FRONTPAGE

«Fotostiftung Schweiz: Das Leben ein Sport»

 

 

Eine Entdeckung: rund 1250 Glasnegative aus der Zeit zwischen 1910 und 1925, die im Archiv der Schweizer Bildagentur Keystone dem Zahn der Zeit getrotzt haben. Die Qualität dieser Fotografien war bekannt, doch die Umstände ihrer Entstehung lagen weitgehend im Dunkeln. Die Fotostiftung Schweiz stellt Jules Decrauzat – einen Pionier der Fotoreportage vor. Ferner: Filmpodium Zürich, ein Interview.

 

Erst dank intensiven Recherchen kann nun ein neues Kapitel der Schweizer Fotogeschichte geschrieben werden: Der in Biel geborene Jules Decrauzat (1879–1960), aus dessen umfangreichem Werk die 1250 Glasnegative stammen, ist wohl der erste bedeutende Fotojournalist der Schweiz. Schon um 1900 machte er sich international einen Namen als Reporter und verfolgte das Weltgeschehen für die französische Presse. 1910 liess er sich in Genf nieder und spezialisierte sich auf Sportberichte – wobei seine Fotografien weit über Sportfotografie im engeren Sinn hinausgehen. Sowohl technisch als auch ästhetisch erweist sich Decrauzat als ein Meister des Mediums, dem es gelang, seine Epoche und ihren Geschwindigkeitsrausch in packenden Bildern darzustellen. (L&K).
In Zusammenarbeit mit Keystone, PhotoforumPasquArt, Biel, und Echtzeit Verlag, Basel.

 

Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, Winterthur,

Öffnungszeiten täglich 11-18 Uhr, Mi 11-20 Uhr, Mo geschlossen, 1. August geöffnet

www.fotostiftung.ch 

 

 

Filmpodium Zürich –
Kinokultur zwischen Klassik und Event

Von Rolf Breiner

 

Kultstätte Kino: Das Filmpodium Zürich sorgt seit 32 Jahren dafür, dass Klassiker der Filmgeschichte wieder auf der Leinwand zu sehen sind, dass Filmschaffenden und Filmschauspielern/-innen, aber auch bestimmten Themen ganze Zyklen gewidmet werden. Corinne Siegrist-Oboussier leitet seit 2. August 2005 das städtische Programmkino, an ihrer Seite Michel Bodmer als Stellvertreter.

 


Corinne Siegrist-Oboussier, Leiterin Filmpodium und Michel Bodmer, Stellvertreter.


Das Kino an der Nüschelerstrasse, nur ein paar hundert Meter von der Zürcher Bahnhofstrasse entfernt, hat eine eigene Aura. Es wurde 1948/49 erbaut, beherbergt seit 1983 Filmpodium und wurde 2003 unter Berücksichtigung des Denkmalschutzes, dem das Kino seit 1993 unterstellt ist, umfassend restauriert. Im Zentrum und doch etwas im Abseits, verschwiegen mit einem klaren Foyer und kleiner Kaffeebar. Schwarzweiss dominiert im Kinosaal mit 263 Plätzen. Etwas schräg in der Struktur, aber ganz auf Kino eingestellt. Jährlich werden hier rund 350 Filme aufgeführt, mehr als alle kommerziellen Kinos Zürichs zusammen. 19 Aufführungen pro Woche mit durchschnittlich 45 Zuschauern pro Vorstellung. Nur am 24. und 25. Dezember und an der Streetparade ist das Kino geschlossen und drei Tage im Spätsommer für Wartungsarbeiten.

 

 

 

Corinne Siegrist-Oboussier, Sie leiten das Filmpodium seit 10 Jahren. Sind es vor allem ältere Semester, die hierher kommen? Was können Sie uns über die Publikumsstruktur sagen?

Corinne Siegrist-Oboussier: Unser Stammpublikum ist sicher älter als das durchschnittliche Kinopublikum, ich würde schätzen, 35 Jahre und älter. Gerade ältere Leute kommen gern am Nachmittag. Natürlich kommen auch Zuschauer um die 20 Jahre alt, aber es könnten noch mehr sein! Wir arbeiten immer wieder mit der Uni und der ZHdK zusammen und bemühen uns gerade jetzt wieder, zusammen mit einer Studentenorganisation vermehrt Studenten ins Kino zu bringen. Aber das harzt. Es ist etwas frustrierend, wie wenig Studierende den Weg ins Filmpodium finden.

 

 

Wie würden Sie das Programmangebot umschreiben?
Wir interessieren uns grundsätzlich für alle Filme, die nicht in kommerziellen Kinos vorkommen, ergänzen dieses also um die historische Dimension mit unserer auf mehrere Jahre angelegten Filmgeschichte und mit Retrospektiven, zeigen Filme aus wenig bekannten Filmländern oder nehmen neue Entwicklungen auf. Wir zeigen auch Premieren, werden uns aber sicher nicht um den neusten James-Bond kümmern, auch wenn der grossartig wäre. Weil er ja ins reguläre Kino kommt. Es bleiben so noch viele Filme, die nicht gezeigt werden. Ein Beispiel dafür ist der Film «Métamorphoses» (2014), der ab 2. Juli bei uns zu sehen ist. Solche Premieren sind für uns auch wichtig, um das Programm etwas zu beruhigen. Da viele ältere Kopien aus archivarischen Gründen geschont werden müssen und nur 2-3 x gezeigt werden dürfen, könnten wir das Programm nicht nur damit bestreiten, sonst wären viel zu viele verschiedene Filme im Angebot – das würde unser Publikum (und uns!) überfordern. Solche Premieren oder auch Klassiker, die inzwischen teilweise digital greifbar sind und zehn-, zwölfmal gezeigt werden können, beruhigen das Programm etwas. Das-Budget des Filmpodiums beträgt 1.4 Millionen Franken.

 

 

Verstehen Sie sich als Service publique-Cinema?
Klar. Wir können bei rund 950 Vorstellungen pro Jahr einige Zuschauer anlocken und einen grossen Teil der Ausgaben über die Ticketverkäufe finanzieren, aber wir müssen mit den Einnahmen keinen Gewinn erwirtschaften.

 

 

Was bietet das Filmpodium über reine Filmvorführungen hinaus?
Wir versuchen immer wieder, Leute, die an einer Produktion beteiligt waren, zu Podiums- oder Publikumsgesprächen einzuladen, Regisseure, Schauspieler, Schauspielerinnen, oder Fachleute, die zu einem bestimmten Thema etwas zu sagen haben. Dem Publikum sozusagen Bonusmaterial anzubieten und das Filmpodium zu einem Ort des Austausches zu machen. Im Herbst werden wir zu Fredi M. Murers 75. Geburtstag am 1. Oktober einen speziellen Anlass organisieren.

 

 

Was kann man dazu erwarten?
Vier ausgewählte Filme, nämlich «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» (1974), «Grauzone» (1979), «Höhenfeuer» (1985) und «Der grüne Berg» (1990). Fredi wird daran selber beteiligt sein und zusätzlich einen Film Carte-Blache-mässig auswählen, der ihm sehr am Herzen liegt. Den kenne ich aber noch nicht.

 

 

Sie pflegen eine Partnerschaft mit der Cinématique suisse. Wie sieht die aus?
Wir sind sozusagen der Deutschschweizer Kino-Ableger der Cinémathèque suisse. Teilweise machen wir gemeinsam Programme, spielen etwa die Retrospektiven von Locarno nach, an denen ja die CInémathèque aktiv mitarbeitet. Allerdings ist das wegen den Untertiteln nicht immer einfach, da unser Publikum deutsche oder englische Untertitel den französischen vorzieht. Wir haben auch einen privilegierten  Zugriff auf gewisse Kopien der Cinémathèque suisse Wir arbeiten regelmässig auch mit den kommunalen Kinos in Bern und Basel zusammen, aber auch mit Filmmuseen in Wien oder München.

 

 

Wie oft und in welcher Auflage erscheint Euer Programm-Magazin?
Das Heft erscheint siebenmal im Jahr und hat eine Auflage von rund 7000 Exemplaren. Wir haben Abonnenten in der ganzen Schweiz, da wir ja auch Hintergrundartikel zu den einzelnen Filmreihen publizieren. Einige Exemplare gehen auch ins Ausland an Privatpersonen oder Institutionen.

 

 

Was waren Ihre Highlights im Filmpodium?
Sicher einige Begegnungen mit Gästen, etwa mit Regisseur Patrice Leconte, dem Drehbuchautor Jean-Claude Carrière, dem britischen Filmautor Terence Davies oder dem schwedischen Regisseur Jan Troell.

 

 

Wie sehen Ihre persönlichen Perspektiven aus?
Durch die Digitalisierung ist das Produkt „Film“ praktisch immer und überall greifbar. Zunehmend zentral wird darum für diese Art Kino, wie wir es sind, die Frage: Wie bleiben wir als Live-Ort, als Ort der Begegnung wichtig? Wie kriegen wir das junge Publikum ins Kino – oder vermehrt ins Kino. Wir müssen dafür sorgen, dass sich das Publikum immer wieder erneuert und dass unser Kino wahrgenommen wird bei Leuten, die uns noch nicht auf dem Radar haben. Ich gehe davon aus, dass ich bis zu meiner Pensionierung, also in den nächsten fünf, sechs Jahren in Zürich, beim Filmpodium, bleibe.

 

 

Leitung und Programm

Corinne Siegrist-Oboussier (58) stammt aus dem Aargau, wohnt in Basel und leitet das Filmpodium seit 2. August 2005. Sie kann im August ihr zehnjähriges Jubiläum feiern. Sie war in den Achtzigerjahren im Filmklub «Le bon film» in Basel aktiv und leitete ab Januar 1987 das Stadtkino Basel. Ab August 2005 war sie Koleiterin im Filmpodium (neben Andreas Furler als Koleiter).
Corinne Siegrist-Oboussier wurde 2014 der Korean Cinema Award verliehen – wegen ihrer Verdienste um die Verbreitung des koreanischen Films.
Als Filmpodium-Leiterin ist sie von der Stadt Zürich angestellt (90 Prozent). Das Filmpodium ist ein Kulturangebot der Stadt Zürich und dem Präsidialdepartement von Corine Mauch unterstellt.

 

 

 

Schwerpunkte des Sommerprogramms (Juli/20. September):
Filme mit den US-Schauspielerinnen Joan Crawford und Bette Davis; Filme des japanischen Animationskünstlers Hayao Miyazaki; Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975; vier Filme von Christian Schocher; Sommerpremieren: «Jahrgang 45» (DDR 1966), «The Optimists» (Norwegen 2013); «Still the Water» (Japan/Frankreich/Spanien 2014); «Métamorphoses» (Frankreich 2014), «At Home» (Griechenland/D 2014).
Vom 4. Juli bis 1. August werden jeweils samstags um 15.30 Uhr Zeichentrickfilme für Kinder angeboten – vom japanischen Anime-Meister Miyazaki.

www.filmpodium.ch

 

 

 


Foto © Rolf Breiner

 

 

68. Filmfestival Locarno 2015:
«Filme soweit das Auge reicht»

 

Im August blickt die nationale wie internationale Filmwelt nach Locarno. Im Fokus steht das 68. Filmfestival vom 5. bis 15. August 2015. Über 250 Filme, kurze und lange, experimentelle und dokumentarische, fiktive und fantastische, diskutable und denkwürdige, flimmern über die diversen Leinwände und Bildschirme. Bereits vor Festivalbeginn begann die umfassende Retrospektive über den Hollywood-Regisseur Sam Peckinpah. Gezeigt wurde am Sonntag, 2. August, sein wehmütiger Western «Pat Garrett & Billy the Kid» (1973). Das Programm 2015 ist reichlich überfrachtet – mit über 250 Filmen, 12 Sektionen, drei Wettbewerben und 25 Awards.

 

Von Rolf Breiner

Er war ein Meister der Gewaltszenen, des Abgesangs (etwa auf den Western), ein Filmemacher der Outlaws und Einzelkämpfer. Seine Themen waren Gewalt, Moral und Männlichkeit. Sam Peckinpah drehte Filme wie «The Ride the High Country» mit Joel McCrea und Randolph Scott, «Straw Dogs» mit Dustin Hoffman, «The Wild Bunch» mit Warren Oates und William Holden, «The Ballad of Cable Hogue» mit Jason Robards oder «Getaway» mit Steve McQueen.
Und natürlich «Pat Garrett & Billy the Kid» mit James Coburn und Kris Kristofferson sowie Bob Dylan, der die Musik dazu schrieb und als Beobachter Alias auftrat. Peckinpah, vor 90 Jahren also 1925 in Südkalifornien geboren (vielleicht war das ein Grund für die Retrospektive in diesem Jahr), drehte neben 22 Kinofilmen auch fürs Fernsehen. Sein Werk wird umfassend in Locarno gezeigt. Filmkenner Pierre Rissient (79) kannte Peckinpah persönlich und wird in Locarno sein. Der Film «Pierre Rissient: Man of Cinema» wird am Festival zu sehen sein. Die Schauspielerinnen Senta Berger («Steiner – das eiserne Kreuz» mit James Coburn)»und Isela Vega («Bring Met he Head of Alfredo Garcia» mit Warren Oates) werden von ihren Erfahrungen mit Peckinpah erzählen.

 

 

Grande Cinema auf der Pizza Grande
Auch wenn die Stars nicht gerade in Scharen ans Filmfestival Locarno strömen, wie ein Boulevard-Blatt behauptet, so sind doch einige bekannte Namen angesagt wie Edward Norton («Birdman», «Fight Club»), der in Locarno den Excellence Award Moet & Chandon  empfängt. Zum Wohl!  Ausserdem wurden Andy Garcia («Godfather»), belohnt mit einem Locarno Club Award, und Marthe Keller («Homo Faber», neu in «Amnesia») angekündigt. Meryl Streep und ihre Tochter Mamie Gummer werden hingen nicht ihre Aufwartung machen, obwohl ihr Film «Ricki and the Flash» den Reigen der Filme auf der Piazza Grande am 5. August eröffnet. Die Hollywood-Ikone Streep verkörpert in diesem Musikdrama von Jonathan Demme die Hardrocksängerin und Gitarristin Ricki.

 

Die grosse Attraktion Locarnos ist die Piazza Grande, wo sich bis 8000 Menschen allabendlich zusammenfinden, um kolossales Kino zu erleben. Nach mit Auftakt mit Ricki (Streep)  folgt die französische Liebesfilm-Produktion «La belle saison».


Bei den Piazza-Filmen können auch die Zuschauer aktiv werden und für den Prix du Public stimmen, dotiert mit 30 000 Franken. Aufgeführt werden beispielsweise «Der Staat gegen Fritz Bauer» (7. August), «Jack» und «Trainwreck» (8. August), «Bombay Velvet»  (11. August),   die französisch-schweizerische Produktion «Amnesia» von Barbet Schröder und der Boxerfilm «Southpaw» mit Jake  Gyllenhaal (beide am 12. August), oder die Tragikomödie «La Vanité» (13. August).

 

Schweizer Präsenz
Beim internationalen Wettbewerb werden vier Leoparden vergeben, für den besten Film (Pardo d’oro, 90 000 Franken), die beste Regie (20 000 Franken), für die beste Schauspielerin und den besten Schauspieler. Dazu kommen der Spezialpreis der Jury (30 000 Franken) sowie die Swatch First Feature Awards.

 

Im cineastischen Blickpunkt stehen  traditionsgemäss die Wettbewerbe: Concorso internazionale und Concorso Cineasti del presente. Die Schweiz ist u.a. mit folgenden Filmen präsent: «Heimatland» (CH/D, Internat. Wettbewerb), «Keeper» von Guillaume Senez (Belgien/CH, Cineasti del presente), «The Day the Sun Fell» von Aya Domenig (Semaine de la critique), «Amnesia» (CH/Frankreich) und «La vanité» (Fr/CH) von Lionel Baier (beide Pizza Grande), «Erlking», Animationsfilm von Georges Schwizgebel (ebenfalls Piazza).
In der Sektion Fuori Concorso sind die Filme «Above Heaven» von Stephane Goel, «The Woods Dreams Are Made Of» von Claire Simon und «Yes No Maybe» von Kaspar Kasics geplant.
Das Panorama Suisse, federführend von Seraina Rohrer, Direktorin der Solothurner Filmtage, geleitet,  bietet einige interessante Schweizer Werke, die bisher nur teilweise den Weg in den Kinos fanden. Die Spielfilme laufen unter dem Titel «Veränderung»: «Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» von Stina Werenfels, «Chrieg» von Simon Jaquemet, «Wintergast» von Andy Herzog und Matthias Günter und «Vecchi Pazzi» von Sabine Boss. Dokumentarfilme haben das Motto «In die Ferne», und das sind «Grozny Blues» von Nicola Bellucci, «Horizontes» von Eileen Hofer, «Above And Below» von Nicolas Steiner, «Cyclic» von Frédéric Favre und «Wild Women – Gentle Beasts» von Anka Schmid.
Festivaldirektor Carlo Chatrian, nun im dritten Amtsjahr, hat sich etabliert und bedient ein breites Publikum mit populären Filmen auf der Piazza, mit oftmals sperrigen Wettbewerbsbeiträgen und sehenswerten Randsektionen, die aber wie beispielsweise die Semain de critique bei Cineasten höchst gefragt sind und für volle Säle sorgen. Sieben Filme wurden für die Semaine-Sektion 2015 programmiert: «Brothers» und «Call Me Marianna» aus Polen, «K2. Den Himmel berühren» (Polen, Deutschland, Grossbritannien), «The Ground We Won» aus Neuseeland, «Mein Name ist Gary» (Frankreich, Deutschland),  «Lampedusa im Winter» (Österreich, Italien, Schweiz) und schliesslich «Als die Sonne vom Himmel fiel» (Schweiz).

www.pardo.ch

 

 

68. Filmfestival Locarno 2015 

Full House fürs «Haus der Filme»

Von Rolf Breiner

Das grössten der kleinen Filmfestivals in Europa hat seine Attraktivität bestätigt. An elf Tagen besuchten 164 000 Zuschauer das Festival am Lago Maggiore (2014: 166 800). Die Piazza Grande verzeichnete leicht  mehr Besucher, nämlich plus 1 Prozent (66 000 Zuschauer). Den Goldenen Leoparden gewann die südkoreanische Komödie «Right Now, Wrong Then».

 

Festivalpräsident Marco Solari ist zufrieden: «Mit der diesjährigen Ausgabe hat das Festival seine Qualität auf internationaler und nationaler Ebene konsolidiert. Locarno ist ein Festival, das mit Bescheidenheit und Vertrauen in die eigenen Kräfte in die Zukunft schaut, im Bewusstsein, dass es sich keine Fehler leisten kann. Ein Festival, das, ohne Kompromisse einzugehen, die Entscheidungsfreiheit, Autonomie und Unabhängigkeit der künstlerischen Leistung und der Jurys verteidigt.» Und Direktor Carlo Chantrian meint etwas salbungsvoll: «Elf Tage lang hat sich Locarno in das Haus der Filme verwandelt, das wir uns zu Beginn gewünscht hatten. Ich freue mich über die Grosszügigkeit der Gäste dieser 68. Ausgabe, die mit Präsenz das Festival bereichert und mit ihren Worten das Programm zum Strahlen gebracht haben.»


Für fast immer schlug der Internationale Wettbewerb kaum grosse Wellen. Man weiss aus Erfahrung, dass die meisten «Kunstwerke» kaum je den Weg in unsere Kinos finden. Ausnahme bildet heuer der Schweizer Beitrag «Heimatland», ein verzweigter Kollektivfilm von zehn Autoren, die der Schweiz einen Heimatspiegel vorhalten. Ein teils witziges und freches,  teils betuliches Unterfangen, das von der Idee ausging, die Insel Schweiz sei katastrophal bedroht und nur eine Flucht über die Grenzen könnte die Bewohner retten. Man darf auf die Kinowirkung gespannt sein.

Als Komödie hat der Siegerfilm «Right Now, Wrong Then» von Hong Sangsoo eine kleine Chance, Unterschlupf in Schweizer Kinos zu finden.
Das Aushängeschild des Festivals, die stimmungsvolle Piazza Grande zog allein 66 000 Filmfreunde an. Hier werden teils populäre, teils auch anspruchsvolle und quere Filme aufgeführt. Die Höchstmarke erzielte das Rockstar-Drama mit Meryl Streep «Ricky and the Flash» mit 8200 Zuschauern am Eröffnungstag. Der Streifen, in dem Meryl  als Hardrock-Sängerin zusammen mit ihrer Tochter Mamie Gummer agiert, startet bereits am 3. September in den Kinos.
Mit dem Publikumspreis, dem Prix du Public, wurde das Drama «Der Staat gegen Fritz Bauer» ausgezeichnet. Der Film von Lars Kraume beschreibt akribisch, wie Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, verkörpert durch Burkhart Klaussner, bekannt auch vom Schauspielhaus Zürich, und Ronald Zehrfeld, Ende der Fünfzigerjahre den SS-Verbrecher Adolf Eichmann sucht und jagt. Deutscher Kinostart am 1. Oktober.
Der Schweizer Film auf der Piazza «Amnesia» von Barbet  Schroder bot vor allem der Schauspielerin Marthe Keller eine attraktive Plattform: Die Deutsche Martha (Keller) lebt zurückgezogen auf Ibiza und hat mit dem Kapitel Deutschland radikal abgeschlossen. Sie spricht kein Wort Deutsch mehr, bis der junge Musiker Jo (Max Riemelt) zu ihr Zutrauen fasst und sich verliebt. Die etwas gekünstelte Beziehungskiste wartet zwar mit einem dramatischen Finale auf, kann aber insgesamt zu wenig fesseln und überzeugen.

Ein sicherer Wert wie so oft war die Filmkritikerwoche mit vollen Sälen, wenn da nicht das mühsame Schlangestehen beim Kursaal wäre! Warum das Festival der Semaine de la Critique keine grösseren Säle als das Kino Rialto für die Zweitaufführung oder nicht eine dritte Aufführung a priori programmiert, bleibt ein Rätsel. Ausgezeichnet wurde die Reportage «Lampedusa im Winter» vom Wiener Jakob Brossmann. Wie gehen die rund 6000 sizilianischen Bewohner mit den Migrantenströmen aus Afrika um? Sie sind (fast) allein auf sich gestellt, leisten Schiffbrüchigen Hilfe, wehren sich gegen ein marodes Fährunternehmen. Die kämpferische Bürgermeisterin ist ein Vorbild, kämpft für ihre Insulaner und für die Gestrandeten. Ein nahes Zeitdokument, das Augen und Herzen öffnet.

Ein sicherer Wert war in diesem Locarneser Festivaljahr auch die umfassende Retrospektive über Sam Peckingpah, dem unerbittliche, rigorose Meiser der Gewalt, des untergehende Machismo, der Konfusion, des Scheiterns. Seine Filme «The Wild Bunch» (1969), «Straw Dogs» (1971), «Junior Bonner» (1972)  oder «Bring Met he Head of Alfredo Garcia» (1974) fesseln noch heute. Kino pur. Die Retrospektive geht auf Reise und gastiert in Zürich (Filmpodium 16. November bis 31. Dezember).
Das 69. Filmfestival Locarno findet vom 3. bis 13. August 2016 statt.

 

 

Die wichtigsten Preise 2015:
Goldener Leopard: «Right Now, Wrong Then» von Hong Sang-Soo, Südkorea.
Spezialpreis der Jury: «Tikkun» von Avishai Sivan, Israel.
Pardo für die Beste Regie: Andrzej Zulawski für «Cosmos», Frankreich, Portugal.
Pardo für beste Darstellerinnen: Tanaka Sachie, Kikuchi Hazuki, Mihara Maiko, Kawamura Rira in «Happy Hour», Japan.
Pardo für besten Darsteller: Jung Jae-Young in «Right Now, Wrong Then».
Besondere Erwähnungen: Drehbuch Hamaguchi Ryusukefür «Happy Hour» und Kameraarbeit Shai Goldman für «Tikkun».

 

«Fantastisches Fantoche»

 

(rbr) Seit 20 Jahren sind in Baden kompakt Animationsfilme aus aller Welt zu sehen. Zum 13. Mal geht das Internationale Festival Fantoche über diverse Kinobühnen – heuer vom 1. bis 6. September. Insgesamt werden 260 Filme aus 34 Länder gezeigt.

 

Im Kino finden Animationsfilme immer wieder ein grosses Publikum und locken alle Altersschichten. Aktuell etwa die «Minions» oder die Fortsetzung «Der kleine Rabe Socke 2 – Das grosse Rennen» und demnächst «Ooops! Die Arche ist weg…» Am Fantoche-Festival in Baden sind einige Filme, die im September oder Oktober ihre Kinoreise antreten, bereits vorweg zu sehen.

Die Kinowelt wartet gespannt auf die neuste Pixar-Produktion «Inside Out – Alles steht Kopf» (Kinostart: 1. Oktober). Dabei geht es nicht um putzige Wesen und Underdog-Helden, Märchen- oder Fantasygestalten, sondern um Stimmen im Kopf. Aufführungen in Baden am 1., 2., 5. und 6. September.
Insgesamt kündigte Festivalleiterin Annette Schindler an einer Presseorientierung um die 20 Langfilme an, allesamt Premieren. Hervorstechen neben dem angesprochenen «Inside Out» etwa der Trickfilm «Song oft he Sea», eine Reise durch die irische Sagenwelt, «Tout en haut du monde», die abenteuerliche Suche des jungen Adeligen nach einem Arktisschiff 1892 oder «Phantom Boy», ein Film über einen Elfjährigen, der aus seinem Körper schlüpfen kann.
Im Mittelpunkt stehen gleichwohl die drei Wettbewerbe (International, Schweizer, Kinder). Rund 1400 Filme wurden eingereicht, 84 Filme für die Wettbewerbe berücksichtigt. «Seinen Film am Fantoche zeigen zu können und vielleicht sogar einen Preis dafür zu gewinnen, kann ein wesentlicher Karrierebeschleuniger sein», ist Annette Schindler überzeugt. «Fantoche bietet ein Forum für Filme, die sich ästhetisch, inhaltlich oder durch ihre Technik von den Konventionen der Filmgestaltung absetzen, sie geschickt hinterfragen oder frech auf den Kopf stellen.»
Speziell beachtet werden heuer polnische Produktionen, Schwerpunkt bildet dabei die Filmschule Łódź, die letztes Jahr ihr 25. Jubiläum feiern konnte. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Retrospektive des Polen Jan Janary Janczak, der seit 1980 in Wil, SG, lebt und arbeitet. Ein Programmschwerpunkt befasst sich mit «Family Sweet & Sour». Kinder und junge Zuschauer werden speziell bedient, ab vier Jahren sind die Kids willkommen beim altersgerechten Kurzfilmprogramm «Gemeinsam – oder nicht?». Neu ist ein Openair-Aktionskino auf dem Bahnhofplatz Baden: Es nennt sich «Fantoche fährt Velo», das heisst: Besucher zahlen keinen Eintritt, sondern müssen Energie produzieren und strampeln – beispielsweise um den die witzige Tour «Les Triplettes de Belleville» zum Laufen zu bringen.

Making-Ofs, etwa zu «Inside Out», Werkgespräche, Treffs (Branchen-Brunch), Studiopräsentation («Nadasdy Film») und Ausstellungen («Historische Animationsgeräte») runden das breite Animationsfilmangebot ab. Zum Jubiläum wird auch Bundesrat Alain Berset erwartet. Fantoche hat sich prächtig entwickelt – bei einem Jahresbudget von 1,6 Millionen Franken (2015). 50 Prozent des Budgets stammt von der öffentlichen Hand, 30 Prozent von Sponsoren und der Rest wird durch Festivalerträge gedeckt. Die Zuschauerentwicklung ist sehr positiv, so steigerte sich die Bilanz 2012 von 20 893 Besuchern (12 607 bezahlte Eintritte) über 21 026 im Jahr 2013 auf 22 66 im letzten Jahr (13 800 bezahlte Eintritte).
Nach dem Festival geht ein Fantoche-Filmpaket auf Tournee durch die Schweiz: «Best of Fantoche 2015» ab 24. September im RiffRaff, Zürich, im Bourbaki, Luzern, im Stadtkino Basel, ab 25. September im Cinématte Bern usw. weiter nach Brugg, Solothurn, Wettingen, Ilanz und Olten, ins Tessin und die Romandie. Die Ostschweiz wie auch Winterthur sind nicht vertreten.
www.fantoche.ch

 

 

Filmtipps

 

Dior and I

I.I. Als Raf Simons im Frühjahr 2012 zum Creative Director von Dior und somit der Haute Couture ernannt wurde, zweifelten viele an seiner Legimitation, Simons war bekannt als Minimalist, für die Männerkollektionen unter seinem eigenen Namen und als Chef bei Jil Sander. Dass der Belgier seine erste Dior-Schau in nur acht Wochen kreieren musste, war ein zusätzlicher Härtetest. Wie er dem Druck standhielt, erzählt der Dokumentarfilm von Frédéric Tcheng, der Simons mit seinem Filmteam über Wochen hinweg im legendären Modehaus Dior begleiten durfte. Von den Entwürfen des Chefdesigners bis zur Umsetzung durch die professionellen, flinken Schneiderinnen im Atelier, denen das höchste Lob gebührt, erlebt man mit, wie eine Modekollektion entsteht. 65 Jahre zuvor, 1947, gab der Designer Christian Dior, damals 44 Jahre alt, seinen triumphalen Einstand mit seiner «New Look»-Kollektion, nach den Kriegsjahren eine sensationelle Hommage an die Weiblichkeit. Der Weltruhm kam über Nacht, und von Anfang an galt der Name Dior als Synonym für Stil und Eleganz. Dior mied die Öffentlichkeit, doch ein Jahr vor seinem Herztod 1956, veröffentlichte er seine Memoiren. Hat Simons Diors Erbe eingelöst? Wie Christian Dior meidet er die Öffentlichkeit. Umso exquisiter ist dieser Dokfilm, der nicht nur den Couturier in den Vordergrund stellt, sondern das ganze Team, wie die Leiterin des Ateliers Tailleur, Monique Bailly, oder die Stoffdesigner, die abstrakte Bilder des amerikanischen Malers Sterling Ruby für Simons übernehmen. Einer der persönlichsten Momente im Film ist, als Raf Simons Diors Elternhaus in Granville in der Normandie besucht. Er gesteht, dass er mit der Lektüre von Diors Memoiren begonnen habe, aber nicht weiterlesen konnte, weil ihm die Parallelen zu seiner Person zu unheimlich erschienen. Mit Empathie, Geduld und Rücksicht begleitet Tcheng Raf Simons und die Entstehung seiner ersten Haute-Couture-Kollektion 2012.
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Mission Impossible – Rogue Nation
rbr. Tom Cruise gegen alle. Opernaufführungen liegen im Trend – bei Actionfilmen. James Bond machte es 2008 vor in «Quantum of  Solace». Der Schweizer Regisseur Marc Foster schickte den Superagenten durch die Kulissen der Seebühne Bregenz, wo just Giacomo Puccinis «Tosca» aufgeführt wurde. Und nun sorgt der andere Held in geheimer, respektive unmöglicher  Mission, Ethan Hunt (Tom Cruise), hinter und über der Bühne der Wiener Staatsoper für Action. Derweil Puccinis Prinzessin Turandot und ihr Herausforderer ungerührt um Macht und Liebe singen, rauft sich der Impossible-Agent mit bösen Widersachern auf dem Bühnenboden hoch über dem Operngeschehen. Just zur  berühmten Arie «Nessun Dorma» soll der österreichische Bundeskanzler getötet werden. Das ist nur eine der spektakulären Szenen in der fünften Auflage der «Mission Impossible»-Reihe. Das beginnt mit einer waghalsigen Stuntaction auf dem Flügel einer Propmaschine in der Luft, die Tom Cruise himself als Hunt vollführt. Es folgen Folterintermezzi, Verfolgungsjagden mit Motorrädern und Autos in Marokko, Schiess- und Full-Contact-Duellen sowie ein knalliges Finale in London, in das auch der britische Premierminister involviert ist. Wohltuend ist dabei, dass manche Gerangel mit Schiessprügel, Messern und Fäusten wohltuend altmodisch erscheinen, es wird nicht nur geballert, sondern auch mal von Angesicht zu Angesicht gekämpft. Pausenlos ist der IMF-Supermann im Einsatz, um das verbrecherische Syndikat zu knacken und dessen Führer Salomon Lane das atomare Handwerk zu legen.  Erschwerend kommt für ihn hinzu, dass CIA-Direktor Hunley (Alec Baldwin) die Organisation Impossible Mission Force (IMF) aufgelöst und Hunt zum Gejagten erklärt hat. Die alten Kumpane Benji (Simon  Pegg),  Brandt (Jeremy  Renner) und der schwarze Gefährte Luther (Ving Rhames) halten jedoch zu ihm. Ausserdem mischt da eine britische, natürlich attraktive  Agentin namens Ilsa (Rebecca  Ferguson) mit, bei der man freilich nicht genau weiss, ob sie in Diensten des Syndikats steht oder grundlegende Sympathien für Ethan Hunt hegt. Regisseur Christopher McQuarrie hat seine «Mission»-Mission mit Bravour erfüllt – ein witziger, aber auch brutaler Actionreigen mit opulenten Schauplätzen, listigen Bond-Links (etwa mit der Zimmernummer 707) und der Gegenspielerin/Partnerin  Ilsa, die nicht auf die Rolle einer Bettgespielin und  lustvolle Randerscheinung reduziert wird. Das neuste Werk hat den letzten Mission-Streifen «Phantom Protokoll» von 2011, wo der Kreml dran glauben musste, glatt übertroffen. Tom Cruise (53) ist in Bestform als Mission-Man – und als Produzent. Da kann’s nur Folge 6 geben. Die Story  ist Nebensache –  quer wie verquickt, hanebüchen wie heroisch. Bemerkenswert, Mission-Solist Hunt spielt zwar die erste Geige, doch ohne Team und (zwielichtige) Partnerin spielt die Musik nicht.
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Fantastic Four
rbr. Marvels fabelhafte Vier. Marvel Comics boomen im Kino – vom «Antmen» bis zu den sagenhaften «Avengers. Nun wurden auch die «Fantastic Four» neu ins Kinoleben gerufen – verjüngt. Die erste Filmadaption ist zwar bereits 1993 von Roger Corman realisiert worden, doch das Produkt kam nie in die Kinos. Die als bonbonbunte diffamierten Versionen von 2005 und 2007  fanden wenig Gegenliebe. Das könnte mit Josh  Tranks Schaustück «Fantastiv Four» anders werden. Seine Fantastic-Vision beginnt ganz von vorne – mit dem jungen Tüftler «Mister Fantastic» Reed (Milles Teller) und seinem Freund Bill (Jamie Bell, «Billy Elliot»), bewaffnet mit dem bekannten Schweizer Messer. Die beiden fallen zwar mit ihrem Experiment durch, fallen aber auf. Dr. Storm schleust Reead in ein Forschungsprojekt, zu dem dann auch sein Sohn Johnny (Michael B. Jordan), seine Tochter Sue (Kate Mara) und der exzentrische Victor (Toby Bebbell) stossen. Irgendwann klappt’s  mit dem Vorstoss in andere Welten und Dimensionen. Mit schweren «Verlusten», aber neuen enormen Fähigkeiten. Bill mutiert zum Steinmonster mit unglaublichen Kräften, Sue kann sich unsichtbar machen und  Johnny entfach enorme Feuerkräfte. Ihren Kumpan muss Victor, mussten die Drei auf einem fernen Planeten zurücklassen, und Victor wird, mit gigantischen Kräften aufgeladen, zur existenziellen Bedrohung des Planeten Erde. Mit der jungen Schauspielergarde hat sich Regisseur Josh Trank gegenüber dem Comic-Vorbild zwar einige Freiheiten erlaubt, aber eine üppige knallige Verfilmung hingelegt, die eine junge Kinogeneration anspricht. Wer kennt schon Marvels ältestes Comic-Quartett «The Fantastic Four» im Original von 1961?  Die jungen smarten Vier, cool und knackig, dürften das  heutige Popcorn-Publikum erfreuen. Aber auch hier gilt: Zu viert sind wir stärker als alle Mega-Super-Einzelkämpfer! Schöne Aussichten!
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Amy – Ihr Leben. Dokumentarfilm Amy Winehouse
I.I. «Ich will gar nicht berühmt werden», sagte Amy Winehouse einmal. Aber sie wurde es, zu jung, zu berühmt und zu oft von falschen Freunden umgeben, von Drogen und Alkohol. Der berührende Dokfilm von Asif Kapadia fächert ihr kurzes atemloses Leben auf, lässt sie selbst zu Word kommen und dokumentiert den sagenhaften Erfolg der zu jung verstorbenen Soulsängerin und Songschreiberin. Geboren 1983 in London als Tochter eines Taxifahrers und einer Apothekerin, war sie schon mit 14 Jahren sicher, dass sie Sängerin werden würde. Die Stationen ihres Lebens werden mitreissend mit zahlreichen Interviews mit Wegbegleitern und Auftritten an Konzerten dargestellt. Ihr Vater Mitch, abgöttisch von Amy geliebt, verliess die Familie früh, der Kontakt wurde intensiviert, als Amy begann, erfolgreich zu werden. Seine Rolle erscheint zwielichtig, als es Amy zunehmend schlechter ging, vermittelte er sie an Konzerte, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt Ruhe gebraucht hätte. So wurde ein Konzert in Belgrad zu einem Fiasko, das sie nicht antreten konnte, was wiederum eine schlechte Presse nach sich zog. Ihr Alkohol- und Drogenkonsum nach ihrer Scheidung von Blake Fielder, mit dem sie von 2007-2009 verheiratet war, nahm immer bedrohlichere Formen an, an einer Alkoholvergiftung mit 4.1 Promille im Blut starb Amy Winehouse 2001 mit nur 27 Jahren. 2006 erschien ihr erfolgreichstes Album «Back to Black». Winehouse verkaufte mehr als 25 Millionen Tonträger und gewann sechs Grammys. Eine unvergessliche Stimme mit einer aufwühlenden Dokumentation, die der begabten Soulsängerin, die Tony Bennett mit Billie Holliday, Dinah Washington und Ella Fitzgerald verglich, ein Denkmal setzt.

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Ted 2
I.I. Die unterhaltsamen Musikfilme aus den 60ern mit Elvis Presley, allesamt Kassenschlager, wurden mehrheitlich von der Kritik als seicht und kommerziell abgetan. «Let me be your Teddy Bear…», war einer der Hits jener Zeit. Dessen haben sich wohl die Produzenten (Regie: Seth McFarlane) von Ted 2 erinnert, die Kasse machen wollen und einen Plüschbären als Star zum Hauptdarsteller erkoren, der die Herzen erwärmen soll. Ted 2 kommt als Teddybär nun sogar in die Kirche, weil er seine ihn anhimmelnde Freundin Tami-Lynn (Jessica Barth) heiratet. Als die Nachwuchsfrage auftaucht, wird es prekär, denn Ted kann natürlich keine Kinder zeugen und ein Samenspender muss her, sein bester Freund John (Mark Wahlberg) springt für ihn ein. Was für eine Situation, auf die man in Zeiten der Homo-Ehe schielt. Alsbald taucht aber die Frage auf, ob Ted eine Person nach amerikanischem Recht ist. Natürlich nicht, sondern ein Objekt, das man besitzen kann, kein Subjekt, befindet das Gericht, wehrt damit die Klage der Anwältin (Amanda Seyfried) ab und annulliert die Ehe. Erst, als Ted bei einer Verfolgungsjagd seinem Freund John das Leben rettet, werden ihm menschliche Eigenschaften attestiert und er somit als ‚Person’ anerkannt und die Ehe wieder in Kraft gesetzt. Alles, was recht ist, doch was sich Blockbuster-Produzenten einfallen lassen, damit die Kassen klingeln, ist hanebüchen und geht manchen doch gehörig über die Hutschnur.

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Métamorphoses
(rbr) Verwandlungen und Erkundungen. Sie sind berühmt und lesenswert – auch nach über 2000 Jahren: Ovids «Metamorphosen – Die Bücher der Verwandlungen». Seine Epen und Sagen in Versform (Hexameter) sind ein Fundus mythologischer, sagenhafter Geschichten um die Welt, um Götter und Menschen. Man kennt die Geschichte des göttlichen Schwerenöters Jupiter (Zeus), der sich in ein Tier verwandelte, um eine Frau zu erobern und zu verführen. So geschah es Europa, Tochter des phönizischen Königs Agenor. Lüstling Jupiter hatte sich verliebt, verwandelte sich in einen Stier und entführte die angebetete Europa nach Kreta. Dies ist nur eine Geschichte aus den 15 Büchern der Verwandlungen des römischen Dichters Ovid (15 v.Chr. bis 17 n.Chr.). Ovid lebte zurzeit des Kaiser Augustus. Seine Metamorphosen versammelten nicht nur bekannten Helden, Götter und Sagen, sondern boten auch Möglichkeiten, Kritik am Kaiser und der Gesellschaft zu üben. Der Bretone Christophe Honoré pickte sich einige Episoden und Figuren heraus, führte sie zusammen und liess sie in heutiger Zeit agieren. Wir erleben, wie das neugierige Schulmädchen Europa (Amira Akili) direkt vor der Schule vom attraktiven Jupiter (Sébastien Hirel) abgefangen und zu einem Trip verführt wird. Und so streifen die beiden durch Wälder und Auen. Sie begegnen Bacchus (Damien Chapelle) und Bacchantinnen, Juno/Hera, der Gattin Jupiters, oder Diana, der Göttin der Jagd, Orpheus und anderen Helden mehr. Den Bretonen Christophe Honoré, Schriftsteller und Filmer, reizte es, besagte Metamorphosen ins Jetzt und Heute zu transferieren. Das naive Mädchen (Europa), bei dem gewisse Lüste erwachen, lässt sich führen und verführen, erfährt menschliche und göttliche Natur. Eine magische Initiationsreise zwischen Mythos und Wirklichkeit, überwiegend von Laien gespielt. Idyllisch, schelmisch, bisweilen bedrohlich – auch ohne mythologische Kenntnisse ein modernes märchenhaftes Vergnügen.
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Umrika
(rbr) Hoffnung auf Amerika. Ein ärmliches indisches Dorf Mitte der Achtzigerjahre. Man schwärmt von «Umrika» (in Hindi für Amerika). So bricht eines Tages der junge Udai (Prateik Babbar) auf, um im fernen Amerika, sprich USA, sein Glück zu finden. Alle Hoffnungen seiner Familie und besonders seines jüngeren Bruders Ramakant (Suraj Sharma), auch Rama genannt, ruhen auf ihm. Briefe mit Bildern sollen das tolle Leben Udais in den USA dokumentieren. Doch eines Tages bricht der schöne Schein zusammen. Rama kommt dahinter, dass die Briefe gefälscht wurden. Er macht sich auf die Suche nach seinem Bruder, jobbt in der nächst besten Stadt und findet ihn tatsächlich. Udai ist verheiratet, besitzt einen Coiffeurladen und schämt sich, weil er sich nicht gemeldet und es nicht bis Amerika geschafft hat. In Rama wächst der Entschluss, selber nach Amerika auszuwandern. Prashant Nair, Regie und Buch, in Indien geboren, in der Schweiz, Sudan, Syrien, in Österreich aufgewachsen, lebte als Erwachsener in New York, Frankreich und Deutschland. Sein Film «Umrika» entstand in Indien (in Hindi-Sprache). Er wirkt geradezu dokumentarisch und beschreibt den alten Traum vom grossen Glück in den USA, erzählt von Hoffnungsträgern, Wunsch, Wirklichkeit – und einem besseren Leben. «Umrika» ist stimmig, auch wenn er nicht die Problematik aktueller Flüchtlingsströme aufarbeitet. Diese geschönte Liebes- und Tragikomödie ist zwar im Gestern angesiedelt ist und doch sind die Bezüge zu Heute sind allgegenwärtig: Amerika – das hoffnungsvolle Land und Versprechen für eine komfortable Zukunft, auch wenn die Realität unerbittlich ist. Nairs liebenswürdige Sozialvision hat etwas Naives und Märchenhaftes. Man kann den Film gern haben, auch wenn er etwas scheinheilig wirkt.

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Men & Chicken
(rbr) Schrullig, schräg und schäbig. Schon der Titel verheisst Absonderliches. Nein, mit Chicken sind nicht Frauen gemeint, obwohl es auch um die geht, aber nur um Rande als Austrägerinnen. Es leben da zwei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Aber Gabriel (David Dencik) und Elias (Mad Mikkelsen) haben zwei Sachen gemeinsam, Hasenscharten und einen Vater. Doch der beichtet auf dem Totenbett, dass er gar nicht ihr leiblicher Vater sei. Also begeben sich Tunichtgut Elias, der ständig spitz und geil ist, und Evolutionspsychologe Gabriel auf die Suche nach dem Vater und Vaterhaus. Und das finden sie auf einer verlotterten Insel mit 41 Einwohnern. Im schäbigen väterlichen Bauernhaus, in dem es von abartigem Federvieh und anderen Tieren wimmelt, stossen sie auf drei Brüder – potthässlich und ebenfalls mit Hasenscharten behaftet. Und das ist Beginn eines absonderlichen Gerangels und Kleinkrieges. Bis Gabriel tatsächlich auf den Vater aller fünf Kreaturen und die dazugehörenden «Gebärmütter» stösst. – Der Däne Anders Thomas Jensen, Drehbuch und Regie, hat ein schmuddeliges und schrulliges Spiel um Gockel und Hennen, Brüder und animalistische Anverwandte angelegt, das nichts für Ästheten und schwache Nerven ist. Es geht um neurotische Triebe und Fortpflanzung, Gene und Manipulation. Er wollte einen Film über die «Tragödie, die Liebe und die Werte einer Familie» machen, meinte Jensen. Brüder behacken sich und finden sich. Fragen Sie mich nicht, wie und wodurch und warum? Das muss mal selber ansehen – man kann staunen oder sich ekeln, lachen oder lästern. Am Ende ist es egal, wie die Familien aussieht, Hauptsache es gibt eine!
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Southpaw
(rbr) Die Faust im Nacken. Boxerfilme sind ein beliebtes Hollywood-Genre – von «Raging Bull«» mit einem fulminanten Robert de Niro über die bekannte «Rocky»-Reihe und dem grandiosen «Million Dollar Baby» (2004) von und mit Clint Eastwood und Hilary Swank bis zum «Fighter» (2010) mit Mark Wahlberg. Der jüngste existentielle Ringkampf «Southpaw» von Antoine Fuqua ist aber nicht nur ein Film über Aufstieg und Fall und Comeback eines Profiboxers– natürlich! –, sondern auch ein Drama über Verlust und Verzweiflung, väterliche Verantwortung und Liebe. Billy Hope (Jake Gyllenhaal) ist auf der Höhe seiner Boxerkarriere und verteidigte seinen WM-Titel im Halbschwergewicht zum vierten Mal, als seine Frau Maureen (Rachel McAdams) bei einem Festbankett erschossen wird. Für Billy ein schwerer Schlag – schlimmer als ein K.O. Er verliert jeglichen Halt, Vermögen, Besitz und gar seine Tochter. Das Sorgerecht wird ihm genommen. In grösster Verzweiflung wendet sich der gebeutelte Ex-Boxer, dem auch die Boxlizenz entzogen wurde, an den Ex-Boxer und Trainer Tick (Forest Whitaker). Letzte Hoffnung für Hope, und die stirbt bekanntlich zuletzt. Was Regisseur Fuqua, vor allem aber auch Hauptdarsteller Gyllenhaar als Faustkämpfer in Linksauslage (eben Southpaw wie Linkshänder) bieten, ist mehr als sehenswert. Ein packendes, auch blutiges Drama, bin dem es nur einen Sieger geben kann: die Liebe.
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La rançon de la gloire
(rbr) – Der Preis des Ruhms oder Chaplin und eine wahnwitzige Idee. Die haarsträubende Komödie beruht auf einer wahren Begebenheit. Regisseur Xavier Beauvois beschreibt nicht nur urkomische Situationen, sondern fabriziert ein Sozialmärchen und eine Hommage an den grossen Slapstick-Mimen. Eddy (Benoît Poelvoorde) kommt aus dem Knast und findet Unterschlupf beim Kumpel Osman (Roschdy Zem), der seine Tochter Samira (Séli Gmach) allein grossziehen muss. Kaum Geld, keine Perspektiven in einer Zeit, als der grosse Mime Charlie Chaplin stirbt, am 25. Dezember 1977. Bei seinen Begräbnisfeierlichkeiten kommt Schlitzohr Eddy auf die «famose» Idee, sich des berühmten Toten zu bedienen. Genauer: den Sarg auszugraben und von der Chaplin-Familie Lösegeld zu erpressen. Osman zögert, will sauber bleiben, aber die Fürsorge für die Tochter… Eddy klopft ihn weich. Die netten Grabräuber stellen sich als Erpresser freilich recht bieder an, zudem haben sie einen hartgesottenen, kriegserfahrenen Gegner, den Chaplin-Chauffeur Crooker (Peter Coyote). Filmautor und Regisseur Xavier Beauvois erzählt verschmitzt-vergnüglich eine Episode zwischen Sozialtragödie und menschlicher Komödie. Der englische Verleihtitel «The Price of Fame» trifft die ironische Geschichte ziemlich genau, die zugleich aber auch eine Hommage an den grossen Slapstickhelden und Kinomacher Chaplin ist. Mit von der burlesken Partie sind auch Eugéne Chaplin, der fünfte Sohn Chaplins, als Direktor im Circus Nock und Dolores Chaplin, eine Enkelin Chaplins, als Madame Chaplin. Charlie selbst ist dank einiger Filmausschnitte präsent. Ein liebenswürdiges herzhaftes Schelmenstück.
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Selfless
(rbr) Zwei Seelen in einer Brust. Der alte Menschen- und Kinotraum: Wie erreicht man das ewige Leben oder zumindest ein verjüngtes Leben im Alter? Der milliardenschwere krebskranke Unternehmer Damian Hale (Ben Kingsley) sieht seine letzten Tage kommen und eine Möglichkeit, der Schöpfung ein Schnippchen zu schlagen. Eine Organisation empfiehlt ein ultimatives Alternativprogramm etwa nach dem Motto «Shedding», was hier so viel bedeutet wie Abstossen und Erneuern. Dr. Albright (Matthew Goode) verspricht dem Todkranken, dass er in einem jüngeren Körper wieder geboren wird. Tatsächlich gelingt das wissenschaftliche Unternehmen. Der Haken ist nur: Der alte neue Damian (Ryan Reynolds) sieht sich mit einem anderen Ich konfrontiert, dem Soldaten Mark, und der hat Frau und Kind und ist tot. Und Damian sieht aus wie Mark! – Der SF-Thriller «Self/Less», was man auch als selbst-los oder gelöst vom Selbst interpretieren könnte, erweist sich als raffiniertes Vexier- und Vabanquespiel um Identitäten und Macht, Verführung und Verantwortung. Regisseur Tarsem Singh inszeniert diese Vision um Jungsein und Ewigkeit mit gehörigem Thrill, aber auch mit einer fetten Portion Action, die man durchaus hätte reduzieren könnte. Dass er nach fast zwei Filmstunden einer typischen Hollywoodscher Gefühligkeit verfällt und ein schmalziges Ende auftischt, sorgt für Abstriche. Doch sinnig und nachdenklich stimmt sein SF-Drama allemal.
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At Home
(rbr) Stummes Leiden. Sie arbeitet in diesem gutbürgerlichen griechischen Haushalt seit über 15 Jahren. Die gutmütige Haushälterin Nadja (Maria Kallimani) ist für die Hausherrin Evit (Marisha Triantafyllidou) wie eine Schwester und für die Teenager-Tochter Iris wie eine Mutter (Zoi Asimaki). Hausherr Stefanos (Alexandros Logothetis) nimmt das alles wohlwollend hin. Doch als Nadja erkrankt und sich einer MRT (Magnetresonanztomographie) unterziehen muss, ist seine «Geduld» am Ende. Er will Nadja loswerden und kündigt ihr. Stumm, aber innerlich aufgewühlt nimmt Nadja diese Massnahme zur Kenntnis. Sie, der man immer wieder vorgegaukelt hat, sie gehöre zur Familie, die sich in der Villa am Meer zuhause fühlte und schuftete, damit ihre Tochter Katarina mal ein besseres Leben hat, fühlt sich verraten. Da hilft ihr auch besagte Jungstudentin Katarina wenig, im Gegenteil, sie, ein «einnehmendes» Exemplar heutiger Jugend, macht ihrer Mutter Vorwürfe und verlässt die «noble» Landhaus. Das stille Drama «At Home (Sto spiti)» lässt sich durchaus als Parabel für eine materialistische griechische Gesellschaft lesen, in der fast alle nur ihren eigenen Vorteil suchen. Eine Ausnahme ist Nadja, die duldsame Seele, die am Ende auf Lohn und Sicherheit pfeift, ihren Stolz hat und ihren eigenen mütterlichen Weg geht. Athanasios Karanikolas (Buch und Regie) inszeniert diese kleine Tragödie emotionslos, sachlich, cool. Er stellt den Rahmen für die Figuren, die in den Bildausschnitt betreten oder ihn verlassen, sich nähern, sich entfernen. Nur ganz selten folgt die Kamera den Menschen. Karanikolas und Johannes M.Louis (Kamera) entwerfen eine Architektur, die erstarrt, bedienen sich einer strengen Formensprache, die ganz auf den Moment fokussiert ist und so Gemütslagen widerspiegelt. Und so sagt auch die Mimik Nadjas, grossartig unaufdringlich verkörpert durch Maria Kallimani, in ihre Unbeweglichkeit mehr als viele Worte. Diese Frau, die um Anerkennung ringt, bewahrt ihre Würde auch in ökologischen und menschlichen Krisenzeiten. Kino – unaufdringlich, aber eindringlich.

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Taxi Teheran
(rbr) Vielsagende Taxitour. Ein Blick durch die Frontscheibe auf belebte Strassen in Teheran. Stimmen im Wageninneren. Ein Gast streitet sich mit einer Frau. Neue Perspektive: Der streitbare Fahrgast rückt ins Bild, fordert mehr Hinrichtungen, damit «die anderen es kapieren». Die Frau, eine Lehrerin, hält dagegen. Bevor der Mann aussteigt, outet er sich als «Freiberufler», genauer als Strassenräuber. Ein pummeliger Passagier, der den Taxifahrer als Regisseur Jafar Panahi entlarvt, entpuppt sich als Händler von Raubkopien. Er beliefert Studenten mit verbotenen Filmen aus Hollywood, aber auch von Woody Allen, Kurosawa und anderen. Zwei Damen besteigen das Taxi mit einem Goldfisch im Glas. Sie müssen unbedingt bis 12 Uhr an einer Quelle sein, um den Fisch freizulassen – um ein persönliches Unglück abzuwehren. Hanna, die gesprächige Nichte des Fahrers, soll für die Schule einen zeigbaren Film drehen und filmt lustig während der Fahrt drauflos. – Das Taxi als Filmstudio quasi – Menschen steigen ein und aus, sprechen offen über Verbote, ihr Tun, ihr Lassen. Dazu gehört auch eine Frau, die notgedrungen Rosen verkauft, weil sie als Rechtsanwältin Berufsverbot erhielt – wie ja auch der Regisseur, der sowohl Hausarrest als auch Filmverbot umgeht und als (ahnungsloser) Taxifahrer selbst eine überwiegend stumme Hauptrolle spielt. Zweifel und Fragen melden andere an, die kecke Nichte Hanna etwa, die nach der Bedeutung von Schwarzmalerei fragt. So setzt sich Episode um Episode ein Puzzle, das Stimmungsbild eines totalitären Regimes und einer islamischen Gesellschaft zusammen – ohne Action, aufgebauschte Dramatik und expliziter Kritik. Panahis Ausbruch oder Aufbruch, wie man will, wurde an den Filmfestspielen Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Der Taxi-Trip ist ein Schelmenstück – selbstironisch, herzerwärmend, differenziert. Und eine Liebeserklärung ans Kino, ans Leben. Selbst wenn am Ende die Kamera geraubt wird. Panahis Film schaffte es gleichwohl ins Ausland und in unsere Kinos.

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Rider Jack
(rbr). Das Vergessene bleibt unvergessen. «Jack fürchtet die Erinnerung, sein Vater das Vergessen» – so lautet quasi das Motto des Vater-Sohn-Dramas von This Lüscher (Regie und Buch). Fakt ist: Looser Jack (Roeland Wiesnekker) träumt von einem Neuanfang auf Mallorca, eine Beiz aufmachen und so. Fakt ist: Sein Vater Paul (Wolfram Berger) kommt ihm dazwischen. Der hat sich vor zwanzig Jahren oder mehr aus dem Staub gemacht, hat Frau und Sohn hinter sich gelassen. Doch jetzt ist er notgedungen aus Thailand heimgekehrt, ein Sozial- und Alzheimer-Fall geworden. Nun soll Sohn Jack seinen Vater auffangen, der ihm sein Leben «versaut» hat. Jack leidet noch immer an den Folgen eines Verkehrsunfalls und seiner traumatischen Kindheit. Das scheinbar Vergessene ist unvergesslich. Wie sollen «Riding Jack» und «Puncho Paul» – so ihre Namen bei kindlichen Cowboyspielen – sich wiederfinden, sich respektieren und versöhnen? Es ist denn auch nicht die Krankheit, die in Lüschers Beziehungsdrama im Zentrum steht, sondern Verlust und Verletzungen zwischen dem Vater und Sohn, die, von der Vergangenheit belastet, sich der Realität stellen müssen. Roeland Wiesnekker, bekannt verbiestert, und Wolfram Berger, leicht verlottert mit Licht und Schatten, tragen das Roadmovie zwischen Deutschschweiz und Tessin. Es schleppt sich phasenweise etwas öde dahin und gewinnt erst bei den Erkundungen im Centovalli an Substanz. Es wäre unfair, den gut gemeinte Film um Erinnerung und Erneuerung, Vergessen und Vergeben mit Schweigers Kinohit «Honig im Kopf» zu vergleichen. Wer eine Schweizer Version davon erwartet, wird enttäuscht werden. Das ambitionierte Buddy-Unternehmen, tragisch, aber auch humorig, ist ein typisches Schweizer Goodwill-Movie, das behäbig, melancholisch und nett von verpassten Chancen, von Verlusten und Vergeben erzählt – ohne internationalem Kino-Anspruch.
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Star
(rbr) Wunsch und Wirklichkeit. Die Boulevardmedien, aber auch das Fernsehen puscht die Träume junger Menschen, zum Star zu werden. Das Diktat der Schönheit verführt und verdirbt. Die junge Mascha (Tina Dalakischwili), Möchtegernschauspielerin, hat nichts anderes im Kopf, als vermeintliche Makel wie Ohren, Lippen, Beine, Brüste zu «verbessern», um irgendwelchen Idolen gleichzukommen. Dabei trifft die naive Gör auf Kostia (Pawel Tabakow), der sie als tumbe Meerjungfrau in einem Nightclub bewundert und ihr auf ihrem «Schönheitsweg» beisteht. Der Oligarchensohn gibt sich als Strassenjunge aus, der für Mascha vermeintlich auf Raubzug geht. Kostia leugnet seine Luxusherkunft und distanziert sich von seinem Vater, einem stellvertretenden Minister (Andrei Smoliakow). Er krebst aber zurück, wenn es Hart auf Hart kommt. Das Drama «Star» der Russin Anna Melikian ist nicht nur ein Film über die (materiellen) Sehnsüchte einer verführten Jung-Frau, die Halt nur im Äusseren findet, sondern auch über Werte, Zuneigung und Glück, das man nicht erschachern, nicht erzwingen oder kaufen kann. Nicht nur Mascha sucht ihr profanes Glück, sondern auch Boyfriend Kostia, der dem Goldenen Käfig entrinnen will, sowie Rita (Severija  Janushauskaite). Luxusweibchen und Gebär-Geliebte des Oligarchen Sergei. Diese Drei bilden eine Art Solidargemeinschaft, trotzen den Umständen und Ambitionen. Anna Melikian, in Aserbaidschan geboren und in Armenien aufgewachsen, lebt seit 1994 in Moskau. Ihr Spielfilm ist aus verschiedenen Gründen ausserordentlich. Einmal zeigt er Moskau jenseits aller Clichés, düster und glamourhaft, mit Baustellen und modernen Bauten. Andererseits bewegt er sich im Untergrund und in Luxusbereichen. Verbissen, uneinsichtig, ja geradezu zerstörerisch verfolgt Tina ihr Ziel, ein Star zu werden (grossarig Tina Dalakischwili als Mascha). Erstaunlich ist auch die Verwandlung des zickigen Luxusweibchen Rita (fasziniernd Severija Januskaite aus Litauen) in eine mittellose verzweifelte Frau, die zur besten Freundin Maschas wird. «Star» hat wenig mit Startum, aber viel mit falschen Hoffnungen, Zuversicht und Freundschaft zu tun.

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Entourage
(rbr) Parties, Pussies und Promis. Was macht man auf Ibiza? Richtig, Party. Was macht man in Hollywood? Richtig, Filme und Parties. Die geile Schar («E», Drama und Turtle), eben Entourage, um Star und Mädchenschwarm Vincent «Vince» Chase (Adrian Grenier) erpresst vom Obermanager und Studioboss Ari Gold (Jeremy Piven) einen Film in eigener Regie. «Hyde» soll er heissen, eine Neuauflage des Horror-Klassikers «Doctor Jekyll and Mr. Hyde», und ein genialer Riesenerfolg werden. Natürlich gibt’s Budgetüberschreitungen, wir sind ja in Hollywood. Ein Texaner (Billy Bob Thornton) soll abermals Millionen für Filmvollendung locker machen. Aber nur mit meinem Sohn, meint der, und dieser dümmliche Junior will Vince und sein «Hyde»-Produktion madig machen – aus Eifersucht wegen einer gewissen Emily Ratajkowski (herself). – Dieser Kinoklamauk, in dem es bis zum Überdruss um Fuck und Tits geht, basiert auf der HBO-Serie «Entourage» (acht Staffeln 2004 bis 2011) von Doug Ellin. Und der führte bei dieser Popcorn-Party-Persiflage auch Regie. Eigentlich hätte der Stoff (Ruhm, Reichtum, Rücksichtlosigkeit, Eifersucht und Ehrgeiz in Hollywood) genügend für eine deftige Satire abgegeben können, doch zu sehen ist eine wilde abgeschmackte Sause mit durchgeknallten Freunden und viel Prominenz – mit Mark Wahlberg, der selbst als Produzent agiert, Liam Neeson, Warren Buffett, Mike Tyson, Thierry Henry, Pharrell Williams und unzähligen Nasen mehr. Das ist auf Dauer weder witzig noch erhellend noch amüsant. Wenn dann obendrein geschauspielert wird wie im Schultheater, als besonders abschreckendes Beispiel sei der steife Kevin Dillon als Vince-Bruder Johnny «Drama» Chase erwähnt, bleibt einem nur, die Augen zu schliessen vor so viel Schund-Klamotte.
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A la vie
rbr. Sich finden nach verlorener Zeit. Auschwitz im Januar 1945. Die KZ-Insassen werden auf einen Todesmarsch geschickt. Irgendwie überstehen Hélène und Lili die Strapazen. Ihre Freundin Rose mussten sie zurücklassen. Hélène versucht nach der Befreiung in Paris Fuss zu fassen und sucht ihre Gefährtin Lili, die in Amsterdam heimisch geworden ist. Endlich im Sommer 1962 trifft man sich im belgischen Badeort Berck an der Nordsee. Zu Hèlénes Überraschung ist auch die todgeglaubte Rose aus Montreal dabei. Man herzt sich, freut sich und weiss gleichwohl, dass ihre Vergangenheit weiter Schatten wirft und alte Wunden aufreisst. Das Leben geht weiter, aber wie…? Jean-Jacques Zilbermann liess sich von der Geschichte seiner Mutter und ihrer Freundinnen zu dieser wehmütigen, gleichwohl lebensbejahenden Tragikomödie anregen. Es ist ein Spielfilm über Verlust und Vergangenheit, Galgenhumor und Lebenslust mit realem Hintergrund: eine Hommage an die Überlebenden von Auschwitz und anderer Nazi-Vernichtungslager. Besonders Julie Depardieu, Tochter des gewichtigen Mimen Depardieu, imponiert als zarte, unschuldige Schneiderin Hèléne, die unerwartet ihr Glück findet, indem sie sich löst. Aber auch Suzanne Clément als etwas verschlossene, komplexe Rose, deren Wunden nicht verheilt sind, und Johanna Ter Steege als resolute Lili, die sich nicht auf der Nase herumtanzen lässt, spielen ihre Rollen wunderbar. Der Film im Stil der Sechzigerjahre («Twist») hat etwas Betuliches, Behagliches, Liebenswürdiges – trotz dunkler Vergangenheit der Heldinnen. Er ist eine Ode an die Freundschaft und ans Leben.
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Ant-Man
rbr. Power der Winzlinge. Die Reihe der Superhelden aus der Marvel-Küche wird fortgesetzt mit dem Ant-Man. Der Bursche namens Scott Lang (Paul Rudd), der sich vor allem als Meisterdieb hervorgetan hat und deswegen eingesessen ist, wird zum Handlanger des genialen Biochemikers Dr. Hank Pym (Michael Douglas). Scott soll also wieder einbrechen und zwar in den Konzern, den Dr. Pym aufgebaut hat, der ihm aber aus den Händen genommen wurde. Es geht um eine epochale Formel, die von skrupellosen Firmenmanagern missbraucht werden soll. Mit Hilfe von Pyms resoluter wie attraktiver Tochter Hope (Evangeline Lilly) wird Scott zum Ant-Man getrimmt, das heisst: Er kann auf Ameisengrösse schrumpfen (und zurück), kann mit den Hundertschaften emsiger, starken Winzlingen kommunizieren und dringt ins Herz der Pym-Laboratorien vor. – Es dauerte acht Jahre, bis der Marcel-Comic «Ant-Man» filmreif war. Edgar Wright hatte die ersten Drehbücher verfasst und sollte inszenieren. Aber vieles wurde verworfen, und so kam Peyton Reed ins Spiel. Adam McKay und Hauptdarsteller Rudd fabrizierten schliesslich das Drehbuch. Und Reed setzte bei seiner Comic-Adaption nicht nur auf Action im Miniformat und Technofantasien, sondern auch auf Charaktere, intelligente Intermezzi und Humor. So hebt sich «Ant-Man» wohltuend von den Marvel-Actionkrachern à la «Avengers» und dergleichen ab. Netter Seitenhieb: «Avengers»-Heroen wie Captain America tauchen auch hier auf – freilich eher als lächerliche Nebengestalten. Und: Der nächste «Ant-Man» kommt bestimmt.
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Ocho apellidos Vascos (8 Namen für die Liebe)
rbr. Baskisch-andalusischer Gefühlskrieg. Gesuchte, geschürte oder auch gelebte «Feindschaften» zwischen Völkern, Volksstämmen oder auch Städten (siehe Basel – Zürich) bieten immer wieder Stoff für Komödien. Und so kam der spanische Filmer Emilio Martínez-Lazáro auf die nicht abwegige Idee, einen andalusischen Frauenhelden und eine widerborstige Baskerin aufeinander loszulassen. Und das geht dann so: In einer Flamenco-Bar zu Sevilla geraten die heissblütige Baskin Amaia (Clara Lago) und der andalusische Frauenheld Rafael aneinander und ins Bett – ohne Sex. Sie haut nach durchzechter Nacht ab, und der verliebte Rafa folgt ihr ins Baskenland und wird abgewiesen. Doch er kommt wieder ins Spiel, weil sie einen Verlobten/Bräutigam braucht, den ihr Vater Koldo so sehr herbeisehnt. Natürlich muss es ein Baske sein und der verliebte Rafa macht das Doppelspiel mit und verwandelte sich in einen kämpferischen Separatisten. Für Turbulenzen ist gesorgt, erst Recht, als Amor kräftig mitmischt. Die spanische Komödie lebt von «Feindschaften» und Freundschaften, von Liebe. Lust und Lügen. Der deftige Schwank, locker und lustvoll von Emilio Martínez-Lazáro inszeniert, wurde zum Grosserfolg in Spanien mit über elf Millionen Kinobesuchern.
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L’homme qu’on aimait trop
rbr. Tragödie einer wahren Begebenheit. Das finanziell angeschlagene Casino «Le Palais de la Méditerranée» in Nizza ist ihr Werk und Leben: Die Direktorin Renée Le Roux steckt in Schwierigkeiten, erst recht als ihre Tochter Agnès nach gescheiterter Ehe 1976 auftaucht und ihren Anteil cash fordert. Sie verliebt sich in den smarten charmanten Anwalt des Hauses, Maurice Agnelet (Guillaume Canet), der freilich von Madame Le Roux abserviert wurde, und spinnt eine Intrige gegen ihre Mutter. Als dann sie dann ihr Geld hat, verschwindet sie 1977 spurlos – und der undurchsichtige Maurice sahnt ab. 30 Jahre lang versucht Renée Le Roux den vermeintlichen Verführer und Mörder ihrer Tochter zu überführen. – Der Psychothriller, von Altmeister André Téchiné gewieft inszeniert, basiert auf dem Buch «Le Roux – Une femme face à la Mafia» von Renée und Jean-Charls Le Roux, ihrem Sohn. Doch Téchiné interessiert weniger der mafiöse Casinokrieg an der Cote d’Azur in den Siebziger- und Achzigerjahren, als die Intrige und Liebschaften von Maurice und Agnès sowie der Kampf der Mutter um Casino und Aufklärung über das Verschwindens ihrer Tochter. So ist denn sein Film auch ein Drama um Macht und Karriere, Verrat, Leidenschaft und Befreiung (der Tochter), getragen von der Grand Dame des Cinema, Catherine Deneuve als Renée, und vom Jungstar Adéle Haenel als Agnès. Ein Schaustück altmeisterlicher Kinoart. Eindrücklich.
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Anime nere
rbr. Schwarze Seelen. Die einen machen eine fragwürdige, kriminelle Karriere in Mailand wie Brüder Luigi und Rocco. Andere wie der dritte Bruder im Familienclan, Luciano, wird zum «Schwarzen Schaf». Er macht nicht mit, bleibt daheim im ärmlichen Kalabrien als Weinbauer und Ziegenzüchter. Dennoch wird er in einen blutigen Machtkampf gezogen, auch weil sein Sohn Leo eine Welle der Gewalt losbricht, in der die Sippschaft untergeht. Leo bewundert seine Onkel in Mailand, die mit krummen Geschäften auf Erfolgskurs segeln. Mafiosi aus Kalabrien eben, die so genannte «Ndrangheta: Africo». Leo (Giuseppe Fumo) verachtet seinen Vater Luciano (Fabrizio Ferracane). Er nimmt kurzerhand eine Knarre, um bei den Feinden Eindruck zu schinden. Dann haut Heissblut Leo nach Mailand ab, biedert sich den Onkeln Luigi (Marco Leonardi), dem Kraftmeier und Akteur, und Rocco (Peppino Mazzotta), dem Besonnenen und Intellektuellen, an. Leo sucht Anerkennung. Seine als Denkzettel gedachte Ballerei in tiefster kalabrischer Provinz hat Konsequenzen. Luigi soll schlichten,
Francesco Munzis gnadenloser Mafiathriller basiert auf dem Buch «Anime nere» von Gioacchino Criaco und drehte in der Region, in der die Ndranheta beheimatet ist. Munzis Film ist eben auch eine Familiengeschichte. Im Gegensatz zu vielen Mafiafilmen verzichtet Munzi auf Glamour, wilde Action oder tragende Frauenrolle (Frauen sind bei ihm nur trauernde, ohnmächtige Opfer). Ihm geht es um die «armen Seelen», von Traditionen, Umständen und fremden Kräften bestimmt und irrgeleitet. Munzis karges, aber eindringliches Sittenbild im Stile eines Pasolini ist ein Meisterwerk.
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