Essays und Reportagen: Kosmopolit Hugo Loetscher – Nicht reisen, sich entwickeln»
Von Charles Linsmayer
Ans Ende seines Romans «Der Immune» hat Hugo Loetscher 1975 ein «Robot-Bild des Dichters» gestellt. Das war keineswegs die Vorwegnahme der Künstlichen Intelligenz, sondern fügte dem Roman ein paar wesentliche Kennzeichnungen des Autors an. Unter anderem die, dass er bei einer Routinekontrolle seines Personen-Eintrags in einem Hotel in Portugal erklärt habe, «er reise nicht, er entwickle sich». Ein wunderbarer Ausgangspunkt, um einen der grossen Schweizer Autoren und Publizisten zwischen Literatur und Journalismus neu- oder wiederzuentdecken.
Hugo Loetschers Reiseschriftstellerei als lebenslanger Lernprozess
Damit benannte Loetscher, sprachbewusst, wie er war, einen Prozess, der nicht nur für seine Reiseschriftstellerei, sondern für sein ganzes literarisches Schaffen, das Dichtung und Journalismus untrennbar miteinander verwebt, entscheidend war. Wobei dieses Entwickeln zwar das Herausschälen von etwas meinte, was schon da war, diesen Vorgang aber von allem Anfang an in gebendem und nehmendem Sinn mit anderem, mit andern Menschen, andern Erfahrungen, ja andern Landschaften und Kontinenten in einen Bezug setzte. «Ich lerne mich in dem Masse kennen, als ich die andern kennenlerne», heisst es an anderer Stelle im «Immunen».
Getrieben von einer nie erlahmenden Neugierde – «Ich würde es schlimm finden, wenn meine Neugierde je befriedigt worden wäre» bekannte der 68jährige 1997 (1) – war Loetschers Schriftstellerei im Grunde ein einziger, für seine Leserschaft fruchtbar gemachter Lernprozess. Was sich sehr schön am Beispiel des Romans «Wunderwelt» von 1979 zeigen lässt, dessen Entstehung der Verfasser später selbst analysiert hat. Da gibt der Erzähler dem toten brasilianischen Mädchen, auf das er bei einer Beerdigung gestossen ist, in seinem Text nachträglich das verpasste Leben und die faszinierende Landschaft des Sertâos zurück, erlebt aber zugleich, dass, «die angepeilte Welt ihn selbst in seinen Äusserungsformen zu unterwandern beginnt und ihn sich den sprachlichen Tonfall der Trovatores, Repentistas, der improvisierenden Bänkelsänger und der animistischen brasilianischen Volksmedizin» (2) aneignen lässt. Aber blättern wir noch etwas zurück!
Mit seinen frühen Werken gehörte Loetscher, der sich in Paris von Sartre, Camus und den Marxisten begeistern liess, zu den scharfzüngigsten Schweizer Gesellschaftskritikern. Nicht nur in den «Abwässern», die sich 1963 den dunklen Abgründen unter der schönen neuen Welt der Hochkonjunktur zuwandten, sondern etwa auch mit der Parabel «Noah» von 1967, wo die vom Überlebenskünstler zum Revolutionär mutierte biblische Figur ausruft: «Ich habe mir die Gesellschaft angeschaut, da fiel mir nur eines ein: regnen lassen.» Auch im «Immunen», wo aus Anlass der Frage eines kolumbianischen Mädchens, wer denn die Schweiz entdeckt habe, die Geschichte einer Gruppe von lateinamerikanischen Indigenen erzählt wird, die den Rhein hinauf in die ihnen unbekannte Schweiz vordringen, sehen die Eindringlinge sich mit einem von den Gnomen des Kapitalismus beherrschten Sklavenhalterstaat schlimmsten Ausmasses konfrontiert.
Am Ende aber haben wir Hugo Loetscher ganz anders in Erinnerung, denn eine der schönsten Rückkoppelungen aus der Begegnung mit der südamerikanischen Welt ist die Tatsache, dass er nach einer vieljährigen intensiven Auseinandersetzung damit quasi auch in seinem Blick auf die Schweiz «unterwandert» wurde, sich in seinen Anschauungen eine ausgeglichene Balance zwischen Heimat und Fremde einstellte und er mit dem liebevoll-ironischen, manchmal bissig sarkastischen, aber immer teilnehmenden Blick eines Kosmopoliten und Weltbürgers auf die Schweiz zu blicken begann. Angesichts der Erfahrungen seiner Schriftstellerfreunde in Brasilien, Kolumbien, Panama und Kuba muss ihm 1971 zum Beispiel die sozialistische Revolte der Schweizer Schriftsteller wie etwas fast schon Idyllisches vorgekommen sein, und es wundert nicht, dass er als einer von wenigen bedeutenden Autoren nicht der «Gruppe Olten» beitrat, sondern zusammen mit Alfred A. Häsler dem von der Linken als chauvinistisch eingestuften «Schweizerischen Schriftstellerverein» die Treue hielt. Nicht unkritisch, aber konstruktiv könnte man sein Verhältnis zur Schweiz definieren. So, wie es 2009 im Rückblick in «War meine Zeit meine Zeit» heisst: «Ich nahm dieses Vaterland als Ausgangspunkt. Als Basislager für Aufbruch und Rückkehr. Notwendig, aber nicht hinreichend. Ein portables Vaterland. Tragbar nicht im Gepäck, sondern in Empfindung und Gedanke.» 1996 bereits hatte er, zum Thema Patriotismus befragt, erklärt: «Ob es für mich das Wort Patriotismus braucht, weiss ich nicht. Ich komme ohne aus. Nicht vaterländischer Stolz resultiert mir aus der Staatsbürgerschaft, sondern Zuständigkeit, um an die Aufgaben zu gehen, die dem Land bevorstehen: zum Beispiel: Aus diesem Land ein Land unter anderen zu machen, damit es unter andern Länder eines ist.» (3)
Ordnet der Satz von «einem Land unter anderen» das eigene in weltoffener Weise, ohne Sonderfallgehabe, aber auch ohne «Diskurs in der Enge» allen andern zu, deutet der Begriff «Zuständigkeit» eine persönliche Mitverantwortung dafür an. Beidem ist der für schweizerische Belange bis zuletzt vielfältig engagierte, gleichzeitig aber als kompetenter und glaubwürdiger kultureller Botschafter, Vermittler und Gesprächspartner zu Brasilien und vielen anderen Ländern weit herum anerkannte Hugo Loetscher vollauf gerecht geworden.
Im Gegensatz zu vielen, die in andern Ländern nach Neuorientierung und religiöser Erweckung suchten, blieb Loetscher, der einer katholischen Innerschweizer Familie entstammte, als Bub Ministrant war und noch lange Missionar werden wollte, bei aller Faszination durch das Fremde dem Eigenen, will heissen Europa und seiner Tradition, treu. «Ich bin für mich nie auf der Suche nach einem Heil, das anderswo liegt», bekannte er 1992. «Bei aller Liebe und Verehrung für andere Kulturen unternehme ich nie den Versuch, meine europäische Herkunft zu verleugnen. Ich nehme die Heiligen meiner Religionmit mir, auch wenn ich voller Respekt die afrobrasilianischen Götter besuche.» (4)
Reisen als lebenslanger Lernprozess unter dem Stichwort: «Ich habe keine Wurzeln, sondern Füsse, um wegzugehen» (5):das hat auch seine schweren, belastenden Aspekte, und gerade Äusserungen des späten Hugo Loetscher nähren den Verdacht, das Reisen könnte auch eine Flucht vor der Einsamkeit für ihn gewesen sein. In seiner Ansprache zum 70. Geburtstag leitete er auf spielerische, aber durchaus ernste Weise das Wort Solitär, mit dem man ihn als Ausnahmeerscheinung aus der Riege der Schweizer Autorinnen und Autoren herauszuheben pflegte, zunächst einmal vom französischen «solitaire», also einsam, ab und bemerkte dazu auf überraschend persönliche Weise:«Was die Bedeutung ,einsam’ betrifft, kenne ich die nur zu gut. Ich wundere mich immer wieder, wie wenig Menschen es braucht, um durchzustehen. Ganz ohne geht es nicht; und wenn es darauf ankam, waren immer welche da.»Zu diesen Menschen aber, die ihm halfen, die Einsamkeit durchzustehen, gehörte eine Gruppe, die er sich durch die Sprache, durch sein Schreiben erst schaffen musste: seine Leserinnen und Leser. «Andererseits habe ich die Sprache» heisst es in der zitierten Ansprache weiter, «und das bedeutet Gemeinsamkeit: solange ich schreibe, schaffe ich mir ein Gegenüber, bei allem Zweifel an der Sprache. Es ist ein Bekenntnis zu ihr und ihrer Kommunikationspotenz. Auch wenn ich manchmal befürchte, ich habe der Worte nicht genug, um das Alleinsein sprachlich vollumfänglich abzudecken.» (6)
Gerade weil er mit seinem Schreiben auf ebenso kompetente wie liebevoll-verständnisbereite Weise neue Welten und Völker in den gesellschaftlichen und literarischen Diskurs hereinholte, konnte er auch jene andere Ableitung des französischen Wortes, diesmal mit d wie Daniel geschrieben, für sich beanspruchen: solidaire im Sinne von solidarisch. So dass die beiden französischen Wörter «solidaire» und «solitaire» zusammen letztlich die ganze Bandbreite seines Schreibens und seiner Befindlichkeit als Mensch und Autor abdecken.
All das ist allerdings noch zu relativieren ist durch zwei Faktoren, die nicht vergessen werden dürfen, wenn wir Loetschers Leben und Schreiben auf ein paar untergründige Motivationen zurückführen: Das eine ist, um einen Satz aus dem Band «Der Buckel» von 2001 zu zitieren, sein alles durchflimmernder, jedem Bierernst abholder Humor, dieser Habitus der Ironie als Grundgefühl, an den sich vielleicht zuallererst erinnert, wer ihn gekannt hat. «Maske wirst du sein, und immer wirst du lachen» heisst es da. Und das zweite ist das Loslassenkönnen angesichts eines Wissens um die Sterblichkeit, das ebenfalls an vielen Stellen seines Werks fassbar wird und auf das er 1992, in einem Gespräch mit Piero Onori, für einmal ganz konkret zu sprechen kam. Als der Interviewer ihn fragte, ob es denn mit der Fähigkeit, im richtigen Augenblick loszulassen, getan sei, antwortete er: «Nein, loslassen, dann kommt es. Loslassen heisst, die Sterblichkeit akzeptieren. Und gelebt wird nur mit der Akzeptanz der Sterblichkeit.» (7)
Dass der Mut nicht ganz ausreichte, sich in Solidarität zu andern lachenderweise mit dem Leben wie mit dem Tod abzufinden, schmälert die Grösse dieser Haltung nicht. Am Ende genügten die Sprache und die durch sie ermöglichte Verbindung mit dem Leser jedenfalls nicht mehr, um (Zitat) «das Alleinsein vollumfänglich abzudecken». Da vermisste er, wie im Gedicht «Der eigenen Asche nachgestreut» angedeutet ist, nicht mehr die Worte, sondern auf erschütternde Weise einen ihm zugewandten liebenden Menschen. «Streut–», heisst es da, «leiht dem Toten, / was der Lebende vermisst: / eine Hand.» (8)
Zum Titel «So wenig Buchstaben und so viel Welt» kann ich auch noch eine Anekdote erzählen. Als ich 1999 von Karl Lüönd den Auftrag erhielt, aus Anlass des hundertjährigen Bestehens des «Verbands Schweizer Presse» eine Anthologie mit dem Titel«Für den Tag schreiben. Journalismus und Literatur im Zeitungsland Schweiz»zusammenzustellen, konnte ich für den damals aktuellen Zeitraum eine ganze Reihe von Autoren und Autorinnen zur Mitarbeit gewinnen – die jüngste von ihnen war die zu jenem Zeitpunkt äusserst erfolgreiche Zoé Jenny. Hugo Loetscher aber bat ich, um den Band prominent und kompetent beginnen zu lassen, um ein Vorwort. Ich rechnete mit zwei, drei Buchseiten und war dann erstaunt und beglückt, dass er auf ganzen 14 Buchseiten eine ausführliche und brillante weiträumige Darstellung des Themas ablieferte, die dem Buch eine wunderbar einleuchtende Eröffnung schenkte. Nicht wenig, sondern viel Buchstaben jedenfalls, und ich war ein zweites Mal überrascht, als ich das Buch in die Hände bekam und feststellen durfte, dass es 25 Jahre später als Einleitung wiederum jene Darstellung von 1999 enthält. Ich freue mich sehr darüber und hoffe, dass dieser Text mit dazu beiträgt, dass dank dem Buch und der Ausstellung «So wenig Buchstaben und so viel Welt» viele Leserinnen und Leser einem Autor erneut oder erstmals begegnen, der uns mit seinem weltoffenen, den Zugang zu anderen Ländern und Kulturen ermöglichenden Blick auch heute noch viel zu sagen hat.
Die Ausstellung im ersten Stock des Strauhofs, die den gleichen Titel wie der Textband führt, nämlich «So wenig Buchstaben und so viel Welt», ist in erster Linie eine Foto-Ausstellung. Mit eindrücklichen Bildern von Daniel Schwartz, Thomas Hitsch und auch von Hugo Loetscher selbst ist seine Arbeit als Reiseberichterstatter dokumentiert und illustriert. Bereits im Korridor und in Grossaufnahme begegnen wir Loetscher in den Szenen aus Peter K. Wehrlis Film «Hugo Loetscher in Brasilien» von 1999, vielleicht dem bewegendsten Dokument über sein Leben und Arbeiten. Da ist Loetscher für einmal live und in Farbe zu erleben. Ganz nahe an ein Beispiel seiner Berichterstattung führen die Fotos von Daniel Schwartz über den Tempel von Angkor Wat in Kambodscha heran, dem ein ganzer Raum der Ausstellung gewidmet ist. Ein Interview bringt einem Hugo Loetscher live zu Ohren, und in Vitrinen ist die Beziehung zwischen Autor, Redaktionen und Freunden dokumentiert. Da macht ein Brief Loetschers an Erwin Leiser aus dem Jahre 1968 auch einmal deutlich, was für eine aufreibende und hektische Sache dieses Leben als Kulturreporter gewesen sein muss. Während er, wie es wörtlich heisst, «drei Wochen buchstäblich ganztags und nächteweise an einer Serie über Kuba schreibt», ist er zugleich von Kuba nach Mexiko-City gereist, hält sich nacheinander in immer neuen Hotelzimmern in Jamaika, Guatemala, Puerto Rico, Miami und New York auf. Man hört die Hermes-Baby-Reiseschreibmaschine förmlich aus dem Brief herausklimpern. Die Artikelserie wurde jedenfalls rechtzeitig fertig und erschien nach mehreren Fortsetzungen in der «Weltwoche» unter dem Titel «10 Jahre Fidel Castro» 1969 auch als Buch im Arche-Verlag. Da waren in den sechs Jahren zuvor seine Romane «Abwässer», «Die Kranzflechterin» und «Noah»erschienen, mit denen sich der knapp Vierzigjährige als einer der interessantesten und vielversprechendsten jungen Autoren in der Nachfolge von Frisch und Dürrenmatt einen Namen gemacht hatte.
(Auszug aus Einführung von Charles Linsmayer im Lavatersaal, St. Peter-Hofstatt, 8001 Zürich am 12. Juni 2024)
Ausstellung im Strauhof Zürich, 13 Juni bis 8. September 2024. Lange Nacht der Zürcher Museen Samstag, 7. September 2024. www.strauhof.ch
1: Interview mit Robert Naef. Schweizer Illustrierte, 26.5.1997
2: Interview mit Piero Onori. Basler Zeitung, Basler Magazin, 14.März 1992
3: NZZ, 11.November 1996, Hugo Loetscher: «Patriotismus als Tugend»
4: Interview mit Piero Onori, a.a.O.
5: Erstmals in einem Interview des Schweizer Fernsehens
6: NZZ, 19.Januar 2000: Hugo Loetscher: «Dank für zwei Reden und ein Wort. Eine Rede in
eigener Sache».
7: Interview mit Piero Onori, a.a.O.
8: Hugo Loetscher: «Es war einmal die Welt». Gedichte. Diogenes Verlag, Zürich 2004
Hugo Loetscher (1929-2009) wurde mit Romanen wie «Abwässer» und «Der Immune» zu einem der bekanntesten Schweizer Schriftsteller und Publizisten. Als Journalist bereiste er regelmässig Lateinamerika, Südostasien und die USA. Ein besonderes Interesse hatte er immer für das Medium Fotografie. Hugo Loetscher, der in Zürich lebte, war Gastdozent an Universitäten in der Schweiz, den USA, Deutschland und Portugal sowie Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. 1992 wurde er mit dem Grossen Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.
Hugo Loetscher
So wenig Buchstaben und so viel Welt
Reise-Essays und Reportagen
Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Jeroen Dewulf und Peter Erismann. Mit Bildteil.
Hardcover Broschur, 480 S., CHF 39.
978-3-257-07276-1