FRONTPAGE

Blick aus dem Raumschiff: «Und du denkst, gleich wird die Erde singen». Samantha Harvey. Umlaufbahnen.

Von Ingrid Isermann

Eine atemberaubende Beschreibung unseres blauen Planeten inmitten des schwarzen Weltraums, wo sechs Astronauten ihre Gedanken und Träume miteinander teilen. Samantha Harvey wurde für ihren poetischen Roman «Umlaufbahnen» mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet.

«… und du denkst, gleich wird die Erde singen, und einen kurzen Moment lang klingt diese polierte Perle von einem Planeten so lieblich. Sein Licht ist ein Chor. Sein Licht ist ein Ensemble von Billionen Dingen, die sich einige kurze Momente lang sammeln und vereinen, bevor sie wieder in das Ram-tam-tam, den taumelnden Tumult und die galaktisch-statische Holzbläser-Regenwald-Trance einer trällernden, wilden Welt zurückfallen».

Ebenso wie Körper im Weltraum Licht aussenden, rieseln dort draussen auch elektromagnetische Schwingungen durchs Vakuum. Übersetzt man diese Schwingungen in Töne, verströmt jeder Planet seine eigene Musik, den Klang des Lichts. Den Klang seiner Radiowellen, die zwischen dem Planeten und seiner Atmosphäre gefangen sind, seiner Magnetfelder und Ionosphäre, der Sonnenwinde.
 
Dieses Buch ist eine Art bezaubernde Anleitung für Meditationen, eine entrückte Weltsicht, die der Poesie des Seins nahekommt, die man in stiller Bewunderung staunend wahrnimmt. Dies in einer Zeit, wo unser Planet und das Klima Rechtspoupulisten anscheinend schnurz sind.

Und dann diese wunderbaren Zeilen, wo es um die Zukunft der Menschheit geht und ob es sie überhaupt gibt, wo in der Astronautenklause der ISS-Raumstation nicht klar ist, wo oben und unten ist, man schwebt 400.00 Kilometer entfernt über der Erde und über den Dingen, an denen man sich festhält. Zu sechst hängen sie in einem grossen H aus Metall über der Erde, drehen sich kopfüber, vier Astronautinnen und Astronauten, aus Amerika, Japan, Grossbritannien und Italien und zwei Kosmonauten aus Russland. Zwei Frauen, vier Männer.
 
Ungefähr neun Monate werden sie hier sein. Man ist aufeinander angewiesen, um nicht einsam zu sein und ist es doch. Man schwelgt in Erinnerungen, an die Kindheit, an die Mutter, die gerade gestorben ist, an Partner und Freunde, die man vermisst. Und alles quer durcheinander. Die Schwingungen und die Stimmungen, eingefangen während die Kapsel mit den Astronauten in neunzig Minuten einmal die Erde umkreist, sechzehnmal in 24 Stunden, Sonnenaufgänge und Untergänge schnell wechseln und der Planet sich nachts mit Lichtergirlanden der Städte schmückt, tagsüber die Gebirgskränze des Himalaya sich abwechseln mit den Steppen Asiens, Afrikas und des Pazifiks, und alles so weit entfernt ist, dass das Leben auf einmal zu dem wird, was es ist und was es immer war: kostbar; und Nebensächliches die Bedeutung verliert neben der Schönheit dieses Planeten.

 

Aus dem Nichts überfällt sie das Glück

Wie Samantha Harvey dieses Staunen in Wortkaskaden fasst, die dem Strudel von Wasserfällen gleichend den Strom von Gedanken transportieren, ist ein Wunder für sich. Die Sterne am Rande von Antons Blickfeld sieht er durch das Portal im Labor. Die Konstellationen von Centauri und dem Kreuz des Südens, Sirius und Canopus. Anton kümmert sich um seinen Weizen, den er angebaut hat, doch dann überkommt ihn eine überwältigende Schwärze: «Nicht die dramatische Pracht des hängenden, sich drehenden Planeten, sondern die dröhnende Stille von allem anderen, dem Gott weiss was. So hat es Michael Collins genannt, als er allein um die dunkle Seite des Mondes kreiste – Aldrin, Armstrong, die Erde mit der Menschheit darauf, alles auf der anderen Seite und er selbst hier drüben -, und Gott weiss was».

 

Draussen rollt die Erde in einem üppigen Schwall Mondlicht vor sich hin, während sie auf ihren randlosen Rand zustrebt, wälzt sie sich hinten weg; die Wolkenbüschel über dem Pazifik erhellen den nachtschwarzen Ozean zu einem Kobaltblau. Schon taucht an der nahenden Küste Südamerikas in einer wolkenverhangenen Goldglut Santiago auf. Durch das Fenster ist Argentinien zu sehen, der Südatlantik, Kapstadt, Simbabwe. Als würde ihnen der Planet über die Schulter Guten Morgen zuflüstern, dringt durch eine zarte Bresche flüssiges Licht. Stumm gleiten sie durch die Zeitzonen.

 

Sie alle, die sechs Astronauten an Bord, sind zu irgendeinem Zeitpunkt auf einer Kerosinbombe in den Himmel geschossen worden und dann in einer brennenden Kapsel durch die Erdatmosphäre, dabei hat ein Gewicht, das zwei ausgewachsenen Schwarzbären entspricht, auf sie eingewirkt. Sie alle haben ihre Brustkörbe gegen den Druck gestählt, bis sie spürten, wie sich die Bären nacheinander zurückzogen, der Himmel All wurde, die Schwerkraft nachliess und ihnen die Haare vom Kopf abstanden.
 
Sie haben sich des öfteren darüber unterhalten, dass es sich anfühlt, als würden sie miteinander verschmelzen. Als liessen sie sich weder voneinander noch von dem Raumschiff gänzlich trennen. Was auch immer sie waren, bevor sie herkamen, wie sehr sich ihre Ausbildungen und Vorgeschichten, ihre Motive und Charkatereigenschaften unterscheiden, aus welchem Land sie auch stammen und wie gross die Konflikte zwischen ihren Nationen sind, die subtile Macht ihres Raumschiffs macht sie hier oben alle gleich.

 

Anton ist das Herz des Raumschiffs, Pietro der Verstand, Roman, der aktuelle Kapitän die Hände, kompetent und geschickt, kann alles reparieren, den Roboterarm millimetergenau manövrieren, die komplexesten Schaltplatten verkabeln), Shaun die Seele (hier, um sie alle davon zu überzeugen, dass sie Seelen haben), Chie (methodisch, gerecht, weise, nicht ganz zu greifen oder zu definieren) das Bewusstsein, Nell (mit dem Acht-Liter-Lungenvolumen einer Taucherin) den Atem. Dann einigen sie sich darauf, dass sie eine Metapher sind, etwas bringt diese Vorstellung von ihnen als Einheit hervor, mit ihrem Raumschiff als lebendigen Teil davon.  

 

Während ihrer Mission haben sie Aufgaben zu erfüllen, Messungen durchzuführen, zwei Stunden am Tag schweben ihre Körper nicht frei umher, sondern müssen sich an Gewichten, auf Laufband und Tretrad, der Schwerkraft unterwerfen, Gewichte stemmen, damit die Muskeln nicht verkümmern. Pietro ist an das amerikanische Laufband gekettet, mit geschlossenen Augen hört er Duke Ellington und sieht die wilden Minzwiesen der Emilia-Romagna vor sich. Im nächsten Modul strampelt Chie mit aufeineindergebissenen Zähnen im hohen Gang auf dem Rad und zählt dabei ihre Trittfrequenz. Die amerikanische Toilette teilen sich vier Astronauten, die russischen Astronauten haben eine eigene Toilette. Sie dürfen keine Tränen verlieren, denn die würden wie Geschosse herumspritzen, sie müssen sofort eingefangen werden.

 

Aus dem Nichts überfällt sie das Glück. Sie finden es überall, dieses Glück, völlig nichtssagende Orte und Dinge lösen es aus – das Deck für Experimente, die Tütchen mit Risotto und Hühncheneintopf, die Paneele mit Bildschirmen, Schaltern und Belüftungen oder auch ihr Gefängnis aus Titanium-, Kevlar- und Stahlrohren, selbst die Böden, die zugleich Wände sind, und die Wände, die auch Decken, und die Decken, die auch Böden sind. Die Handgriffe, die Fussstützen sind und ihre Zehen wundscheuern. Die Weltraumanzüge, die in der Druckschleuse auf sie warten und leicht makaber aussehen. Alles, was davon zeugt, dass sie im Weltraum sind – also wirklich alles -, kann diese Glücksanfälle auslösen.
 

Manchmal möchte Nell Shaun fragen, wie er Astronaut sein und gleichzeitig an Gott glauben kann, den Gott aus der Schöpfungsgeschichte, doch sie weiss, wie seine Antwort lauten würde. Er würde fragen, wie sie Astronautin sein und nicht an Gott glauben kann. Sie würden auf keinen gemeinsamen Nenner kommen, Nell würde backbord und steuerbord aus den Fenstern zeigen, hinter denen die Dunkelheit grausam und endlos ist. Wo Sonnensysteme und Galaxien gewaltsam verstreut liegen. Wo das Blickfeld so tief und multidimensional ist, dass man die Verzerrung von Raum-Zeit beinahe sehen kann. Schau nur, würde sie sagen. Wer soll das alles da hineingeschleudert haben, wenn nicht eine wundervolle, willenlose Gewalt?
 

Und Shaun würde backbord und steuerbord aus den Fenstern zeigen, auf die grausame, endlose Dunkelheit dahinter, auf dieselben gewaltsam verstreuten Sonnensysteme und Galaxien, auf dasselbe tiefe, multidimensionale Blickfeld. Ihre Welt eine Laune der Natur, seine ein Kunstwerk?

 

Sie sehen die Kontinente wie überwuchernde Gärten ineinander übergehen – Asien und Australien sind nicht getrennt, sondern verbunden durch die Inseln, die einen Pfad zwischen ihnen ziehen; ebenso reiben Russland und Alaska die Nasen aneinander, kaum eine Pfütze Wasser dazwischen. Europa geht mit Fanfarenklängen in Asien über. Kontinente und Länder folgen aufeinander, und die Erde fühlt sich nicht klein an, aber doch unaufhörlich miteinander verbunden, ein episches Gedicht in frei fliessenden Versen. Und wenn die Ozeane kommen, nahtlos abgespult, und die Vorstellung von Land verblasst, die Vorstellung von allem, was nicht glänzendes Blau ist, und jede Nation, von der du je gehört hast, in die Höhle des Weltalls gerutscht zu sein scheint, selbst dann wartest du nicht auf etwas anderes. Es gibt nichts anderes, hat es nie gegeben. Und wenn dann doch wieder Land auftaucht, denkst du, o ja, als wärst du gerade aus einem Traum aufgewacht. 

Ein beglückendes Buch, das sich leichtfüssig poetisch den kleinen und grossen Menschheitsfragen annimmt. Dieser Meinung war für einmal unisono auch das Kritikerteam des Schweizer TV-Literaturclubs.

 

 

Samantha Harvey, 1975 geboren, hat mehrere Romane und ein Memoir veröffentlicht. Ihr literarisches Werk wurde für zahlreiche renommierte Preise nominiert. Sie lebt in Bath (GB) und unterrichtet dort Kreatives Schreiben an der Universität. «Umlaufbahnen» ist ihr fünfter Roman, der mit dem Hawthornden Prize 2024 sowie dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet wurde.

 

Julia Wolf, 1980 geboren, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Für ihre Romane («Walter Nowak bleibt liegen», «Alte Mädchen«) wurde sie vielfach ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin und Leipzig.

 

 

 

Samantha Harvey
Umlaufbahnen
Roman
Aus dem Englischen von Julia Wolf
Dtv Verlagsgesellschaft, München
9. Auflage 2024
Hardcover, 200 S., CHF 33.90
ISBN 978-3-423-28423-3

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