das stimmt nachdenklich und hat viel mit unserer Zeit zu tun, wo es von Clowns in der Politik und anderswo nur so wimmelt, die auch keinen Spass machen. Man kann fast sicher sein, dass der «Joker» bald wieder die Strassen unsicher macht…
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Grâce à Dieu
rbr. Unter dem Deckmantel der Kirche. Ein bekanntes Verhalten: Die Katholische Kirche mauert, wenn es um Verfehlungen geht, hüllt möglichst einen Schutzmantel um die Sünder im Priesterrock, die ihre Macht an Kindern ausgeübt und sie missbraucht haben. Der französische Regisseur François Ozon hat Verfehlungen um den Priester Bernard Preynat in Lyon aufgriffen. Dreissig Jahre sind vergangen, seit Alexandre Guérin (Melvil Poupaud) in einem Pfadilager Opfer der sexuellen Übergriffe jenes Priesters Preynat wurde, der tatsächlich bis 1993 Übergriffe beging. Jetzt erfährt der Familienvater und gläubige Katholik Guérin im Film, dass jener «Gottesmann» noch immer im Amt ist. Erinnerungen kommen wieder hoch. Guérin sucht Kontakt mit der Kirche, wird an die Psychologin Régine Maire (Martine Erhel) verwiesen und erhält endlich Audienz beim zuständigen Erzbischof Barbarin (François Marthouret) in Lyon. Er will den Geistlichen, von dem er 1986 missbraucht wurde, zur Rechenschaft ziehen. Der Priester gibt seine Verfehlungen zu. Aber sind seine Taten nicht verjährt? Findet Guérin andere Opfer, die ihr Schweigen brechen? Wird die Kirche sich bekennen?
Ein langwieriger und dorniger Prozess, den François Ozon in seinem Drama «Grâce à Dieu – Gelobt sei Gott» aufrollt. Guérin findet Opfer, die sich öffnen, Mitstreiter und Gehör in den Medien. Betroffene und Angehörige schliessen sich zur Gruppe «La parole libérée» zusammen, setzen die Kirche unter Druck, streben einen Prozess an. Tatsächlich wurde der Priester seines Amts enthoben – sehr spät und nach der Fertigstellung des Films. Kardinal Barbarin wurde im März 2019 zu einer Strafe mit Bewährung verurteilt.
Das Engagement des Spielfilms nah an der Wirklichkeit ist zweifellos wichtig und richtig, wobei Ozon keineswegs die Kirche pauschal verdammt. Ihm geht es um die Opfer, die sehr unterschiedlich mit den Traumata aus der Jugend umgehen, verarbeiten, verdrängen oder gar nie überwunden haben. Das Drama zieht sich in die Länge (137 Minuten), ist mit unzähligen Zitaten aus Briefen, Mails und anderen Dokumenten sowie Kommentaren gespickt. Die breiten Textpassagen aus dem Off ermüden auf Dauer. Auch hätte Ozon uns gewisse Rückblenden auf die Jugendzeit der Betroffenen ersparen können. Am Ende gibt es keine Genugtuung, keine Wiedergutmachung, nur Verletzungen und Zweifel. Als der Sohn seinen Vater Alexandre am Ende fragt, ob er noch an Gott glaube, weiss der keine Antwort. «Gelobt sei Gott» – das ist kein Hohelied auf die Kirche und ihre Vertreter, aber ein Kinostück mit dokumentarischem Charakter. Es wurde in Berlin 2019 mit einem Silbernen Bären (Grosser Preis der Jury) ausgezeichnet.
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For Sama
rbr. Leben und Tod in Aleppo. Es ist noch nicht lange her und bei vielen vielleicht schon vergessen? Die Bevölkerung Aleppos protestiert 2012 gegen das tyrannische Assad-Regime und das reagierte mit Staatsgewalt, heisst Militär. Die Stadt wurde belagert, zerbombt, zum Exodus gezwungen. Aleppo war einst die zweitgrösste Stadt Syriens und zählte 2010 rund 2,5 Millionen Einwohner. Abertausende begehrten 2011 gegen das Regime des Bashar El-Assad auf und forderten Freiheit. Der Diktator antwortete brutal-militärisch, liess die Stadt beschiessen, mit Hilfe russischer Verbündeter bombardieren.
Die junge Frau Waad al-Kateab studierte in Aleppo, lernte den Arzt Hamza kennen und heiratete ihn. Sie bekamen die Tochter Sama. Bei den ersten Protesten 2011 in Aleppo war sie hautnah dabei, wurde zur Bürgerjournalistin und Aktivistin, hielt Demos und nachfolgenden Geschehnisse mit dem Handy fest. Der Widerstand gegen das tyrannische Assad-Regime manifestierte sich. Das Militär rückte vor, die Stadt wurde eingekesselt, Widerstandskämpfer hielten stand. Die Syrerin Waad und ihr Mann, einer von 32 Ärzten in Aleppo, harrten aus. Ein Spital wurde eingerichtet, bombardiert, man behalf sich, so gut es ging. Zivilisten starben zuhauf. Die Nöte, die Ängste, das Zusammenstehen, Helfen und Hoffen hielt Waad al-Kateab filmisch fest. Ab Januar 2016 übermittelte sie ihre Aufnahmen an den britischen Fernsehkanal Channel 4 News. Die Bilder und Berichte unter dem Titel «Inside Aleppo» rüttelten auf, wurden viel beachtet. Im Dezember 2016 – Töchterchen Sama war just ein Jahr alt – mussten die Rebellen kapitulieren. Die überlebenden Zivilisten wurden evakuiert, so auch Waad und ihre Familie. Sie verliessen die Ruinenstadt Aleppo – mitsamt dem Filmmaterial im Gepäck und leben seither in London.
Aleppo und die Ereignisse seien nicht nur Geschichte, sondern Teil ihres Lebens geworden, meint Waad al-Kateab. Sie machte ihre filmischen Briefen zum Vermächtnis ihrer Tochter und mahnte gleichzeitig auch die Kriegsgräuel der Staatsmacht an. Der britische Co-Regisseur Edwards Watts half mit, die Wahrheit über Aleppo und die syrischen Gewaltaktionen im Dokumentarreport «For Sama» festzuhalten. Er schildert so nicht nur beeindruckend das Leiden der Bevölkerung in Aleppo, sondern ist zugleich Mahnung und Appell gegen Willkür und Staatsgewalt gegen Zivilisten. Ein nachdrückliches erschütterndes Dokument, es rüttelt auf, wird aber keine neuen unmenschlichen kriegerischen Machtaktionen verhindern.
The Goldfinch – Der Distelfink
rbr. Ein Bestseller wird bebildert. Einmal mehr griff Hollywood auf einen Bestseller zurück, um ein breites Publikum anzulocken. Donna Tartts üppiger Roman «The Goldfinch» von 2013 (auf Deutsch: «Der Distelfink» und über 1000 Seiten stark) wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. John Crowley hat ihn nun fürs Kino in 150 Minuten umgesetzt. Buch wie Film erfordern eine gewisse Beharrlichkeit und Geduld. Als roter Faden (beziehungsweise Ausgangs- und Endpunkt) dient ein Gemälde des holländischen Altmeisters Carel Fabritius aus dem Jahr 1654: «Der Distelfink». Das Werk hängt heute in Den Haag (Mauritshuis). Der «Distelfink» wird zum Zeugnis, Erbe und Antrieb des Roman-und Filmhelden Theodor Decker, dem es bei einem Attentat im Metropolitan Museum of Art in New York vom sterbenden Welton Blackwell «vermacht» wird.
Der 13jährige Theo Decker (Oakes Fegley) fühlt sich mitschuldig am Tod seiner Mutter, die bei diesem Terroranschlag ums Leben kommt. Halbwaise Theo wird von einer wohlhabenden Familie aufgenommen und von Mrs. Barbour (Nicole Kidman) liebevoll mütterlich grossgezogen, bis sich Theos Vater (Luke Wilson), ein heruntergekommener Glücksspieler, aus Las Vegas meldet und zu sich holt. Neben dem Gemälde, das im Verborgenen schlummert, bilden Antiquar Hobie (Jeffrey Wright) und sein Laden in Greenwich Village eine Konstante im Leben des Theodore Decker (Ansel Elgort), der seinen Vater hinter sich lassen konnte und zum Antiquitätenexperten aufgestiegen ist. Wichtige Rollen in Theos Leben spielen neben der Pflegemutter (Kidman – distinguiert zurückhaltend präsent) die Jugendliebe Pippa (Aimee Laurence als junges Mädchen, dann Asleigh Cummings), Tochter besagten Bildbesitzers Blackwell, und Gefährte Boris (Finn Wolfhard), der beim Finale die Drähte zieht.
Der Film – zwischen Familien-und Erziehungsdrama, Coming-of-Age-Spielfilm und Thriller – mäandert quasi auf den Spuren des Bestseller-Wälzers. Das ist einerseits grosses Kino, andererseits aber auch eine Probe aufs Exempel. Es gibt Sprünge, Unabwägbarkeiten und Detailliebe, brüchige und romantische Beziehungen und vor allem ein «Distelfink», der gezielt als Deus ex machina eingesetzt wird. Jenes holländische Stillleben zeigt eben einen Vogel, der gebunden ist – so wie der Film, der ans Buch gebunden scheint und illustriert statt ein eigenes Bildwerk zu kreieren.
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Shaun, das Schaf 2: UFO-Alarm
rbr. Zum Kneten gern. Das knubbelige Schaf aus den Aardman-Studios hat zwar über zwei Jahrzehnte auf dem pelzigen Buckel, ist aber putzmunter wie eh und je. Der wollige Shaun und Konsorten langweilen sich in Mossingham auf dem Bauernhof des knorrigen Farmers und stellen allerlei Unfug an, so dass der Hofhund Bitzer kaum mit Verbotsschildern nachkommt. Da ist es den munteren Vierbeinern gerade recht, dass sie Besuch bekommen – aus dem All. Das blau-pinkige Alien heisst Lu-La, ist ängstlich wie die Erdviecher und liebt Pizza. Das ausserirdische Wesen kann Geräusche nachahmen, Gedanken gezielt einsetzen und manches bewegen. Langer Rede kurzer Sinn: Das Knubbel-Schaf Shaun und Lu-La freunden sich an und daran arbeiten, dass der gestrandete Fremdling wieder heimkommt: «Home!» Das ist nicht die einzige Szene, in denen spitzbübisch SF-Filme wie «E.T», «Star Trek» oder «Odyssee 2001» zitiert werden. Der zweite «Shaun»-Kinofilm, von Will Becher und Richard Phelan im bewährtem Stop-Motion-Verfahren in Szene gesetzt, kommt gewohnt ohne üblichen Dialoge aus, ist liebenswert, kauzig, knurrlig und britisch witzig. Dass der Besuch des UFO-Ausreissers dem maroden Vergnügungspark «Farmageddon» des Farmers dient, ist nur eine erquickende Nebenerscheinung. Spass macht die Begegnung der irdisch-ausserirdischen Art mit den Knetfiguren allemal – für Gross und Klein.
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Systemsprenger
rbr. Allein gegen alle. Sie ist eine tickenden Bombe, die neunjährige Bernadette, genannt Benni. Die unberechenbare Göre ist einfach nicht zu bändigen, kann von Null auf Hundert explodieren, ausrasten, auch gewalttätig werden. Weder Pflegefamilie noch Lehrer oder Erzieher, von der total überforderten Mutter ganz zu schweigen, können dem Randalekind, im Fachjargon «Systemsprenger» geheissen, beikommen und die eruptiven Gewaltausbrüche stoppen. Benni mit Medikamenten stillstellen, kann keine Lösung sein. Ihre Mutter Bianca (Lisa Hagmeister) verzweifelt schier, aber auch die warmherzige Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide) sieht bald keinen Ausweg mehr. Ein letzter Versuch: Spezialist Michael «Micha» Heller (Albrecht Schuch), ein Anti-Gewalt-Trainer, lässt sich auf Benni ein, verbringt mit dem zügellosen Mädchen drei Wochen im Wald. Eine Partnerschaft, die ihr guttut. Das hat eine gefährlich Seite: Benni sieht in Micha einen Vaterersatz und versucht, Teil der Familie des Erziehers zu werden. Die Regisseurin aus Braunschweig, Nora Fingscheidt (36), packte mit ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm ein heikles Thema an: Kinder, Familie und Erziehung.
Kinder können alles sein – von angepasst bis rebellisch, von verständig bis unbändig, von herzig bis brutal. Manche entwickeln sich als Sonnenschein, andere als Nervensäge. Benni ist ein Extremfall, sie sprengt Regeln und Rahmen, wütend, masslos, verletzlich. Helena Zengel spielt diesen Systemsprenger (eigentlich Systemsprengerin), als wär’s ihr eingeimpft. Filmautorin Nora Fingscheidt hat lange recherchiert, entschied sich für ein Mädchen, obwohl die meisten Systemsprenger Jungs sind. «Ich wollte ein wildes energiegeladenes audiovisuelles Kinoerlebnis erschaffen», unterstreicht die Filmerin, «das keinen Anspruch auf Realitätswiedergabe erhebt. Denn die Realität ist viel schlimmer.» Ein rohes, schier hemmungsloses Sozial- und Familiendrama, unbändig, ungeschliffen und ein wenig beängstigend. «Systemsprenger» wurde von Deutschland für die Oscar-Nominationen nominiert und hat bisher schon 22 Filmpreise sowie den Publikumspreis am Zurich Film Festival (ZFF) eingeheimst.
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Rambo: Last Blood
rbr. Ruheloser Rancher Rambo. Ein Mann, ein Name, eine Berufung: John Rambo, der Krieger im Grossvateralter, zieht wieder in den Krieg – diesmal gegen eine mexikanische Mafia-Armada. Er kann’s nicht lassen. Ob er tatsächlich sein letztes Blut opfert, ist freilich fraglich, denn solange es Ur-Rambo Sylvester Stallone in den Muskeln juckt, sorgt er für reinen Tisch, sprich Leichenberge.…Der alte Mann am Amboss auf einer vergessenen Farm in Arizona: Hat Rambo seine Ruhe, seinen Alterssitz gefunden? Da er schon keine eigene Familie hat, versucht er die bildhübsche Gabrielle (Yvette Monreal), die Enkelin seiner Haushälterin Maria (Adriana Barraza), zu protegieren. Er liebt sie wie seine eigene Tochter. Als sie jedoch auf der Suche nach ihrem Vater in Mexiko verschwindet, wird der alte Rancher hellhörig und bricht auf. Er ist nicht zimperlich und kriegt heraus, dass die Brüder Victor und Hugo Martinez einen Mädchenring betreiben. Retter Rambo gerät unter die Räder, heisst: wird Beute der Martinez-Schlägertrupps. Die Journalistin Carmen (Paz Vega) päppelt den ramponierten Rambo auf, der dann doch noch die unter Drogen gesetzte Gabrielle findet. Das kann die mexikanische Mafia nicht auf sich sitzen lassen. Man zieht ins Feld gegen Rambo auf seiner Farm in Arizona. Der Rest ist Krieg – fast wie in vietnamesischen Tunnels nur ohne Dschungel. Was wie ein Psychothriller beginnt (Regie: Adrian Grunberg, Drehbuchmitarbeit: Stallone) mündet in einem bombastischen Gemetzel. Auch wenn jetzt von «Last Blood» die Rede ist, scheint nicht sicher, dass der fünfte Rambo (seit 1982) wirklich der letzte ist. Das weiss nur Rambo.
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Ad adstra
rbr. Odyssee zum Neptun. Wie heisst es doch so schön…«In den unendlichen Weiten des Weltalls». Und genau in diesen Weiten verlieren sich Vater und Sohn. «Zu den Sternen» – so der deutsche Verleihtitel – wollte Clifford McBride (Tommy Lee Jones), um ausserirdisches Leben zu finden – vor 20 Jahren. Aktuell, ein verheerender Energiesturm gefährdet die Erde. Die Weltraumbehörde NASA vermutet den verschollenen McBride dahinter und beauftragt dessen Sohn Roy (Brad Pitt), seinen Vater fern im All ausfindig zu machen und gegebenenfalls aus dem Weltraum-Verkehr zu ziehen. Roy ist ein eiskalter, heisst gefühlskalter und besessener NASA-Ingenieur und Spaceabenteurer. Seine Odyssee über den Mond und Saturn zum Planeten Neptun ist mit Opfern und einer Begegnung mit Alien-Biestern gepflastert. Was der inzwischen legendäre Space-Held Clifford wirklich retten wollte und im Sinn hatte, erfährt der Sohn Roy von Angesicht zu Angesicht. Er gewinnt und verliert…
James Gray inszenierte dieses Space-Psychodrama (Kosten: 87 Millionen Dollar) opulent, wobei man sich fragt, warum es so viel Technoaufwand braucht, um eine simple Geschichte zu erzählen. Ein Besessener, natürlich ein Mann, ordnet einem Ziel alles unter (die Suche ist der Weg), nimmt auch die totale Einsamkeit in Kauf, und sein Sohn macht es ihm nach. Angesichts eines persönlichen Untergangs wird der Sohn geläutert, bricht aus der eigenen Gefühlsisolation aus, wird – überspitzt gesagt – wieder Mensch.
Das Mimenspiel (oft hinter Raumfahrthelmen) der «Helden» Brad Pitt und Tommy Lee Jones hat Klasse, doch das Space-Spektakel über 123 Minuten wirkt auf Dauer ermüdend. Ein Kammerspiel zwischen den Sternen– visuell faszinierend. Doch weniger Sternen-Aufwand wäre mehr gewesen!
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Downton Abbey
rbr. Grosses Royales Theater. Man wundert sich, staunt und amüsiert sich auch als unbefangener Kinofan, der die TV-Serie «Downton» nicht kennt – vor allem angesichts des aktuell lächerlich wie traurigen Brexit-Theaters mit Politclowns Boris & Co. Wie war’s doch in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts doch so be- und überschaulich geregelt und altmodisch menschlich in der TV-Wirklichkeit! Ein britisches Schloss in Yorkshire im Jahr 1927. Das Königspaar, King George V. und Queen Mary, hat seinen Besuch auf dem Landsitz der Adelsfamilie Crawley angekündigt. Das sorgt für Turbulenzen beim Personal, bei den Herrschaften, für Hektik, Machtspielen, von Liebschaften ganz zu schweigen. Es wird getafelt, geflirtet und integriert, geschummelt und getrickst. Es geht um Klassenkampf von der Küche bis zur Oberschicht, um Vorurteile, Neid und Gewalt gegen die königlichen Staatsoberhäupter, auch um alte Dienerschaft, Werte und Loyalität. Das könnte den heutigen Politchaoten in London eine Lehre sein, aber eben die kennen keine Werte ausser sich selbst und ihre Machtambitionen.
«Downton Abbey» klingt wunderbar aristokratisch, ist aber mehr als ein herrlich kostümiertes, illustres Gesellschaftspanoptikum. Es ist auch eine verschmitzte Menschenkomödie in bester Besetzung – mit der 84jährigen Oscar-Preisträgerin Maggie Smith als Lästermaul Gräfin Violet Crawley, dem stocksteifen Jim Carter als stoischem Butler-Veteran Mr. Carson, Michelle Dockery als Mary Crawley, Hugh Bonneville als Robert Crawley, Joanne Frogatt als Anna Smith oder Elizabeth McGovern als Cora Crawley. Ein Spielfilm aus vergangener Zeit für die Zeit von heute, denn hinter Roben, Kostümen und Standesdünkel kommen alte, gleichwohl ewig aktuelle Gegebenheiten zum Vorschein – soziale, zwischenmenschliche, machtpolitische. Ein ironisches Schaustück mit aktuellen Sidekicks.
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Der Büezer
rbr. Schein und Sein. Es geht auch anders, auch im Schweizer Film. Einfacher, gerader, spontaner, gleichwohl sinnlich und sinnvoll. Das bewies Natascha Beller mit ihrer 30plus-Komödie «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» – ohne die üblichen Subventionsgelder (Fernsehen, Bund, Kanton, Migros etc.). In derselben Spur bewegt sich auch der Erstling «Der Büezer» von Hans Kaufmann. Zwei Freunde haben sich zusammen getan, der Werbefilmer Kaufmann und der Schweizer Jungstar Joel Basman («Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse»). Keine Zürcher Schickimicki-Szene, kein Bilderbuch-Bergdrama, kein Krimi, kein Klamauk. Der Titel gibt die Richtung an: Es geht um handfesten Arbeitsalltag und um einen, der mittendrin steckt. Der Sanitärinstallateur Sigi (Basman) ist unbeschriebenes Blatt, einer der mitläuft und wegen seiner Schüchternheit von Kollegen gehänselt wird. Er hilft auch mal «schwarz» dem «netten» Walter (Andrea Zogg) aus, wenn es in einer seiner Absteigen (für Prostituierte) klemmt. Sigi läuft auch Hannah (Cecilia Steiner) nach, die Flyer verteilt und ihn mit zu einem Konzert in die Freikirche lotst. Büezer Patrick Signer alias Sigi schämt sich als Arbeiter und gibt seiner «Flamme» vor, Werbetexter zu sein. Das geht natürlich schief, und Sigi muss erkennen, dass Schein nicht über das Sein hinwegtäuschen kann, dass die meisten Menschen durch ihren Beruf, ihre Berufung und Status definiert werden und dass eine Not-oder Lebenslüge nicht weiterhilft. Kaufmann und Basman schufen mit dem «Büezer» authentisches Kino ohne öffentliche Förderung – unspektakulär, milieu-getreu, sensibel, unabhängig.
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Der nackte König
rbr. Auf den Spuren von Revolutionen. «18 Fragmente über Revolution» nennt der Zürcher Filmer Andreas Hoessli seine Aufarbeitung historischer Ereignisse, der Revolution im Iran 1979 und der Rebellion in Polen 1980. Er war dazumal als Korrespondent verschiedener Schweizer Zeitungen in Osteuropa tätig. Vierzig Jahre danach ging er den Ereignissen nach. Dazumal lernte er den bekanntesten und am häufigsten übersetzten Autoren Polens, Ryszard Kapuściński kennen. Dessen Buch «Schah-in-Schah» (1982, deutsch 1986) befasst sich mit den Mechanismen der Macht und des Fundamentalismus. Dieses Buch inspirierte Hoessli zum Dokumentarfilm «Der nackte König». Als Erzähler führte Bruno Ganz durch dieses Filmessay, seine letzte Rolle. Geschichte nach, kramte altes Bildmaterial hervor, bereiste Schauplätze und befragte Betroffene, Täter wie Opfer. Hoessli interessierte die Frage nach dem Wesen der Revolution.
Fast parallel geschahen die Umstürze in Persien (1979) und Polen (1980). Der Schah musste abdanken. Das polnische Regime musste sich der Bewegung Solidarność beugen – für 18 Monate. Hoessli war selbst Zeitzeugen der Rebellion in Polen, kannte viele Beteiligte, stand selber unter Geheimdienstbeobachtung. Er verknüpfte die beiden sehr unterschiedlichen Ereignisse in seinem Film, ist in die Archive gestiegen, hat die Schauplätze der Ereignisse, Betroffene, Täter wie Opfer aufgesucht. Das Anliegen des Filmers und Zeitzeugen Hoessli ist es, Strukturen der Macht zu skizzieren, Rebellion und Bewegungen. Das geschieht akribisch, und doch kann sein Film «Der nackte König» nicht befriedigen, auch weil Fragen nach den Folgen wird nur angetippt, aber nicht verfolgt werden, der Bogen zu heute nur Fragment bleibt. Warum der polnische Gewerkschaftsführer Lech Walęsa nicht einbezogen und interviewt wurde, ist unverständlich, ein Mangel.
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Late Night
I.I. Da ist sie wieder, die kapriziöse Emma Thompson, diesmal in der Rolle der Alphafrau Katherine Newbury in der Talkshow «Late Night», die ihr gut zu Gesicht steht. Ihre wechselnden Haarmähnen und Sturmfrisuren kündigen jeweils ihre Launen an, nicht zu knapp, unten denen ihre Mitarbeiter für die Sketche zu leiden haben. Etwas zu selbstgewiss ist sie geworden und ihre Einschaltquoten sind bedenklich zusammengeschmolzen. Und dann kommt noch die Hiobsbotschaft von der Sendeleiterin, sie ist gefeuert! Das ist der erfolgsverwöhnten Diva zuviel, die ein wenig an «Der Teufel trägt Prada» erinnert. Sie trommelt ihre Mannschaft zusammen und dann gibt es was auf die Ohren mit einer gehörigen Standing Manöverkritik. Da sie die einzelnen Mitarbeiter nie persönlich kennengelernt bw. sich für sie nie interessiert hat, nummeriert sie die Köpfe gleich bis Nummer 8 durch. Und die ist eine Neue, die frischen Wind in den Laden und die Talkshows bringen soll: Molly (Mindy Kaling). Eine junge Frau mit indischem Migrationshintergrund, die zunächst von Newbury vornehm übersehen wird, sich aber mit vorlautem Mundwerk Gehör zu verschaffen versteht. Ihre ersten Zeilen werden zwar nicht abends in der Show vorgelesen, als die Situation aber immer prekärer wird und der Rausschmiss unmittelbar bevorsteht, greift die Talkmasterin doch zu Mollys Texten. Und siehe da, das Publikum amüsiert sich und Molly bekommt Aufwind. Die Regisseurin Nisha Granatra zeigt die beiden extrem unterschiedlichen Charaktere, wie sie sich langsam aufeinander zubewegen. Dass auch Frauen als Chefin fies sein können, ist keine Neuheit, wohl aber eine Frau als «Late Night»-Talkerin, das war bislang den Alphamännern vorbehalten. Generell gelingt Männern besser die Identifikation mit ihren Geschlechtsgenossen. Und so brauchte es wohl auch eine Regisseurin, um diesen Tatbestand einmal ins Gegenteil zu verkehren. Katherine Newbury muss sich als Machtmensch in Frage stellen lassen, was den männlichen Äquivalenten auch zu wünschen wäre, die in unserer zeitgenössischen Arena das Sagen haben. Emma Thompson merkt man an, wieviel Spass ihr diese Rolle und die Umkehr der Verhältnisse macht, gerade in der Medienwelt. Der Film schafft es, viele Fragen des Medienbetriebs zu verhandeln, über die in den USA und Europa seit Jahren gestritten wird, wie Diversität und Geschlechtergerechtigkeit, Kampf um Glaubwürdigkeit, um die seriöse Story ohne Fake News, und die richtige Story zur richtigen Zeit.
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La Paranza dei Bambini
I.I. «La Paranza dei Bambini» ist die Verfilmung des von wahren Begebenheiten inspirierten Romans «Der Clan der Kinder» von Roberto Saviano, der auch am Drehbuch mitgewirkt hat und zudem als Produzent zeichnete. Der Film über eine Jugend zwischen Skrupellosigkeit, Konsumgier und Menschlichkeit berührt nicht zuletzt durch die charismatischen Laiendarsteller. Der Regisseur Claudio Giovanesi war auch an der Entwicklung der TV-Serie «Gomorrha» beteiligt. Mit seinem internationalen Bestseller «Gomorrha» schilderte Saviano authentisch das Phänomen des organisierten Verbrechens in Italien und steht seither unter Polizeischutz. «La paranza dei bambini» blickt auf die nächste Generation, die nachrückt und die in die Mühlen der Gewalt und der Kriminalität gerät.
Der 15-jährige Nicola (Francesco Di Napoli) braust am liebsten auf seinem Motorroller mit seiner Clique und grossem Getöse durch die engen Gassen ihres Viertels Sanità in Neapel. Es fehlen ihnen Zukunftsperspektiven und vor allem Geld. Sie wollen auch Designer-Shirts, Sneakers und teure Uhren, wie die Mitglieder der Mafia-Familienclans, die das Leben in Neapel kontrollieren. Als sich ihm die Chance bietet, steigt der aufgeweckte Nicola mit seinen Kumpanen ins Drogengeschäft ein. Das Dealen bringt Geld, doch Nicola will mehr, die Macht über sein Viertel. Kurz entschlossen fordert er den führenden alten Mafia-Boss heraus und greift zu den Waffen. Sehr zum Missfallen der anderen Mafia-Clans und so gerät Nicola zwischen die Fronten. Der Film erzählt von einem Leben unter Bedingungen, in dem illegale Machenschaften in Neapel an der Tagesordnung sind, die Freundschaft und Liebe fast unmöglich machen, doch immer wieder blitzen seine guten und gerechten Seiten auf, denn Nicola will das Viertel auch deshalb übernehmen, damit die Händler, wie seine Mutter, kein Schutzgeld mehr zahlen müssen. Und natürlich will er seine anspruchsvolle Freundin mit tollen Klamotten und Geschenken beeindrucken. Die Mafia lässt sich ihr Geschäft nicht nehmen und so kommt es zum tragischen Showdown, den die Jugendlichen unterschätzen, für die es bisher nur ein spannendes Katz und Maus-Spiel war. Der Film beeindruckt mit empathischer Kameraführung und überzeugt mit den charismatischen jungen Laiendarstellern aus Neapel. Ein aktuelles und brennendes Problem.
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L’adieu à la Nuit
Ein Wiedersehen mit Catherine Deneuve und Kacey Mottet Klein, die Grossmutter und Enkel spielen. Muriel (Catherine Deneuve) lebt auf einem malerischen Landgut mit Pferdefarm und Mandelplantage in Südfrankreich. Sie ist höchst erfreut, dass sie nach dem tragischen Unfalltod ihrer Tochter Besuch von ihrem Enkelsohn Alex (Kacey Mottet Klein) bekommt. Er erklärt ihr, dass er vorhat, nach Kanada auszuwandern. Auf Nachfragen weicht er aus und gibt kaum Auskunft. Sein verschlossenes Verhalten macht Muriel stutzig und sie forscht in seinen Unterlagen nach und entdeckt, dass er Flugtickets nach Barcelona und Istanbul hat. Sie entdeckt, dass Alex in Wirklichkeit plant, mit seiner Freundin Lila (Oulaya Amamra) nach Syrien zu emigrieren. Als zum radikalen Islam konvertierter Muslim will er sich dort den Widerstandskämpfern anschliessen. Bestürzt setzt Muriel alles daran, ihren Enkel von seinem gefährlichen Vorhaben abzubringen. Ein hoch aktuelles Thema, wie kann man einen Jugendlichen vor sich selbst schützen und davon abbringen, in den Jihad zu ziehen?
Muriel überredet einen gefangenen Syrer, der aus dem Jihad zurückgekehrt ist, ihm von seinen schlimmen Erfahrungen zu erzählen. Sie sperrt Alex mit einer List im Pferdestall ein und holt den jungen Syrer zur Hilfe heran. Doch als dieser die Tür öffnet, schlägt ihn Alex mit einer Schaufel nieder und flüchtet. Eine Verfolgungsjagd mit der Polizei beginnt, um die Flüchtigen aufzuhalten. In letzter Minute wird ihr Bus an der Grenze gestoppt. Die Aktion ist zu Ende, doch ist sie auch gelungen, die Jugendlichen von ihrem ideologischen Vorhaben abzubringen? Das lässt der Film offen.
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Nurejew – The White Crow
rbr.– Tanzgenie mit Ecken und Kanten. Es gibt Aufzeichnungen von Aufführungen mit dem berühmten Bühnenstar Rudolf Nurejew als Tänzer und Choreographen, beispielsweise «Nureyev» (Warner Classics, 3 DVD), «The Perfect Partnership» (mit Margot Fonteyn und Nurejew) oder «Nureyev – A Film Biography». Nun hat sich der britische Schauspieler Ralph Fiennes («Schindlers Liste», «The English Patient», «Harry Potter and the Order of Phoenix» oder «Holmes & Watson») sich der grössten Tanzstars des 20. Jahrhunderts angenommen: Rudolf Chametowitsch Nurejew, 1938 in der Nähe von Irkutsk geboren, 1993 in Paris gestorben.
Fiennes, der selber einen Tanzlehrer und Förderer des Tanztalents Nurejew spielt, liefert mit seiner dritten Regiearbeit kein Biopic, kein Künstlerporträt, keinen Tanzfilm im engen Sinn und auch kein Fluchtdrama. Er versucht in «Nurejew – The White Crow» dem Genie und Menschen Nurejew und seiner Zeit, dem Menschen und Genie nahe zu kommen. Das gelingt teilweise exzellent. Alles beginnt mit einer Eisenbahnfahrt 1938. Nurejew wird während der Zugsfahrt geboren, wächst in ärmlichen Verhältnissen auf dem Lande (nahe dem Ural) auf, hat ein gespanntes Verhältnis zu seinem Vater, der den Jungen eines Tages auf der Jagd im winterlichen Wald zurücklässt. So deuten die Schwarzweissbilder an, die sparsam, aber akzentuierend eingeschoben werden. Erinnerungen an die Kindheit, die ersten Tanzschritte und mehr. Mit 17 Jahren, eigentlich schon zu alt für eine Ballettausbildung, konnte Rudik, so sein Jugendname, an der Ballettakademie in Leningrad Fuss fassen. Sein Lehrer Alexander Puschkin (Fiennes) stand ihm auch zur Seite, als er sich verletzte und sich auf ein amouröses Verhältnis mit dessen Frau Ksenija (Chulpan Khamatova) einliess. Bei einem Gastspiel des Kirow-Balletts 1961 in Paris feierte der Jungstar nicht nur grossen Erfolg, sondern fand am westlichen Leben Gefallen. Er genoss seinen Starstatus, die Freiheit, die er sich gegenüber dem KGB-Agenten Strischewsky (Alexey Morozov) ertrotzte. Er tigerte allein durch den Louvre, war vom Gemälde «Das Floss der Medusa» fasziniert, bändelte mit der Chilenin Clara (Adèle Exarchopoulos) und dem Tänzer Pierre Lacotte (Raphael Personnaz) an. Er schnupperte Freiheit, begehrte auf – gegenüber den Agenten, die das Ballett gegen westlichen Medien und Bewunderern abschirmen sollten. Neugierde, Lust auf Leben und Vergnügen, konnten sie nicht verhindern. Nurejew, erlag den «Verführungen» und weigerte sich, allein einen Flug nach Moskau (statt nach London) mit Agenten anzutreten. Im Flughafen kommt es zum «»Showdown». Ein spannender Schlussakkord, aber kein Flucht-Thrillerfinale, wie mancherorts angedeutet wird. Regisseur Fiennes, der sein Künstlerdrama auf sechs Kapitel der Biografie «Rudolf Nurejew» von Julie Kavanagh aufbaute, versucht, den Menschen, den Aussenseiter («White Crow» steht dafür), den Rebell zu erfassen. Der Star, exzellent verkörpert durch Oleg Ivenko, hat Ecken und Kanten, eine starke egoistische Ader und feminine Züge, die er in die Ballettwelt als Tänzer und Choreograph einbrachte. Fiennes beschreibt diese Aspekte (etwa Nurejews Bisexualität), seine tänzerische Ambitionen, auch Sturheiten. Sein Nurejew-Film, bisweilen sprunghaft in den Zeiten (Jugend, Leningrad, Paris), ist keine Starhuldigung, keine tänzerische «Offenbarung» oder Ballett-Hymne, sondern das Bildnis eines Besessenen, eines jungen Genies, einer Ikone. Seine künstlerische Bedeutung und Wirkung, sein Leben nach dem Gesuch um «politisches Asyl» sind kein Thema. Der Spielfilm ist ein Sehereignis allemal.
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Die fruchtbaren Jahre sind vorbei
rbr. Frauenpower, Frauenprobleme. Man hätte sich einen besseren Start als eine verregnete Mitternachtsvorstellung auf der Piazza Grande in Locarno gewünscht. Aber eben, die Kleinen trifft’s am schwersten. Aber was trübe begann, kann ja noch werden – im Kino. Denn diese Produktion hat’s in sich. Von den üblichen Geldgebern Kanton und Stadt Zürich, Zürcher Filmstiftung, Migros etc. glaubte keine an diesen Film. Eine Antwort lautet, wie uns Produzent Patrick Karpiczenko, Partner der Filmautorin und Regisseurin Natascha Beller erzählte: «Wen interessieren Frauen über 30 und ihre Kinderprobleme?» Kurzum, das Leben dreier Frauen dreht sich hier um Karriere und Kinder und die Frage: Kinder haben, kriegen und managen. Amanda (Sarah Hostettler) heiratet, und ihre Schwester Leila (Michèle Rohrbach) erfährt, dass die Braut schwanger ist. Sie lässt die Baby-Bombe an der Hochzeit platzen. Amanda ist gar nicht glücklich darüber – weder über die Lüftung des Geheimnisses noch über die Aussicht, Mutter zu werden, denn sie fürchtet über ihre Karriere. Dritte im Bunde der Freundinnen über 30 ist Sophie (Anne Haug), eine Mutter, die alle Hände voll zu tun hat, ihre Tochter behüten zu lassen. Also, eine (Amanda) fürchtet die Mutterschaft, eine (Sophie) managt ihren Alltag schlecht und recht als Allerziehende, und die dritte will unbedingt ein Baby, auch weil die biologische Uhr tickt. Das sorgt für Reibereien, groteske Situationen (Speed-Dating), Beziehungskapriolen, Nachtschwärmerei und andere amouröse Turbulenzen. Auch wenn das eine oder andere klamaukig ausartet, gefällt und amüsiert die Frauenkomödie, bei der Männer meistens nur Spielball und Statisten sind. Der Zug durch die Zürcher Szene inklusive Auftritten von Beat Schlatter, Dani Fohrler, Nik Hartmann oder Reto Stalder («Der Bestatter») unterhält. Die Dialektkomödie «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei», in der auch Produzent Karpiczenko als Yoga-Instruktor einen Cameo-Auftritt hat, gehört zu den positiven Entdeckungen in diesem Schweizer Kino-Sommer. Sie besticht durch Pfiff und eine herzhafte Ensembleleistung, auch wenn Männern nur die Rolle von Hampelmänner bleibt. Frauen werden ihren Spass haben.
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Le miracle di Saint Inconnu
rbr. Komischer Heiliger. So karg, abseitig und knochentrocken wie die Wüstenlandschaft ist auch die bizarre Episode «Le miracle du Saint Inconnu» (Der unbekannte Heilige). 15 wortlose Minuten stimmen auf diese Szenerie ein. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Amine (Younes Bouab), der Dieb, ist auf der Flucht. Gerade gelingt es ihm noch, eine Tasche voller Geldbündel auf einem Hügel zu begraben, eh er geschnappt wird. Nach zehn Jahren Haft kehrt er an dieses Ort zurück, um seine Beute auszugraben. Doch o Schreck, über seinem Versteck wurde ein Mausoleum für einen «Unbekannten Heiligen» errichtet. Eine Pilgerstätte. Also schwer an die bewachte Fundstätte heranzukommen. Auch mit Hilfe seines unbedarften Komplizen (Salah Bensalah) scheitern Amines Versuche. Es ist ein kauziges Dorfensemble, das sich um diese Pilgerstätte schart: der alte Bauer Brahim (Mohamed Naimane), der felsenfest daran glaubt, dass bald der Regen kommt, der seit zehn Jahren ausgeblieben ist, und sein Sohn Hassan (Bouchaib Essamak), der einfach weg will, ein Wächter, dessen Hund angegriffen, verletzt und mit Goldzähnen ausgerüstet wird, und ein Frisör, der als Zahnarzt aushilft.
Der marokkanische Regisseur und Autor Alaa Eddine Aljem liefert mit seiner absurden Fabel ein Kinostück, das sich seltsam ausmacht im Kino – inmitten von Action & Crash, Hollywood-Dramen und Ballerorgien. Die komische Episode um Geld und Glauben und Hoffnung (etwa auf den Regen), Schurken und ehrliche Wüstenbewohner hat etwas von einer wüstentrockenen Burleske – dramatisch und komisch zugleich. Der Film aus Marokko steht auch für Wandlung und ein Wunder, das sich als sehr irdisch erweist, eben auf Geld gebaut.
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Les invisibles
rbr. Ausgegrenzt. Frauen in der Bredouille. Sie nennen sich Lady Di, Edith Piaf oder Brigitte Macron. Sie wurden aus der Bahn geworfen, leben ausserhalb der Gesellschaft – arbeitslos, wohnungslos, «asozial». Für die Wohlstandsgesellschaft sind sie «unsichtbar» geworden. Sie sollen nicht stören, werden ausgeblendet. Und doch gibt es sie, und es gibt Menschen, die sich um sie kümmern, sich für sie engagieren.
Louis-Julien Petit stiess auf ein Buch («Sur la route des invisibles») und eine Filmdokumentation («Femmes invisibles: survivre dans la rue» von Claire Lajeunie), welche diese Problematik behandeln. Der Filmer begnügte sich jedoch nicht mit einer adäquaten filmischen Umsetzung, sondern ging vor dem Start des Filmprojekts regelrecht auf die Strasse, besuchte Unterkünfte wohnungsloser Frauen und Tagesstätten, sprach mit Betroffenen. Sein Fazit: «Mir wurde bald klar, dass ich mich in meinem Film auf das tägliche Miteinander dieser zwei Frauengruppen konzentrieren wollte.» Und er drehte ein Sozialdrama (in Nordfrankreich) im Sinne eines Peter Cattaneo («The Full Monty») oder Ken Loach. Seine Intention: «Ich wollte mich dieser Welt durch komische und berührende Situationen nähern, ohne die dramatische Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren.»
Die Rollen der «barmherzigen Samariterinnen», der Sozialarbeiterinnen also, besetzte Petit mit Profis wie Audrey Lamy als Audrey, Corinne Masiero als Manu, Noémie Lvovsky als Hélène, Déborah Lukumuena als Angélique und Adolpha van Meerhaeghe als Chantal. Die obdachlosen Frauen verkörperten Laien, die Wohnungslosigkeit aus eigener Erfahrung kannten. Und diese Darstellerinnen suchten sich ihre Rollennamen wie Edith Piaf etc. selber aus.
Man stelle sich vor: Das Tageszentrum «L’Envol» betreut Frauen ohne Arbeit, Obdach und Perspektiven. Drei Monate, so hat die Stadtverwaltung beschlossen, bleiben den Sozialarbeiterinnen Audrey, Manu, Hélène, und Angélique, die gestrandeten Frauen wieder aufzurichten und ins Leben zu «entlassen». Die Idealistin Audrey tut alles mit ihrem Team – über amtliche Richtlinien und Grenzen hinaus –, um ihren Schützlingen zu helfen. Dazu gehören auch Tricks und unorthodoxe Methode inklusive eines Workshops und Anfertigung eines positiven Lebenslaufs. Als infolge der Schliessung eines Obdachlosencamps die Tagesstäte auch zur Nachtstätte heisst Herberge wird, droht der Amtsschimmel, und der kennt keine Gnade.
Es ist erfrischend und berührend, dem Treiben dieser unterschiedlichen Frauen beizuwohnen. «Les invisibles» lässt tief in düstere Alltäglichkeiten blicken, ohne jedoch Mut und Lebenslust zu verlieren. Die französische, sehr authentische Tragikomödie mit Selbstironie erzählt keine oberflächliche Erfolgsstory, sondern ist eine Ode an das Leben, ein Plädoyer für Solidarität und Optimismus. Am Ende gehen die gebeutelten, ausgegrenzten Frauen stolzen Hauptes ihres Wegs. Sie, die im Abseits stehen, haben Selbstachtung und Mut wiedergefunden.
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to be continued