FRONTPAGE

«Das Leben drehen – Spiegelungen des Lebens»

Von Rolf Breiner

 

Der Vater war ein Schauspieler und bekannter Fernsehregisseur: Joseph «Joschy» Scheidegger hat seinen Kindern einen Berg von Dokumenten hinterlassen – Ordner, Notizen, Tonbänder und Filme. Er hat seine Familie in Bildern festgehalten – aus seiner ihm eigenen Sicht. Die Tochter Eva Vitija (42) hat sich durch das immense Material gekämpft und ein eigenes Porträt geschaffen – über ihren Vater und seine Familien, über seine Befindlichkeiten und die der Betroffenen: «Das Leben drehen – Wie mein Vater versuchte, das Glück festzuhalten».

Die Kamera war sein treuster Gefährte – und (fast) immer dabei. Von der Geburt seiner Tochter Eva (Kaiserschnitt) über Kinderspiele oder Badefreuden bis zum letzten Atemzug, beispielsweise seiner Pflege-Mutter Rosi. Eine Reise nach Amerika wurde für die Tochter Eva eine mittlere Tortur. «Er sah mich und unsere Reise nur durchs Objektiv», erinnert sich Tochter Eva. «Zum Glück war ich nicht das einzige Motiv.» Da gab’s ja auch den älteren Bruder Kaspar und Joschys Frau Claudia. Zum 18. Geburtstag hat Joschy Scheidegger seiner Tochter einen Film geschenkt, mit dem sie dazumal wenig anfangen konnte, ihn gar ablehnte. Jetzt, ein paar Jahrzehnte später, hat sie ihn angenommen und erkannt: «Ich sehe das ‚Best of meiner Kindheit‘ mit anderen Augen, sehe nicht nur Bilder, sondern seinen Blick».

Anfangs stand Eva Vitija dem Filmerbe ablehnend und argwöhnisch gegenüber, wollte sich gegen diesen «mahnenden Zeigefinger ihres Vaters aus dem Grab» wehren. Doch dann wurde sie sich bewusst: «Ich muss diesen Film machen».
«Das Leben und das Glück festhalten» – das war die Obsession des leidenschaftlichen Filmers Scheidegger.

Bei ihm vermischten und durchdrangen sich Leben und Werk, Wunsch und Wirklichkeit. In ihrer filmischen Aufarbeitung trägt die Filmautorin wie beim Zwiebelschälen Schicht um Schicht ihres Vaters und ihrer Familiengeschichte ab, erkennt einen liebenden, aber auch verdrängenden Menschen, der sich allein an seiner subjektiven Wahrheit orientiert und sie dokumentiert. Doch ihre filmische Arbeit begnügt sich nicht nur mit dem Porträt ihres Vaters und seiner teilweise verheimlichten Familienbande, sondern beschreibt auch die Auseinandersetzung seiner Kinder mit ihm, das Auseinanderdriften der Familie, die Emanzipation seiner Frau Claudia und der Filmerin gegenüber ihrem Vater.

 

 

Ihr Vater «Joschy» Scheidegger, leidenschaftlicher Filmer und Dokumentarist professionell und privat, hat Ihnen ein ungewöhnliches Erbe hinterlassen. Wann und warum haben Sie sich nach anfänglichem Zögern entschlossen, aus dem immensen Filmmaterial selber einen Film zu machen?
Eva Vitija: Ausgangspunkt war der Tod meines Vaters 2012. Anfangs war es eine Beschäftigung mit seinem Tod. Er hat mir nicht explizit aufgetragen, seine Hinterlassenschaft auszuwerten. Aber er meinte: Es könnte mich ja mal eines Tages interessieren. Ich habe Geschichte studiert und eben… Er hat ja auch so eine Art Memoiren geschrieben, und diese Texte und Fotos füllten allein 19 Ordner. Das hatte alles einen selbstreflektierenden Charakter, wie es ein Tagebuch hat. Er hat versucht, sein Leben nochmals Revue passieren zu lassen, und hat es aufgeschrieben – im Rückblick.

 

Es gab also Texte und Bilder.
Ja, doch ich konnte zuerst nur die Texte einsehen. Denn ich hatte keinen Super-8-Projektor und musste alle Bilddokumente zuerst digitalisieren lassen, damit ich’s überhaupt anschauen konnte.

 

Welche Zeitspanne umfasst das Bildmaterial?
Es beginnt Anfang der Fünfzigerjahre. Dazu gehören auch die beruflichen Filme meines Vaters. Um das Jahr 2000 hörten seine persönlichen Filme dann auf, sie umfassen also eine Zeitspanne von fünfzig Jahren. Es mögen mehrere 100 Stunden gewesen sein. Es hat Monate gedauert, bis ich mich durchgesehen habe.

 

Wie sind Sie an die Arbeit herangegangen, wie war Ihr Konzept?
Ich habe mich relativ systematisch durchgekämpft, habe Buch geführt und so haben sich die wichtigsten Themen herauskristallisiert. Durch die Recherche hat sich dann ergeben: Was war typisch und entscheidend für meinen Vater, was war für unsere Familiengeschichte wichtig?

 

Wann schälte sich bei der Arbeit heraus, dass nicht nur Ihr Vater im Mittelpunkt steht, sondern auch die betroffenen Familienmitglieder?
Es war relativ schnell klar, dass der Film nicht nur aus Archivmaterial bestehen kann, sondern dass er auch eine Gegenwartsebene haben muss. So ist der Film ja auch mehr eine Familiengeschichte geworden als eine Biographie über meinen Vater.

 

Ihnen war schon bald klar, dass Sie mit diesem sehr privaten Film an die Öffentlichkeit gehen.
Am Anfang dachte ich noch: Ich schreibe ein Buch, doch davon bin ich schnell abgekommen. Ein Film übers Filmen ist natürlich spannender als ein Buch. Zumal es so viel Filmmaterial gab.

 

Wie war denn Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater als Kind, als Jugendliche?
Wir hatten ein gutes Verhältnis, allein das Filmen war ein Konfliktthema. Ich wollte in der Pubertät einfach nicht mehr, dass er immer filmte. Ich war ein bisschen eine Vater-Tochter, und er war immer sehr stolz auf mich.

 

Wie hat sich das Verhältnis mit der Arbeit zu Ihrem Vater entwickelt?
Ich konnte mich intensiv damit beschäftigen, wie mein Vater sein Leben wahrgenommen hat. Ich habe einen tieferen Einblick in sein Leben bekommen, vieles ist verständlicher geworden.

 

Sie haben Ihre Familie – Ihre Mutter Claudia Freund, Bruder Kaspar und Halbbruder Dominique – einbezogen und sie mit vielen Erinnerungen konfrontiert. Wo waren die schwierigen Momente, wie die Bereitschaft und Erfahrungen?
Ich habe von Anfang an versucht, transparent zu sein, wollte niemanden überrumpeln. Die Bereitschaft war unterschiedlich: Meine Mutter hat sehr offen reagiert. Mein Bruder Kaspar war nicht so happy bei meiner Anfrage und hatte keine Lust, nochmals gefilmt zu werden, was ich sehr gut verstehen konnte. Mein Halbbruder Dominique wollte auch nicht mitmachen, hat dann aber auch eingewilligt. Schlussendlich gab es bei allen eine grosse Bereitschaft, sich zu öffnen.

 

War es denn für alle eine Art Befreiung?
Man hat selten die Chance, auf diese Art in die Vergangenheit zurückzuschauen. Für mich war es vielleicht befreiend. Ich konnte meine Perspektive herausschälen.

 

Ihre Mutter hat sich vor dreissig Jahren von ihrem Vater scheiden lassen, war danach ein zweites Mal verheiratet und lebt heute in Santa Fé, New Mexico. Wie hat sie den fertigen Film aufgenommen?
Sie freut sich über den Film, begleitet ihn auch bei gewissen Premieren wie in Solothurn und kann sich mit ihm identifizieren.

 

Heutzutage wird alles dokumentiert – in den Social Media vom Selfie bis zum Facebook etc. Sie haben eine ganze Familiengeschichte öffentlich gemacht. Der Vater, sein Verhältnis zur Familie und die Befindlichkeiten der Protagonisten. Was wollen Sie den Zuschauern mitgeben und vermitteln?
Ich habe mir die Frage gestellt: Ist das in Ordnung, dass ich unser Privatleben öffentlich mache? Aber das Dokumentieren des Privaten ist heute der normale Standard geworden. Damals war mein Vater eine Ausnahme, ein Vorreiter. Heute macht das jeder so mit dem Handy, der Kamera in Facebook und anderswo. Mit dem Unterschied, dass es nicht nur für die Familie bestimmt ist, sondern alles direkt in der Öffentlichkeit landet. Genau das hat mir die Legitimation gegeben, dass ich das mit unserer privaten Familiengeschichte thematisiere: Ich finde es wichtig, dass wir darüber nachdenken, was es mit uns macht, dass wir so viel Privates öffentlich machen. Es kommt mir manchmal auch wie eine kleine Selbstvermarktung vor. Niemand zeigt in Facebook, Instagram oder anderen Social Media negative Dinge. Es werden meist nur die Erfolge dokumentiert. Und das hat eine Auswirkung auf unser Selbstverständnis. Junge Leute haben das sofort verstanden. Es hat sich ja auch viel verändert in den letzten dreissig Jahren: Die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem sind heute fliessend.

 

Wie sieht Ihre persönliche Bilanz aus?
Ich habe erst bei der Arbeit am Film gemerkt: Hallo, ich mache ja genau dasselbe wie mein Vater. Ich versuche, ihn festzuhalten, was sicher auch damit zu tun hat, dass er gestorben war.

 

Ist das Erbe zur Belastung geworden?
Nein, für mich war diese Arbeit ein Gewinn.

 

Was planen Sie filmerisch?
Ich habe Ideen für neue Projekte und recherchiere. Ich kann noch wenig dazu sagen und will weiter dokumentarisch arbeiten. Ich schreibe aber auch weiterhin Drehbücher.

 

 

 

Joseph «Joschy» Scheidegger und Familie

Joseph Scheidegger, 1929 in Zürich geboren. Ausbildung an der Schauspielschule Zürich. Rollenfach: Jugendlicher Liebhaber, Naturbursche und rasender Reporter. Mitwirkung z.B. in «Polizischt Wäckerli» (1955), «Reise der Hoffnung» (1990), «Vollmond» (1998), «Der Vulkan» (1999).
Nachrichtensprecher beim Radio, Hörspielregisseur und Leiter der Hörspielabteilung bei Radio Basel (erstes Stereo-Hörspiel).
Heirat mit 22 Jahren. Scheidung.
Mit 41 Jahren zweite Ehe mit Claudia: Sohn Kaspar und Tochter Eva. Wechsel zum Schweizer Fernsehen als Regisseur: Fernsehspiele. 1979 erster Fernsehfilm an Originalschauplätzen gedreht: «Landflucht» auf ENG. Mehrere Folgen der Serie «Motel». Reportagen und Dokumentarfilme. Künstlerporträt «Man muss lange schauen, um etwas zu sehen» (Regie, Kamera, Ton, Schnitt, 2002).
Trennung von Claudia und zweite Scheidung. Anfang 2012 verstorben.

 

Eva Vitija, 1973 in Basel geboren, jüngste Tochter von Joseph Scheidegger. Studium der Geschichte. Ausbildung zur Drehbuchautorin in Berlin. Diverse Drehbücher für TV und Kino. «Das Leben drehen» (2015), erster langer Film (Drehbuch, Regie) im Rahmen des Masters Dokumentationsfilmrealisation an der ZHdK, Prix de Soleure in Solothurn 2016. Verheiratet, lebt in Winterthur.

 

 

Texanisches Teenagerdrama

Sie stammt aus Texas, und in San Antonio hat Micah Magee (36) auch ihr Teenagerdrama angesiedelt: Die siebzehnjährige Layla steht vor dem Schulabschluss, wird schwanger und lässt gezwungenermassen ihr Studium sausen. Filmerin Magee, die mit ihrem Mann und drei Kindern in Dänemark lebt, beschreibt hautnah und unspektakulär in ihrem Debütfilm «Petting Zoo», wie die junge Frau ihren Weg und sich selbst findet.

In Texas werden überdurchschnittlich viele Teenager schwanger, vor allem wegen fehlender Sexualaufklärung. So ist es auch der Filmerin Micah Magee ergangen. Sie wurde schwanger und hat im fünften Monat ihr Kind verloren, jobbte als Kellnerin, lebte bei ihrer Grossmutter. Magee studierte an der University of Texas in Austin, arbeitet als Privatradio-Aktivistin und Journalistin. Mit dem Film «Petting Zoo» schloss Magee ihr Studium an Deutschen Film- und Fernsehakademie dffb in Berlin ab.
Zweifellos basiert ihr erster Kinofilm auf persönlichen Erfahrungen. So spielt eine Grossmutter eine wichtige Rolle – die Begleitumstände ihres Todes werden auch im Film angedeutet –  wie auch der Schauplatz San Antonio, Texas.

Wir trafen Micah Magee vor der Premiere in Zürich zu einem Gespräch. Sie bestätigte den autobiografischen Hintergrund – von ihrer Kellnerei bis zum «Petting Zoo – Streichelzoo», der ihrem Film den Titel gab. «Die Leute gaben dort Tiere für einige Zeit ab, damit sie gestreichelt wurden. Ich ging oft dort vorbei. Und da gab es ein Lama und einen Eseln, die ineinander verliebt waren und Sex hatten. Diese Szene kommt im Film nicht vor, diese Situation, diese Bild steht für das Gefühl von Gefangensein. Mein Film erzählt vom Steckenbleiben. Viele Coming-of-age-Geschichten erzählen davon, dass man seine Umgebung verlässt. Das jedoch passiert hier nicht. Layla, die Hauptfigur, muss ihre Umgebung, ihre Vergangenheit mit sich tragen».
Nun ist es so, dass die 17jährige Layla, verkörpert durch die Laienschauspielerin (Davon Keller) das Leben locker nimmt, bei ihrem kiffenden Freund Danny herumhängt und als Klassenbeste kurz vor dem Schulabschluss steht. Dann die  Erkenntnis: Layla ist schwanger. Die strenggläubigen Eltern sind gegen eine Abtreibung, die Tochter fügt sich, will das Stipendium für ein Studium sausen lassen. «Eigentlich trifft sie keine Entscheidung», meint die Filmautorin, «aber das ist ja auch eine Entscheidung.» Will oder kann sie sich nicht lösen, aus ihrem Milieu ausbrechen? Magee: «Ich habe in Kritiken oft gelesen, dass sich dieses Mädchen aus dem White-Trash-Milieu befreit. Ich bin nicht der Meinung. So wird das White-Trash-Milieu vereinfacht. Ich glaube auch nicht, dass man seine Heimat verlassen muss, um weiterzukommen. Man muss sich vielmehr von der Wert, der Einschätzung anderer Leute befreien. Wenn das passiert, kann die Umgebung, die Heimat auch eine Stärke sein. Wichtig ist, das alles aus eigener Sicht zu sehen.» Die junge Frau ist unsicher, lässt sich von den Umständen treiben und wird infolge der Umstände gefordert. «Leyla muss zu sich selber stehen und begreifen.» Am Ende bekennt sie sich zum Kind.
Die 36jährige Texanerin Magee stammt aus einem künstlerischem Milieu («wenig Geld, aber viel Kultur»). Beide Elternteile waren Tänzer (Contempary Dance à la Pina Bausch). Magee gewann mit dem Kurzfilm «Heimkommen» 2012 eine Lola (deutscher Filmpreis) gewann, greift auf eigene Erfahrung und beschreibt die Selbstfindung eines Mädchens, das Verantwortung übernimmt. Der schlichte, aber wirklichkeitsnahe Film (ohne Hollywood-Touch) überzeugt, auch weil Magee dicht an den Figuren, vor allem an der Protagonistin, bleibt und mit Laien besetzte. Beim Casting wurden 800 Mädchen getestet, Devon Keller wurde ausgewählt. «Mir war wichtig, dass die Darstellerin weiss, wovon sie spricht und an ihre Figur nicht von aussen herangeht. Sie sollte Laylaiu nicht bewerten und oder Mitleid haben. Das können nur Leute, die aus diesem texanischen Milieu kommen.»
Micah Magee ist mit dem dänischen Regisseur Johan Carlsen verheiratet und hat drei Kinder, 12,8 und anderthalb Jahre alt. Gemeinsam haben sie die Produktionsfirma Makrorama in Berlin gegründet. Er hat «Petting Zoo» produziert, und sie ist Autorin und Produzentin seines nächsten Films «Disaster Doesn’t Matter», eines Roadmovies. Ein Mann ohne Job aus Indiana versucht, seinen Platz in der Welt zu finden. Auch eine Geschichte über Selbstfindung.

 

 

Filmtipps

 

Don’t Blink – Robert Frank
rbr. Chaotisches Bilderpuzzle. Um es vorweg zu sagen: Dieser Dokumentarfilm, konstruiert und kombiniert durch seine Mitarbeiterin und Cutterin Laura Israel ist eine Offerte, ein Geschenk für Freunde und Kenner des Fotografen und Filmemachers Robert Frank. Sein Leben und Werk, sein breites Schaffen, seine Beziehungen, Ambitionen, seine Kreativität, Sprunghaftigkeit und Spontanität versucht Laura Israel in Bildern und Statements einzufangen. Nicht immer schlüssig, nicht immer einleuchtend. So entstand eine Kolportage über den Künstler Frank, 1924 in Zürich geboren, den Fotografen und Filmer, über seinen Schaffensprozess, Stile und Intuition. Frank führt ein rastloses, keineswegs gradliniges Leben, und so passt sich die Dokumentation «Don’t Blink» dem Protagonisten an. Es entstand ein sprunghaftes, teilweise irritierendes, verschachteltes Porträt, das verschiedene Stadien und Werke montiert, verknüpft und überlagert. Wer ein Biopic erwartet, wird enttäuscht. Werk und Leben vermischen sich – chaotisch, kreativ, geballt.
Die aktuelle Ausstellung «Robert Frank – Books and Film 1947-2016» gastiert zurzeit auch in Appenzell, Kunsthalle Ziegelhütte bis 30. Oktober 2016.
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Peggy Guggenheim – Art Addict
rbr. Ein Leben für die Kunst. Sie definierte sich durch Kunst (und Künstler), sie lebte und liebte Kunst. Peggy Guggenheim entdeckte Künstler, förderte Künstler und verband sich mit ihnen, nicht selten auch privat. Die Guggenheim-Tochter – ihr Vater Benjamin ging 1912 mit der Titanic unter – war quasi das schwarze Schaf der Familie. 1898 geboren, konnte sie 1919 als Volljährige ihr (kleines) Erbe des Vaters antreten und fand ihre Berufung. Während ihrer Ausbildung im New Yorker Buchladen «Sunwise Tower» kam sie mit vielen Künstlern und Intellektuellen in Kontakt und beschloss, nach Paris zu ziehen. 1922 heiratete sie den Künstler Laurence Vail, mit dem sie einen Sohn, Sindbad, und eine Tochter, Pegeen, bekam. Nach wenigen Jahren geschieden, wechselte sie die Männer und Künstler, u.a. Samuel Beckett, Max Ernst, Mark Rothko, wie andere ihre Kleider. Im Grunde genommen war sie nur mit der Kunst verheiratet – und einsam. Lisa Immordino Vreeland lässt ihr Leben und Wirken auf faszinierende Art Revue passieren. Basis ihres schillernden Dokumentarfilms bilden wiedergefundene Tondokumente von Interviews, die Jacqueline Bograd Weld 1978 bis 1979 mit ihr geführt hatte, Bilder ihrer Collection, und Statements von Zeitgenossen und Kennern, die der Kunst-Ikone begegnen sind oder die sich mit ihr befasst haben. Kurioserweise liess sich auch Hollywoodstar Robert de Niro, deren Eltern als Künstler bei der Guggenheim ausgestellt hatten, zu einem kleinen Beitrag erweichen. Die Filmerin Vreeland sprach mit ihrer Biografin Weld, Kunsthistorikern und Verwandten, Lisa Philipps, Direktorin des New York Museums, Lindsay Pollock, Herausgeberin von «Art in America», oder dem Schweizer Kunst-Kurator Hans Ulrich Obrist. Ohne Peggy Guggenheim wären manche Künstler, etwa Mark Rothko, nie das geworden, was sie wurden. Ihre Leidenschaft machte sie zu der einflussreichsten Kunstmäzenin und Sammlerin des 20. Jahrhunderts. 1938 eröffnete Peggy Guggenheim ihre Galerie für moderne Kunst in London, 1942 die Gallerie The Art of this Century in New Yorek. 1947 kehrte sie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Europa zurück und liess sich 1949 im Palazzo Venier di Leoni in Venedig nieder. Hier starb sie 1979 und ist sie begraben. Hier ist auch die Sammlung (Salomon R. Guggenheim Foundation) beheimatet. Mit dem facettenreichen, sehr lebendigen und alles andere denn akademischen Dokumentarfilm schuf Lisa Immodino Vreeland ein Porträt über eine einzigartige Frau, die von Unruhe und Neugier, Leidenschaft und Lust für die Kunst getrieben. Einzigartig ist auch, dass ebendiese Kunstmäzene, die das Alter hasste («Ich denke nicht an Vergangenes, sondern an Zukünftiges») und mit ihrer «Schönheit» haderte, selber zu Worte kommt (durch die Tonaufnahmen). Sie war nicht nur eine «seherische», inspirierende Förderin, sondern auch eine Frau, die ihr Leben selber in die Hand nahm – ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verluste – , die sich durch die Kunst definierte und erfüllte.

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Fathers & Daughters
rbr. Verluste. Er hat seine Frau bei einem Unfall verloren, wohl durch eigene Schuld. Bestsellerautor Jake Davis (Russell Crowe) kommt darüber nicht hinweg. Er leidet an manisch-depressiver Psychose und verbringt 1989 sieben Monate in einer psychiatrischen Klinik. Zwangsläufig muss er seine siebenjährige Tochter Katie in die Obhut von Verwandten geben, der Tante Elizabeth (Diane Kruger) und des Onkels William (Bruce Greenwood). Nach dem Klinikaufenthalt versucht er alles, um seiner Tochter ein «sicheres» Zuhause zu bieten, schreibt sich nächtelang die Finger wund, unterstützt von seiner Verlegerin (Jane Fonda). Sein autobiografischer Roman «Väter und Töchter» wird zum Bestseller. 25 Jahre später erleben wir die erwachsene Katie (Amanda Seyfried), Psychologin und Sozialarbeiterin. Beruflich brillant, privat ein Wrack. Sie leidet nach wie vor am Verlust ihrer Mutter und ihres Vaters. Doch dann könnte sich alles ändern, als sie den Jungautor Cameron kennenlernt, ein Fan des Buches «Väter und Töchter». – In dem Beziehungsdrama «Fathers & Daughters» tut sich der römische Regisseur Gabriele Muccino («Exodus: Götter und Könige», «Mission: Impossible II») schwer, das Beziehungsgeflecht plausibel auszulegen. Die Zeitsprünge verwirren. Wann landete Jake Davis eigentlich seinen Bestseller? Russell Crowe gibt sich alle Mühe als gequälter Vater und Schreiberling, und doch lässt einen die Tragödie über Trauer und Verlust, elterliche Liebe und Altlasten seltsam unberührt. Die grossen Gefühle, welche das Drama anpeilt, bleiben oberflächlich.
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A Bigger Splash

I.I. Ein Bild des britischen Künstlers David Hockney «A Bigger Splash» mit  einem wasseraufspritzenden hellblauen Swimmingpool diente schon als Inspirationsquelle des knisternden Beziehungsthrillers «La piscine» (1969) mit Alain Delon und Romy Schneider, mit Delon von 1958-1964 liiert. Das Remake knüpft an die erotische Atmosphäre des Kultfilms an, Regisseur Luca Guadagnino verlegte den Drehort von Ramatuelle bei Saint Tropez auf die herbe Mittelmeerinsel Pantelleria. Die sonnendurchflutete, karstige Landschaft der Insel mit aktuellen Flüchtlingsbildern sind denn auch das prägende Merkmal neben Dolce Vita-Szenerien mit den Sehnsüchten und Neurosen der Protagonisten. Nach einer Stimmband-Operation will sich der Rockstar Marianne (Tilda Swinton) mit ihrem jungen Lover, dem Filmemacher Paul (Matthias Schoenaerts) auf Pantelleria erholen. Mit dem überdrehten Plattenmanager Harry (Ralph Fiennes), mit dem Marianne einst zusammen war, und dessen Tochter Penelope (Dakota Johnson), die sich als plötzliche Gäste aufdrängen, ist die friedliche Zeit vorbei. Mit Filmbeau Alain Delon kann es der 1977 geborene Matthias Schoenaerts nicht aufnehmen und wer den Film mit seinem Original vergleicht, wird enttäuscht. Leider macht auch eine hochkarätige Besetzung noch keinen guten Film. «A Bigger Splash» plätschert mit uninspirierten Dialogen vor sich hin, der Plot der Psychospielchen ist nach zehn Minuten durchschaut. Alle haben irgendwie was miteinander, zum Schluss stirbt jemand und who cares. Die sonst so wundervolle, agile  Tilda Swinton ist in diesem Film nicht wiederzuerkennen. Das liegt nicht nur daran, dass sie ohne Stimme agieren muss, sondern dass die laue Atmosphäre nicht auf Touren kommt.  Schade, manches Remake sollte man einfach nicht machen. Ralph Fiennes geht einem bloss auf die Nerven und Dakota Johnson langweilt.
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The Nice Guys
rbr. Ein Knochenbrecher und ein Schnüffler. Das kennt man ja leidlich aus der Body-Reihe «Leather Weapon» (in den Achtziger- und Neunzigerjahren mit Mel Gibson und Danny Glover als Cop-Partner in Los Angeles). Dazumal schrieb Shane Black die Drehbücher, nun versucht er als Regisseur/Autor das Erfolgsgenre zu beleben und lässt zwei kernige Kerle (natürlich mit einigen Schwachstellen) auf L.A. und Detroit los. Jackson Healy (Russell Crowe) ist eher der Typ Knochenbrecher, Holland March (Ryan Gosling) der fahrige Schnüffler. Beide kommen sich in die Quere auf der Suche nach der Nichte einer alten Frau. Dabei macht der smarte, aber alkoholfreudige Holland spürbar Bekanntschaft mit Jacksons hemdsärmelige Methode und schlägt sich fortan mit einem gebrochenen Arm herum. Das hindert die beiden aber nicht, für Action zu sorgen und einigen Leute auf den Pelz von der Porno- bis zur Autoindustrie zu rücken. Mit von der Detektivpartie ist des Schnüffles kecke Tochter Holly (Angourie Rice). Die ganze Krimifarce ist Ende der Siebziger angesiedelt, und so bietet sich ausgiebig Gelegenheit, sich entsprechend modisch und musikalisch auszustatten. Obendrein gibt’s einen Action-Abstecher nach Detroit, als dort wirklich noch die Auto-Post abging. Auch wenn nicht alles schlüssig und kriminalistisch sauber abgeht, für flotte Sprüche, Seitenhiebe, Gewalt und Brutalität ist weidlich gesorgt. Und überhaupt, man soll ja nicht alles so ernst nehmen, denn die «Nice Guys», die gar nicht so «nice» sind, hauen, prügeln, schiessen und hangeln ja in einer Actionkomödie. Und das ganz passabel. Fortsetzung folgt.
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Zen For Nothing
rbr. Einkehr auf Zeit. Es ist immer so eine Sache, wenn man sich auf einen Meditationstrip begibt, und die Kamera zum Begleiter, quasi zum Spiegelbild wird. Man kann sich als Zuschauer darauf einlassen, vielleicht gar animieren lassen oder schlicht als stiller Beobachter sinnieren. Die Berner Schauspielerin Sabine Timoteo («Sommervögel», «Driften») hat eine Auszeit für ein paar Monate genommen – als Zen-Novizin im Kloster Antaiji an der japanischen Westküste. Eine Einkehr auf Zeit. Andere Riten, Regeln, Ziele bestimmen den Alltag, das Leben in Bescheidenheit und Abgeschiedenheit. Keine philosophische Bekehrungsreise, kein elitärer Exkurs,  kein esoterischer Trip – ein ungeschminktes Leben, ein in sich ruhender Rhythmus. Zeit zur Besinnung, zur Einsicht in sich selbst – vielleicht. Alles das deutet der Dokumentarfilm von Werner Penzel an, fast impressionistisch, nah und doch unnahbar. Am Ende fragt man sich: Hat es sich gelohnt – für die Protagonistin, was nimmt sie mit, was andere? Eine Auszeit für nichts, wie der Titel und Zenmeister Sawaki (1880-1965) suggerieren? Der Film bleibt Fragment wie Timoteoas Abstecher in eine entlärmte, entschleunigte Welt.
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The Assassin
rbr. Killerin mit Schwert. Sie wurde in einem Kloster gross gezogen und als Killerin ausgebildet, die den Schwertkampf perfekt beherrscht. Nie Yinniang wird in ihre Heimat geschickt, um den amtierenden Gouverneur Tian Jian zu töten. Wir befinden uns im China des 9.Jahrhunderts. Doch das «Opfer» ist kein Fremder, sie wollten einst heiraten, doch politische Machenschaften haben dies verhindert. Eine Ausgangslage, die nur tragisch enden kann oder…? Man muss sehr aufmerksam sein, um die Irrungen und Wendungen, die zeitliche Sprünge und Ableger, Beziehungen und Verflechtungen einzuordnen. Das kann hilfreich sein, ist aber nicht zwingend notwendig im melodramatische Actiondrama von Hou Hsiao-Hsien aus Taiwan. Es hat ein viertel Jahrhundert gedauert, bis er endlich sein Epos (105 Minuten) über Ehre, Eigenverantwortung und Berufskodex, Zuneigung und Zerstörung realisieren konnte. Man sollte keine Schlachtenbilder, martialische Kämpfe oder Actionfuriosa à la «Crouching Tiger Hidden Dragon» (von Ang Lee) erwarten. Zu sehen ist ein Reigen von Bildertableaux (Kamera: Mark Lee), eine Palette wunderbar komponierter Szenen und Ausschnitte, sorgsam choreografierter Einzelkampfszenen und Naturbilder, die mit dem Geschehen verwoben werden. Die verschlungenen Erzählstränge, die verschachtelten Episoden und historisch gesellschaftlichen Hintergründe bleiben Zeichen und erklären sich selten. «The Assassin» zählt zum Genre der Wuxia-Filme, also Filmen mit Schwertkämpfen und «fahrenden Rittern», oft mit phantastischen Elementen angereichert. Sie unterscheiden sich stark von den so genannten Martials-Arts-Movies. «The Assassin» ist ein ausserordentliches, durchaus romantisches Schaustück: Kino höchster visueller Vollendung und Poesie.
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Money Monster

rbr. Abgezockt. Es ist ihre siebte Filmregie, Folgen für die TV-Serien «Orange ist the New Black» und «House of Cards» inbegriffen. Hollywoodstar Jodie Foster («Panic Room», «Inside Man», «The Beaver») hat sich den Machenschaften eines Börsenzockers, der Arroganz eines aalglatten TV-Moderators und der Rache eines betrogenen Aktienopfers angenommen. Rache ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber: Der rechtschaffene Familienvater Kyle Budwell (Jack O’Connell) ist verzweifelt, er hatte den Anpreisungen des TV-Stars Lee Gates (George Clooney) vertraut und 60 000 US-Dollars in IBIS-Aktien investiert. Er hat alles verloren. Dieses unbescholtene Opfer dringt bewaffnet ins Fernsehstudio ein und platzt in die Wirtschaftssendung «Money Monster», die der arrogante Showman und Börsenguru Gates zelebriert. Eine Fernsehshow über Börse, Aktien und Kurse hat Unterhaltungswert. Sarkastisch, eitel und vor allem verführerisch gibt der von sich eingenommene Moderator heisse Tipps für Laien-Anleger preis. Eben diesem «Marktschreier» rückt der betrogene Kyle auf die Pelle, im wahrsten Sinn des Wortes. Er drapiert den perplexen TV-Star mit einem Bombengürtel. Und Schleimer Lee droht, die Nerven zu verlieren. Allein die Studioregisseurin Patty (Julia Roberts) bleibt cool. Die grosse «Kavallerie» des New Yorker PD rückt an, umstellt das Gebäude, platziert Scharfschützen. Nein, Störenfried Kyle will kein Geld zurück, sondern nur Antworten auf seine Fragen an den IBIS-Ceo Walt Camby (Dominic West): Wo ist sein Investitionskapital über 60 000 Dollar, wo sind die 800 Millionen geblieben, die IBIS offensichtlich in den Sand gesetzt hat? Cambly ist irgendwo zwischen Genf und Südafrika unterwegs. Als Sprachrohr muss die IBIS-Presseleiterin Diane Lester (Caitriona Balfe) dienen. Wie sich dieses Kammerspiel mit Aussenrahmen (Polizei, Börse, IBIS-Firmengebäude und mehr) spannend bis zum letzten Showdown entwickelt und bei Spannung hält, hat Klasse. Jodies Foster hat sozusagen einen Money-Panic-Room vor laufende Kameras installiert. Clooney, der alles andere denn eine sympathische Figur spielt, hält die Waage zwischen Grossmaul, Angsthase und geläutertem TV-Star. Julia Roberts hat man lange nicht mehr so kühl, überlegt und überzeugend gesehen wie hier als Fernsehdirigentin, die Clooney/Lee quasi an der langen TV-Leine hält. Ein fesselnder Money-Thriller, der den Finanz- und Börsenzockern böse an den Karren fährt, obgleich einiges unwahrscheinlich scheint. Mit gutem Willen kann man über die üblichen amerikanischen Übertreibung und Showeffekte hinwegsehen (Aufmarsch der Polizeiarmada, Marsch durch New Yorks Börsenviertel mitsamt Medien und Zuschauermeute etc.). Wie wär’s denn mal mit einem Banken- und Börsenthriller um den Zürcher Paradeplatz mit CS- oder UBS-Platzhirschen oder so?
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Tomorrow
rbr. Düstere Aussichten, aber…. Gemäss der Studie Studie «Approching a state shift in Earth’s biosphere» (2012) der Wissenschaftler Anthony Barnosky und Elizabeth Hadly von der US-Universitäten Stanford beziehungsweise Universität Berkeley dürfte unser Ökosystem spätestens gegen Endes dieses Jahrhunderts zusammenbrechen. Zu den elementaren Ursachen gehören beschleunigter Rückgang der Artenvielfalt, wachsende Häufigkeit klimatischer Extremereignisse, rapide Veränderungen der Produktionsabläufe und des Energieverbrauchs. Der Dokumentarfilm der Schauspielerin Mélanie Laurent («Inglourios Basterds») und des französischen Aktivisten Cyril Dion zeigt ökologische, wirtschaftliche, auch demokratische Neuansätze, Lösungen und Ideen. Die Filmer wollten die Studie nicht als fixe Bedrohung und Damoklesschwert im Raum stehen lassen und haben sich auf Entdeckungsreise begeben. Sie sind den Kernfragen und -problemen auf den Leib gerückt, sprich auf den Grund gegangen: der Landwirtschaft, der Energie, der Wirtschaft, der Demokratie und Bildung. Die ehemalige Anwältin und der abgemusterte Seemann, Perrine und Charles Hervé-Gruyer, betreiben die Gemüsefarm Bec Hellouin in der Normandie, basierend auf der Permakultur. Das Konzept vertraut auf dauerhaft funktionierende, nachhaltige Kreisläufe, die der Natur quasi freien Lauf lässt, also ohne Öl und Pestizide, Düngemittel und motorisierten Hilfskräfte auskommt. Ein frappantes, erfolgreiches Beispiel im Bereich Landwirtschaft. Und so reiht sich Beispiel an Beispiel für umweltbewusste zukunftsträchtige Lösungen. Das geht von Energiesparmassnahmen und Energieeffizienz – beispielsweise 100prozentiges Abfallrecycling in San Francisco oder Entlastung des Strassenverkehrs durch Veloförderung in Kopenhagen – bis Bildung ohne Test- und Zeugnisdruck in Finnland. Man staunt, welche Alternativen nicht nur angedacht werden, sondern bereits realisiert wurden. Das ist nur eine der Stärken dieses in mehrfacher Hinsicht erhellenden Dokumentarfilms. Er belehrt nicht, sondern informiert und animiert mitzumachen. Die Quintessenz aller Recherchen heisst Gemeinsamkeit. Um der Probleme weltweit Herr zu werden, muss das Zusammenspiel globaler Kräfte und Lösungen vorangetrieben werden – über alles System, Grenzen und politischen Ausrichtungen hinaus. In der Romandie wurde «Tomorrow» zum erfolgreichsten Dokumentarfilm nach «Microcosmos» und gewann in Frankreich einen César. Ein Muss für Lehrer, Schüler und alle umweltbewussten Menschen.
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Alice in Wonderland – Through the Looking Glass
rbr. Kampf mit der Zeit und um die Zeit. Es ist sechs Jahre her, dass Tim Burton die märchenhafte Alice ins Wunderland schickte. Nun soll sie’s abermals richten (unter der Regie von James Bobin). Die Freunde im phantastischen Wunderland warten bereits ungeduldig auf das Menschenkind, denn Mad Hatter, der Hitmacher (Johnny Depp), ist in tiefe Depression verfallen. Seine Familie ist ihm abhandengekommen. Auch andere haben die richtige Zeit verpasst, etwa Prinzessin Mirana (Anne Hathaway), die ihre Schwester Iracebeth (Helena Bonham Carter) einst verleugnet hatte. Also versucht Alice (Mia Wasikowska – sie verkörperte Alice schon bei Burtons Verfilmung), der Zeit Herr zu werden. Sie dringt zum Herrn der Zeit (Sacha Baron Cohen) vor, um mit oder durch die Chronosphäre am Rad der Zeit zu drehen, was natürlich zu verhindern ist. So ergeben sich manche kurrligen Actionszenen, Duelle (etwa zwischen den Schwestern) und absonderlichen Eskapaden. Die Vorlage der des Autors Lewis Carroll («Alice hinter den Spiegeln») diente dabei nur als Vorwand für ein buntes burleskes 3D-Spektakel, wo es mehr auf Effekte, denn auf die (verquickte) leidliche Gefühlsstory ankommt. Am Ende steht die Zeit für einen Moment still, damit Versöhnung und Familienzusammenführung funktionieren. Eine schillernde Reise (vor allem fürs Auge) hinter die Spiegel, mit der Kinder wohl ihre liebe Mühe haben, wenn sie vom Bildersturm überrollt werden.
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Petting Zoo – Streichelzoo
rbr. Selbstfindung eines schwangeren Teenagers. Sie stammt aus Texas, und in San Antonio hat Micah Magee auch ihr jugendliches Drama angesiedelt. Die siebzehnjährige Layla (Devon Keller) geniesst die Zeit, bevor es dann ernst werden soll am College. Sie hängt mit dem Looser Danny (Kiowa Tucker) und ihrer Freundin Melanie (Deztany Gonzales) herum, macht Party. Nur dumm, dass der Teenager schwanger wird – und auf Druck der Familie von einer Abtreibung absieht. Sie ist zuversichtlich, auch so ihre Zukunft in den Griff zu bekommen. Studieren kann man ja immer noch oder…! Ihr neuer Freund Aaron (Austin Reed) nimmt das Leben etwas ernsthafter und unterstützt sie, bis…Die 36jährige Texanerin Magree, die mit dem Kurzfilm «Heimkommen» 2012 eine Lola (deutscher Filmpreis) gewann, greift auf eigene Erfahrung als schwangerer Teenager zurück und beschreibt die Selbstfindung eines Mädchens, das Verantwortung übernimmt und seinen Weg sucht. Der schlichte, aber wirklichkeitsnahe Film (ohne Hollywood-Touch) überzeugt, auch weil Magee dicht an den Figuren, vor allem an der Protagonistin, bleibt und ihren Film mehrheitlich mit Laien besetzte. Wie Layla rasseln laut Autorin viele Mädchen in Texas in das Dilemma einer Schwangerschaft, weil dort ungenügend aufgeklärt wird. Solch eine tragische Situation hat Magee, selbst dreifache Mutter, zum Thema gemacht. Was es mit dem etwas queren Titel «Petting Zoo» können Sie in unserem Interview mit Micah Magee nachlesen.
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The Jungle Book – Das Dschungelbuch
rbr. Gefährliche Befreiung. Der Trend von Neuverfilmungen berühmter Kinderbüchersetzt erlebt mit «The Jungle Book – Das Dschungelbuch» einen neuen Erfolgshöhepunkt. Walt Disneys Trickfilmklassiker aus dem Jahr 1967 hat nun – nach etlichen Nachahmungen und Realverfilmungen –  ein würdiges Pendant gefunden. Im Gegensatz zur niedlichen Trickfilmversion unter Walter Reithermans Regie entwirft die jüngste Visualisierung des «Dschungelbuchs» nach Rudyard Kipling ein dramatisch bedrohliches Bild. Die Pfadi-Romantik von einst ist einer grausamen Überlebenswirklichkeit gewichen. Regisseur John Favreau zeigt zwar Moglis wölfische Ziehfamilie als solidarische Zweckgemeinschaft, den wegweisenden Panther Baghira als Helden und Schmusebären Balu als kämpferischen Kumpan, aber auch Tiger Shir Khan als rachsüchtigen Teufel, die Schlange Kaa als verschlagene Kreatur und den Affenkönig Louis als Monster. Menschlein Mogli, verkörpert von Neel Sethi (der einzige Real-Darsteller), will sich durch den Dschungel zu den Menschen durchschlagen, um seine Wolfs-Gefährten nicht zu gefährden. Am Ende weiss der kleine «Tarzan», wohin er gehört. Moglis Menschwerdung wird dabei zum rasanten Actionabenteuer, brillant im 3-D-Format umgesetzt, ein technischer Kraft der Sonderklasse. Die Gefährten und Gegner werden dabei von markanten Stimmen getragen: Ben Becker (Original: Idris Elba) als Tiger Khan, Heike Makatsch (Lupita Nyong’o) als Wolfsmutter Rakscha, Joachim Krol (Ben Kingsley) als Panther Baghira, Armin Rohde (Bill Murray) als Balu, Jessica Schwarz (Scarlett Johansson) als Schlange Kaa oder Christian Berkel (Christopher Walker) als Affenkönig Louie. Das neue «Dschungelbuch» ist aktionsgeladene Fantasy, die jüngste Kinobesucher erschrecken könnte. Immerhin werden bei diesem verblüffenden Animationsfilm mit Realfilmsequenzen auch bekannte Töne angestimmt, beispielsweise der Stimmungsmacher «Probier’s mal mit Gemütlichkeit» (The Bare Necessities).
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Voyage en Chine

rbr. Eine Reise zum Sohn und zu sich selbst. Sie lebte ein Leben, unauffällig, auch unerfüllt. Liliane, Krankenschwester um die 50 und Mutter, wird aus ihrer ehelichen Lethargie geweckt, als sie und ihr Mann erfahren, dass ihr Sohn in China tödlich verunglückt ist. Liliane ergreift die Initiative und reist von Frankreich nach China, in die Provinz Szechuan. Ihre Begegnung mit einem fremden Land, mit Freunden, Bekannten und Spuren ihres Sohnes wirft sie auf sich selbst und ihr Leben zurück. Sie erfährt, wie ihr Sohne lebte, von dem sie keine Ahnung hatte, lernt seine Freundin kennen, die sich von ihm trennte, und vor allem eine Welt, in der sie mehr und mehr heimisch wird. Yolande Moreau verkörpert unprätentiös und innig diese Frau, die über den Verlust zu ihrem Sohn und sich selbst findet. Man nimmt ihr jeden mühsamen Schritt, jedes Staunen, Teilnehmen und Annehmen ab. Zoltan Mayers intime Chinareise ist ein stiller, aber vielsagender Film. Er überzeugt durch Aussparungen und bildstarke Momente (Kamera: Georges Lechaptois), vor allem durch seine Innigkeit und Verständnis, eben auch für Fremdes. Sein sensibler Film beschreibt eine Sinnsuche, gleichzeitig eine Annäherung zwischen Jung und Alt, Leere und Erfüllung verlorenen und lebender Seelen. Anders gesagt: Mayers Filmpoem ist auch geprägt vom Taoismus, der philosophisch-spirituellen Betrachtung mit dem Ziel, sich vom Alten zu lösen, sich zu verändern, sich mit dem eigenen Ich und der Umwelt zu verbinden und zu begreifen.
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A Hologram For the King

rbr. Warten auf den König. Eine neue, vielleicht die letzte Chance, seinem Leben einen Sinn zu geben und endlich einen erfolgreichen Abschluss zu tätigen. Bankkrisenopfer Alan Clay (Tom Hanks), Mitte 50, soll dem König von Saudi-Arabien ein Hologramm-Projekt zwecks genialer Kommunikation verkaufen, also eine Art Geister-Treff nach bester Hollywood-Manier. Biedermann Clay landet in der Wüste und steht dort wirklich in der Wüste, das heisst, Mitarbeiter dösen im Wüstenzelt und warten wie Clay auf den König, der sich aber nicht blicken lässt. Es dauert Tage, bis dieser einen Verantwortlichen ausfindig machen kann. Der Ami mit dem Hologramm-Auftrag wähnt sich irgendwie in einer Fata Morgana  – gefangen zwischen Tradition und Moderne, Stillstand und Aufbruch, Wirklichkeit und Vision. Da vermag ihn die aparte arabische Ärztin Zahra (Sarita Choudhury) zwar kurzfristig von einem prallen Mitesser (Beule) heilen und trösten, aber als er sich am Ziel seines Auftrags glaubt, funken andere dazwischen. Nach «Cloud Atlas» setzen Regisseur Tom Tykwer (Regie) und Tom Hanks ihre Zusammenarbeit bemerkenswert fort. Tykwers Sozial-und Kulturkomödie hat zeitweise Witz – auch dank der Zweckgemeinschaft des ahnungslosen Clay mit seinem hilfreichen Fahrers Yousef (Alexander Black). Doch insgesamt pendelt der Film arg zwischen Kulturschock und Sozialdrama, Selbstfindungstrip und Liebesgeschichte. Wirklich Biss hat dieser Trip in die arabische Welt nicht. Am Ende dreht sich die Business-Farce doch nur um einen leutseligen und naiven Geschäftsmann, der in der Wüste dürstet, aber nicht verdurstet.
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Wild

rbr. Verwildert. Der Wolf gilt als wildes, ungezähmtes Wesen, ein Mythos in Sagen und Märchen. Er geistert durch zahllose Sagen, erinnert ans Wolfsrudel, das Mogli im «Dschungelbuch» grosszieht, oder an den Werwolf, der Inkarnation einer tragischen Verwandlung in Horrorgeschichten. Bis heute spiegeln sich im Wolf zwiespältige Gefühle und Ängste der Menschen. Einerseits bewundert man ihn wegen seiner Ungebundenheit und Stärke, andererseits fürchtet man seinen Raubtiercharakter. – Ein Wolf streunt durch einen Park in Halle an der Saale. Auf ihrem Arbeitsweg begegnet ihm Ania (Lilith Stangenberg) – und ist fasziniert. Die junge Frau lässt diese Begegnung nicht mehr los. Sie pirscht ihm nach, versucht ihn zu locken. Tatsächlich kann sie ihn betäuben und in ihre Plattenbauwohnung schaffen. Ania gewinnt das Vertrauen des Wolfes und verwildert mit ihm. Für ihren jüngsten Spielfilm «Wild» hat sich Nicolette Krebitz eine radikale Geschichte ausgedacht und realisiert. Eine Frau, unaufdringlich, aber intensiv gespielt von Lilith Stangenberg, verliebt sich in einen Wolf, wird zur Jägerin und Wölfin. Ihre Hingabe in das wilde Tier und die gewonnene Zuneigung des gefangenen Wolfes münden in einem Akt der Befreiung und Selbstfindung. Diese Entwicklung erzählt Krebitz mit grosser Sensibilität – ohne reisserische Ambitionen. Sie habe einen Film über die menschliche Natur machen wollen, sagt die Autorin. Das ist ihr beeindruckend gelungen. «Wild» ist eine Parabel auf unsere Zivilisation, auch über unser Verhältnis zur Natur, über Hoffnungen und Selbstfindung.
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Heavenly Nomadic
rbr. Dem Himmel so nah. Immer wieder gelangen Filme aus höchst entlegenen Landschichten und Ländern in unsere Kinos – dank des engagierten Trigon Filmverleihs – die einfache, aber bedeutenden, zeitlose Geschichten erzählen. Eine winzige Nomadenfamilie im kirgisischen Hochland: Der alte Hirte und seine Frau, Schwiegertochter und deren heranwachsende Tochter. Die alleinerziehende Mutter Schaiyr (Taalaikan Abasowa) – ihr Mann ist im nahen Fluss ertrunken – wird unterstützt vom Patron Tabyldy (Tabyldy Aktanow). Die siebenjährige Umsunai wächst wohlbehütet und frei auf. Sie vermisst ihren Papa und lässt sich von den Erzählungen ihres Grossvaters Tabyldy trösten, der zum Himmel und einen Adler weist, der dort manchmal kreist – als wär’s der Vater. Die kleine Gemeinschaft zieht Pferde gross und genügt sich selbst. Schaiyr, nicht selten von ihrer Schwiegermutter beargwöhnt, liebt die Natur, ihre unmittelbare Heimat und leidet gleichwohl darunter, diese Gemeinschaft nicht zu verlassen, wie es ihr Bruder tat, der in einer Stadt studiert und ein paar Wochen zu Besuch kommt. Jermek, der benachbarte Meteorologe, macht ihr die Offerte, sich mit ihrer Tochter in die Stadt zunehmen und eine neue Existenz zu bieten. – Regisseur Mirlan Abdykalykow bleibt mit seinem Debütfilm dicht an den Menschen und der (noch) unberührten Landschaft. Er erzählt von alter Lebensweise und Überlieferungen, dem Einbruch der Moderne und Gefahren von aussen, Familienbindung und unausgesprochenen Gefühlen, schwindenden Traditionen und Nomaden, die an Boden und Existenz verlieren. Ein stilles Drama aus Kirgisistan in berückenden Bildern und Juwel unter all den lärmenden Action- und Unterhaltungsvehikeln im Kino.
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Les amantes de Caracas

rbr. Perfides Beziehungsgeflecht. Schauplatz Caracas, Venezuela. Armando (Alfredo Castro), ein Mann im reifen Alter, beobachtet junge Männer, sucht Kontakt, bietet Geld. Er nimmt sie mit sich nach Hause, diktiert, lässt sie T-Shirt und Hose ausziehen. Mehr nicht. Was will er? Er stösst auf Elder (Luis Silva), einen zügellosen Strassenburschen, der Geld braucht, mitgeht und seinen «Freier» ausraubt. Und der erträgt’s – stumm, schier regungslos. Elder ist gleichwohl irgendwie fasziniert von dem Protegé, sucht Kontakt, seine Nähe. Aber Armando hat anderes im Sinn, hat einen perfiden Plan. – Lorenzo Vigas beschreibt ein Pseudo-Vater-Sohn-Verhältnis und eine Beziehung zwischen zwei gegensätzlichen Menschen (Männern). Ein irritierendes verhängnisvolles Verhältnis. Dabei geht es um Obsessionen, Emotionen und Verbindungen. Mit seinem Erstling hat der Filme aus Venezuela gleich den Goldenen Löwen in Venedig letzten Jahr gewonnen.
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Trois souvenirs de ma jeunesse
rbr. Was vorher geschah…. Es ist eine beliebte Produktionsmasche geworden, die Geschichte davor zu erzählen, also vor dem Erfolgsfilm. Das kann eine ganze Serie hervorrufen wie bei der «Star Wars»-Saga. Inzwischen kennen wir auch die Vorgeschichten der X-Men, von Superman oder Batman. Die Geschichte davor (Prequel) ist für Regisseure ein reizvoller Ausflug in die filmische Vergangenheit. Zwanzig Jahre nach «Comment je me suis disouté…» beschreibt Arnaud Desplechin nun, wie sich sein Held Paul dazumal aus Roubaix (wie der Regisseur) verliebte, zerstritt, verschwand. Anthropologe Paul (Mathieu Amalric, Bond-Bösewicht in «Quantum of Solace») kehrt heim nach Frankreich – nach Jahrzehnten in der UdSSR, in Tadschikistan. Und er erinnert sich an eben dieses frühere Leben. An die enge Verbundenheit mit seinem Bruder Ivan (Raphaël Cohen), an die Reise als Teenager in die UdSSR, wo er in geheimer Mission einem jungen Russen seine Identität «lieh», und natürlich an Esther (Lou Roy-Lecollinet), seine Liebe. Er zollt ihr Respekt, kann sie richtig einschätzen, aber sie ist dominant, stutzt ihn zurecht. Sie wird sein Bezugspunkt. Gleichwohl, Paul stützt sie, öffnet ihr die Augen. Man entzweit sich. Sie wird Schriftstellerin, er Anthropologe. Die amourösen Verstrickungen, Beziehungen, Verirrungen fügen sich zu einem Mosaik. Nicht immer schlüssig, nicht leicht nachvollziehbar, aber fesselnd. Das ganze Geschichte zur Geschichte sprich zum Film «Comment je me suis disputé…» (1996) schlüsselt sich in drei Kapitel und einem Epilog auf. Die Reise in die Achtzigerjahre hat viele Facetten, viele Gesichter und bleibt im Fluss. Ein Film ausser der Spur, des Geläufigen und Spektakulären im Kino.
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Ein Mann namens Ove
rbr. Griesgram mit grossem Herzen. Ein Besserwisser, Nörgler, Pedant und Miesmacher. Ove (Rolf Lassgård) ist ein, zwei Jahre Witwer, Rentner, «Quartierpolizist» – unendlich einsam ohne seine verstorbene Liebe Sonja (Ida Engvoll), grantig und lebensmüde. Er will zu seiner Frau, trifft Vorkehrungen zum Selbstmord. Doch ohne Fortune – zu seinem Glück. Erst die neue resolute, persische Nachbarin Parvaneh (Bahar Pars) samt Familie bringt ihn wieder in die Spur, öffnet und erweicht das grosse Herz des Spiessers. Nach dem schwedischen Bestseller von Frederik Backman «En Man som heter ove» hat Hannes Holm eine märchenhafte Sozial-Tragikomödie inszeniert – mit einem borstigen und doch erweichenden Rolf Lassgård als Ove, bestens bekannt als Kurt-Wallander-Darsteller. Der Regisseur steuert dabei an Kitsch und Schönfärberei galant vorbei, auch wenn die Rückblenden bisweilen etwas bittersüss eingestreut werden. Keine Frage, dieser bewegende Film zwischen Absturz und Auferstehung erobert nicht nur in Schweden ein grosses Publikum, sondern auch unsere Herzen.
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NACH OBEN

Photo/Film