FRONTPAGE

«Jakob Hein: Wie Cannabis die Devisengeschäfte zwischen Ost und West beflügelte»

Von Ingrid Isermann

Zu einem der grössten Geheimnisse, wie die Ostler einst den bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauss dazu brachten, mit einem Milliardenkredit ihr bankrottes Land zu retten, verfasste Jakob Hein einen aberwitzigen Roman, bei dem Lachanfälle vorprogrammiert sind.

Genosse Grischa Tannberg tritt nach seinem Studium an der Hochschule für Ökonomie seine Karriere in Ost-Berlin als Jungaktivist in der Staatlichen Plankommission an, die Tannberg nur bekommen hatte, weil er einer der besten Absolventen des Jahrgangs 1981 gewesen war. Und auch nur, weil seine Eltern in Gera gute und einflussreiche Genossen waren, der Vater als 2. Sekretär der Geraer Bezirksleitung und die Mutter als Kaderleiterin im Kombinat VEB Zellstoff- und Papierfabrik.
 
Die Staatliche Plankommission, genannt PlaKo, war im Gebäude des ehemaligen Preussischen Landtags in Berlin untergebracht, einem Prunkbau vergangener Zeiten. Genosse Ralf Burg, ein Mittfünfziger, dessen Gesicht noch zerknautschter war wie sein Anzug, führt ihn zu seinem Büro mit der Aufschrift «Afghanistan» und gab ihm seine erste Einführung: «Das hier ist mein Büro und Sie haben Ihr Reich direkt nebenan».
 
Ein Schreibtisch, ein Stuhl, eine Lampe, eine kleine Schrankwand. Grischa wusste nicht, was genau er tun musste, um sich hier einzurichten und fragte bei seinem Chef Genosse Burg nach. Der sprach zunächst ausführlich über die Freundschaft zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Demokratischen Republik Afghanistan. «Ja, und?» fragte Grischa. «Und – nichts. Wortwörtlich nichts, die Afghanen haben nichts. Sie wollen alles, aber haben nichts. Sie hätten gern Maschinen und Fahrzeuge und Konsumgüter, aber sie haben nichts zum Verkaufen!».
 
Afghanistan befinde sich seit seiner Gründung 1747 im Krieg. Das Land liege im Einflussbereich aller Weltmächte und das schon seit über hundert Jahren. «Früher waren es die Briten und die Russen, heute sind es die Amis und die SU», klärt ihn Genosse Burg auf. «Und von was leben sie? «Von Landwirtschaft», erfährt Grischa. Aber diese Produkte seien problematisch: «Sie bauen Schlafmohn und Cannabis an»!

 

Kunstvolles Warten
Burg rät Genosse Tannberg, sich in den ersten Wochen seiner beruflichen Tätigkeit mit einem sehr wichtigen Teil von angestellter Tätigkeit vertraut zu machen: dem kunstvollen Warten.

«Sie warten darauf, etwas zu tun, und bleiben dabei in innerer Spannung. Keinesfalls dürfen Sie aber Ihren Kollegen zu erkennen geben, dass Sie kunstvoll warten, denn dann werden Sie mit Arbeit überschüttet».
 
Und so beginnt Grischa eine bahnbrechende Idee zu entwickeln, wie man den Handel mit afghanischem Cannabis als Medizinalhanf legal verkaufen könnte, und zwar im Niemandsland an der Grenze zwischen Ost und West, um an Devisen und Westgeld für die DDR zu gelangen. Und wie die zwei deutschen Staaten durch diese Provokation in Kontakt kommen.

In lakonischer Sprache wird die Bürokratie der zwei deutschen Staaten aufs Korn genommen, die auch heute mit den Durchregulierungen der gesetzlichen Bestimmungen kaum überwunden scheint.

 

GÜSt Grenzübergang Invalidenstrasse Berlin
Als sich am Grenzübergang Invalidenstrasse in Berlin tumultartige Szenen abspielen, wird auch der Polizeichef von Westberlin darauf aufmerksam, dass Hunderte junger Leute nach Ostberlin drängen, um in einem «Freundschaftsladen für Afghanistan» günstiges Cannabis einzukaufen. 

Als die Regierung unter Helmut Kohl in Bonn davon Wind bekommt, wird die Lage knifflig. Der Bundeskanzler, ein erzkonservativer Pfälzer, würde eher seine Ernährung auf vegetarisch umstellen, als die Legalisierung von Cannabis auch nur in Betracht zu ziehen. Die geistig-moralische Wende war ja vor allem als Abkehr von liberalen Positionen zu verstehen.

 

Ein genialer Coup aus Bayern

Im Innenministerium in Bonn wird diskutiert, die Gespräche auf höchster Ebene zu führen, vertraulich und inoffiziell, und von der CSU kommt der Vorschlag, warum nicht in Bayern?

Dass man schnell handeln muss, bevor die Ostler die BRD mit Cannabis überschwemmt, ist allen klar. Und so fährt eine BRD-Delegation klammheimlich unter dem Radar nach Bayern, während eine DDR-Delegation auf der Westautobahn in den Süden fuhr, nach Bayern auf einen grossen Gutshof des westdeutschen Metzgermeisters Merz.

Man erwartet noch den Ministerpräsidenten von Bayern, Strauss, der in einer bayerischen Trachtenjacke dazustösst. Kurz darauf fahren ein paar dunkle Mercedes auf den Hof und entliessen die Bundesminister für Inneres, innerdeutsche Beziehungen und den Chef des Kanzleramts.
 

Den Ostdeutschen wurde ein Flügel des Vierseithofs zugeteilt, der Westdelegation der gegenüberliegende. Die Zimmer waren gross, hübsch, und zumindest das von Grischa hatte ein schönes Badezimmer. Die Dekoration war im bayrischen Landhausstil mit viel Holz und karierten Mustern, gegenüber vom Bett stand ein nigelnagelneuer riesiger Farbfernseher von Panasonic und es waren alle Sender vorhanden, ARD, ZDF, Österreich, Schweiz, Italien, nur zwei ostdeutsche Sender fehlen – ein Wahnsinn. 

Und morgen beginnen die Gespräche im Restaurant Alpenrose, 8:50 Uhr. Und dann macht der Osten dem Westen ein Angebot, das er nicht ablehnen kann! Apropos: was genau machte Grischa später in Afghanistan?

 

Die Story ist filmreif süffisant und spannend erzählt, und dass es da noch eine zarte Ost-West- Liebesgeschichte mit unerwartetem Verlauf gibt, nebst den bekannten Figuren, wie man sie namentlich aus DDR-Zeiten kennt, macht das Buch zu einer kleinen exquisiten Zeitreise. Von der ersten bis zur letzten Seite ein Lesevergnügen! Ein Glossar im Anhang informiert über die verwendeten DDR-Abkürzungen.
 

 

PS. Am 1. April 2024 wurde in Deutschland unter der Ampel-Regierung Cannabis entkriminalisiert und der private Gebrauch erlaubt. Ob die gesetzliche Regelung unter der neuen Regierung Schwarz-Rot 2025 fortgesetzt wird, ist noch unklar.

 

 

Der Schriftsteller Jakob Hein arbeitet als Psychiater. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter die Bestseller «Die Orient-Mission des Leutnant Stern» (2018) und «Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis» (2020). Jakob Hein, *1971 in Leipzig, ist der zweite Sohn des Schriftstellers Christoph Hein («Das Narrenschiff», 2025)  und der Filmregisseurin Christiane Hein. Er studierte Medizin in Berlin Stockholm und Boston und promovierte im Jahr 2000 an der Humboldt-Universität Berlin. Seit Mai 2023 gehört Hein zur Herausgeber-Runde des evangelischen Monatsmagazins Chrismon. Hein lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Berlin.

 

 

Jakob Hein
Wie Grischa mit einer verwegenen Idee
beinahe den Weltfrieden auslöste
Roman
Galiani, Berlin 2025, 3. Auflage
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Hardcover, 250 S., CHF
ISBN 978-3-86971-316-8

 

 

 

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