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«Literaturnobelpreisträgerin Han Kang: Eine Ode an die Verletzlichkeit der Welt»

Von Ingrid Isermann

Der weltweit renommierteste Literaturpreis geht zum ersten Mal nach Südkorea. Die Akademie in Stockholm ehrt Han Kang für ihre Prosa, die sich historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offenlegt («for her intense poetic prose that confronts historical traumas and exposes the fragility of human life»).

Im deutschsprachigen Raum war die Südkoreanerin lange Zeit eine unbekannte Autorin. Das änderte sich schlagartig, als 2016 ihr Buch «Die Vegetarierin» auf Deutsch erschien, für den sie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin den «Man Booker International Prize» erhielt. Der Roman erzählt von einer Hausfrau, die in ihrem Verzicht auf Fleisch bis zum Äussersten geht und eine Pflanze werden will. Mit der existenziellen Verweigerung ihrer Protagonistin verdeutlicht Han Kang das Leiden weiblicher Körper im Patriarchat. Trauer und Gewalt sind Themen, die sich durch Hans literarisches Werk ziehen. 

 

Nun hat Han Kang überraschend den Literaturnobelpreis erhalten, mit ihr hatte man nicht gerechnet. Han Kangs Literatur stellt sich gegen jede Form der Brutalität, ihre Texte sind Bekenntnisse für eine gewaltfreie humane Existenz mit einer Ästhetik, Schönheit und Moral verbindenden Sprache.

 

Schon die ersten Sätze in ihrem Roman «Deine kalten Hände» faszinieren und führen mitten in einen Flow. Und das mit einer sanften Sprache, die Knochen brechen kann, wie ein Sprichwort sagt. Das zieht in den Bann und entfesselt einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Han Kang spricht aus, was im Unbewussten schlummert und an die Oberfläche drängt.

 

Eines Tages verschwindet der Bildhauer Jang Unhyong beinahe spurlos. Er hinterlässt seine faszinierenden Gipsabdrücke von Händen und Körpern und ein bewegendes Tagebuch, das seine lebenslange Suche nach Nähe und Wahrhaftigkeit in einer Welt voller Masken und die Einsamkeit der menschlichen Existenz schildert.

 
Ich stützte mich auf meine Hand, die sich wie Hand einer Fremden anfühlte, und stand auf. Dann öffnete ich die Vorhänge. Inzwischen war es kälter geworden, die äusseren Fensterscheiben waren zugefroren. Vielleicht lag es daran, dass die Anspannung von mir abgefallen war, jedenfalls hatte ich wieder leicht erhöhte Temperatur. Dabei hatte ich geglaubt, genesen zu sein. Geistesabwesend blickte ich auf das zugefrorene Fenster, als mir plötzlich einfiel, dass der dritte Todestag meiner Mutter heranrückte.
Da klingelte es.
«Wer ist da?»
«Ein Einschreiben für Sie».
Mein Blick fiel auf den Absender des schweren Kuverts: Jang Haesuk. (…) Ich holte den Skizzenblock heraus und schlug das Deckblatt auf. Die erste Seite zeigte die Bleistiftzeichnung einer nackten, in Embryonalstellung kauernden Frau mit langen wirren Haaren. Ihre mit aller Kraft geballten Fäuste stützte sie auf den Boden. Darunter stand in einer schönen, fliessenden Handschrift:
«Ihre kalten Hände».
 

Mit ihren Assoziationen zur Farbe Weiss versucht die Autorin, den Schmerz über den Tod der Schwester kurz nach ihrer Geburt in Worte zu fassen und sich dem Ungesagten und Unaussprechlichen anzunähern (Auszug aus dem Buch «Weiss»).
 

«Sie mochte den Augenblick, wenn sie beim ersten Frost den mit Raureif bedeckten Boden betrat und durch die Sohlen ihrer Turnschuhe hindurch die angefrorene Erde spürte. Solange noch niemand die Fussabdrücke in dem Raureif hinterlassen hat, wirkt dieser wie feines Salz. Zeitgleich mit dem einsetzenden Frost wird das Sonnenlicht fahler, und aus den Mündern der Leute steigen weisse Atemwölkchen auf».
 

«Unmöglicher Abschied»
Der neue, im Dezember 2024 erscheinende Roman von Han Kang «Unmöglicher Abschied» erzählt die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei Frauen und beleuchtet zugleich ein jahrzehntelang verschwiegenes Kapitel koreanischer Geschichte.
Eines Morgens ruft Inseon ihre Freundin Gyeongha zu sich ins Krankenhaus von Seoul. Sie hatte einen Unfall und bittet Gyeongha, ihr Zuhause auf der Insel Jeju aufzusuchen, weil ihr kleiner weisser Vogel sterben wird, wenn ihn niemand füttert. Als Gyeongha auf der Insel ankommt, bricht ein Schneesturm herein. Der Weg zu Inseons Haus wird zu einem Überlebenskampf gegen die Kälte, die mit jedem Schritt mehr in sie eindringt. Noch ahnt sie nicht, was sie dort erwartet: die verschüttete Geschichte von Inseons Familie, die eng verbunden ist mit einem lang verdrängten Kapitel koreanischer Geschichte. Han Kangs neuer Roman ist eine Hymne an die Freundschaft und das Erinnern, die Geschichte einer tiefen Liebe im Angesicht unsäglicher Gewalt und eine Feier des Lebens, wie zerbrechlich es auch sein mag.

 

Suche nach Nähe und Wahrhaftigkeit

Han Kang ist die Tochter des Schriftstellers Han Seung-won (Han Sŭngwon) und wurde 1970 in Gwangju geboren, wuchs jedoch ab ihrem elften Lebensjahr in Seoul auf. Gwangju wurde durch einen Studentenaufstand 1980 gegen die Militärregierung international bekannt. Die brutale Unterdrückung der Demokratiebewegung in ihrer Heimat prägte ihr literarisches Schaffen. Ihr Roman «Menschenwerk» ist der Versuch einer Bewältigung dieses Massakers und seinen Folgen, für den sie den renommierten italienischen Malaparte-Preis erhielt. 

 

 

Bevor Han Kang ihre ersten Romane schrieb, begann sie mit Lyrik und veröffentlichte ab 1993 Gedichte und Erzählungen. Sie studierte an der Yonsei University in Seoul Koreanische Literatur und graduierte im Jahr 1993. Han debütierte mit Gedichten, die in der Zeitschrift Literatur und Gesellschaft (Munhak-kwa sahoe) erschienen, bekannt wurde sie kurz darauf jedoch als Prosaschriftstellerin. 1994 gewann Han mit der Kurzgeschichte Rotes Segel den Literaturpreis der Zeitung Seoul Shinmun. In den Jahren nach 1994 begann Han Kang, kontinuierlich literarische Werke zu veröffentlichen, die ihre spätere Karriere stark prägten.

 

Mit ihrer ersten Kurzgeschichtensammlung Liebe in Yŏsu im Jahr 1995 etablierte sie sich als aufstrebende Autorin in der südkoreanischen Literaturszene. Fünf Jahre später folgte ihre nächste Sammlung Die Früchte meiner Frau, in der sie ihre symbolhafte und poetische Erzählweise weiterentwickelte. Diese frühen Werke zeigen bereits die Themen von Transformation und Identität, die auch in ihren späteren international bekannten Werken wie Die Vegetarierin eine zentrale Rolle spielen. Im Jahre 1999 gewann Han einen Preis für den besten koreanischen Roman, 2000 den Preis für junge Künstler von heute des Ministeriums für Kultur und Tourismus und schliesslich 2005 den Yi-Sang-Literaturpreis.
 

Ausserdem arbeitete Han als Journalistin für die Zeitschriften Wasser der tiefen Quelle, Journal der Publikationen und Quelle. Ihr Roman Die Vegetarierin wurde 2010 verfilmt und der Kurzroman Baby Buddha diente als Grundlage für den Film Scar. Von 2007 bis 2018 lehrte Han Kreatives Schreiben am Seoul Institute of the Arts, seitdem ist sie als freie Schriftstellerin tätig. 
 

2018 schrieb Han einen Beitrag für das Kunstprojekt Future Library der schottischen Künstlerin Katie Paterson. Es soll im Jahr 2114 in einer 100 Texte umfassenden Anthologie veröffentlicht werden. Bis dahin wird das Manuskript unveröffentlicht und ungelesen in der Deichmanske bibliotek in Oslo verwahrt. Ihr Beitrag trägt den Titel Dear Son, My Beloved.

 

https://www.nobelprize.org/uploads/2024/12/han-lecture-english.pdf

 

Han Kang
Deine kalten Hände
Roman
Aus dem Koreanischen von
Kyong-Hae Flügel
Aufbau Taschenbuch, Berlin
2. Auflage 2024
CHF 18.90
ISBN 978-3-7466-3731-0

 

Han Kang
Unmöglicher Abschied

Roman

Übersetzerin Ki-Hyang Lee

Aufbau Verlag, Berlin 2024

€ 24.

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