
Buchcover «Westwärts 1&2», Gedichte. Erweiterte Neuausgabe, Rowohlt 2025

Autorenfoto: Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975)
«Rolf Dieter Brinkmann: Poesie als Gegenwartsbewusstsein – Neue Gedichte und Essays»
Von Ingrid Isermann
Rolf Dieter Brinkmann gilt als deutscher Pop-Rebell der 70-er Jahre. «Westwärts 1&2» wirkte 1975 wie ein Paukenschlag in der literarischen Öffentlichkeit. Seither hat der Lyrikband eine kanonische Stellung erreicht. Die Gedichte und Essays in der erweiterten Neuausgabe haben nichts von ihrer atemlosen Präsenz verloren.
Zum 50. Todestag des Autors wurden im Nachlass sechsundzwanzig neue Gedichte entdeckt, die ursprünglich für die erste Ausgabe «Westwärts 1&2» vorgesehen waren.
In seinem Nachwort berichtet der Brinkmann-Biograf Michael Töteberg über die überraschenden Funde: «Es ist ein subjektives Buch, ohne Rücksicht auf herrschende literarische Konventionen und kann ebenso gut als ein zusammenhängendes Prosabuch, Gedichtbuch wie Essaybuch gelesen werden».
Poesie als Gegenwartsbewusstsein
Die schnoddrig-melancholische Sprache, atemlos hingeworfen wie im Vorübergehen, legt den Fokus auf eine glanzlose Umgebung, der er mit seinen präzisen Beobachtungen Glanz verlieh, so ungeheuer realistisch-surrealistisch wie ein Schnitt ins Auge in einem Film von Luis Buñuel.
Rolf Dieter Brinkmann blieb mir speziell in Erinnerung mit dem Buch «Rom, Blicke», das nach seinem Stipendien-Aufenthalt in der Villa Massimo 1972 in Rom entstand und erst vier Jahre nach seinem tragischen Unfalltod 1975 veröffentlicht wurde.
«Kurz vor der Abfahrt aus Rom, in den letzten drei, vier Wochen dort, habe ich wieder angefangen, Gedichte zu schreiben, immer sobald ich aufgestanden war, mir einen Pulverkaffee aufgegossen hatte, in Unterhemd, Unterhose, in dem Küchenraum mit Blick in den vertrokneten Garten, hinter der heruntergelassenen und wieder hochgeklappten Holzjalousie», schrieb Brinkmann nach seiner Rückkehr von der Villa Massimo einem Freund. «Die Hitze ab späten Vormittag war lästig, die ganze Wohnung musste immer abgedunkelt gehalten werden. Dann habe ich drei, vier Stunden, manchmal weniger, manchmal auch mehr, ohne ein Wort zu sagen am Tisch gesessen und habe geschrieben, und ich bin überrascht gewesen, dass es gut ging, nichts zu sagen, nicht antworten zu brauchen, nicht fragen zu brauchen, konzentriert eine kleine Situation aufzuschreiben».
Vorbemerkungen
Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter. Die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’-Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen an den Häuserwänden, Zeichen auf der Strasse, Zeichen in den Maschinen, die bewegt werden, Bewegungen in den Zimmern, durch eine Wohnung, wenn niemand ausser einem selbst da ist, Wind weht altes Zeitungspapier über einen leeren Parkplatz, wilde Gebüsche und Gras wachsen in den Trümmergrundstücken mitten in der Innenstadt, ein Bauzaun ist blau gestrichen, an den blauen Bauzaun ist ein Schild genagelt, Plakate ankleben Verboten, die Plakate, Bauzäune und Verbote machen weiter….
Einen jener klassischen
Schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon
ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluss aus der offenen Tür einer
dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe
ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment
Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Strasse,
die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich
schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten
dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.
Über das einzelne Weggehen
Als sie weinte, ging ich
Weg, den schmalen Lehmweg
Hinunter in den Ort. Eine
Wut, die still ist, trocknet
Aus. Jedes Haus war aus
Getrocknet, und darüber die
Milchstrasse, die ausgetrocknet
War, für mich viel zu weit
Weg um dorthin zu gehen, bis
sie ging, den einen Schuh
lose am Fuss schlenkernd, weil
der Lederriemen gerissen
war, den Berg hinunter, in
das Zimmer, wo sie stand
und wir uns anschauten.
Eine kleine Weile Aushalten
ich kannte das Empfinden und schlug
die Bücher zu. Sag, sagte ich zu ihr, ein
Wort! Und die Türen öffneten sich erneut.
Die Vergangenheit machte wie in den Büchern
Weiter, eine Form. Ach, wie zart sogar
das Unkraut blüht an manchen sorglosen
Tagen, links von Schwarz und Rot
zwischen den Steinen, die keine
Bücher sind, männlich, weiblich, säch
lich, ein Kind, das zärtlich stammelt.
Da, an dem Ort, fiel mir die Leere
der weissen Regale auf, und ich nickte, gut.
Gedicht
Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich
mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden. Jetzt bin ich aus
den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem
Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?
Wer hat gesagt, dass sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.
Rolf Dieter Brinkmann, geboren 1940 in Vechta/Niedersachsen, studierte nach einer Buchhandelslehre in Köln Pädagogik, bevor er freier Schriftsteller wurde. Schnell erwarb er sich einen Ruf als provozierender Rebell. Er machte die amerikanische Underground-Lyrik in Deutschland bekannt und wurde selbst der führende Vertreter der Pop-Literatur in Deutschland. In den 70ern zog er sich vom Literaturbetrieb zurück. Nach fünfjähriger Publikationspause schrieb er «Westwärts 1&2». Wenige Tage vor der Erstveröffentlichung von Westwärts 1&2 kam der erst 35jährige Autor am 23.4.1975 in London ums Leben, als er über die Strasse ging und von einem Auto erfasst wurde. Posthum erhielt er den renommierten Petrarca-Preis.
Rolf Dieter Brinkmann
Westwärts 1&2
Gedichte und Essays
Erweiterte Neuausgabe
Mit Fotos und Anmerkungen des Autors
Mit einem Nachwort von Michael Töteberg
Rowohlt Verlag, Hamburg März 2025
Paperback, 430 S. € 52.
ISBN 978-3-498-00774-4