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«Gedichte Slata Roschal: Ich brauche einen Waffenschein»

Von Ingrid Isermann

Mit tastender Melancholie, mäandernder Traurigkeit und schillernder Groteske erkundet Slata Roschal in ihren Gedichten und lyrischer Kurzprosa die Umbrüche unserer Zeit. Grenzerkundungen, zwischen verschiedenen Welten positioniert, dessen Herkünfte und Zukunftswünsche sich immer wieder neu arrangieren.  

Es geht um Ortserkundungen zwischen München, Greifswald, St. Petersburg und anderswo, um Flucht, Isolation und die Kraft von Einsamkeit in einem Stimmengewirr der Gegenwart, montiert aus Werbezitaten, Gesetzestexten, tagesaktuellen Nachrichten und Motiven der Mythologien. 

 
Zwischen hastiger Maniküre und mit schwarzem Kaviar tapezierten Wänden werden die, die wir lieben, zu unserem Halt in der Welt. Das vermeintlich Unbedeutende wird existenziell, und das Existenzielle gebrochen in seine Relativierungen des Absurden und Belanglosen.  Welche untergründigen, übergangenen Orte können heute noch entdeckt werden, ohne auf phantastische Tierwesen oder die Kartierung der Welt durch Google Maps zurückzugreifen? Welche Sprachen können wir gemeinsam sprechen? Am Ende des Tages braucht es nicht mehr als einen Waffenschein, ein bitteres Parfüm und ein Haus, in dem einen keiner kennt.

 

Ich brauche einen Waffenschein ein neues
Bitteres Parfüm ein Haus in dem mich keiner kennt
Wen kann ich tragen mit wem soll ich mich verbinden
Mach deinen Liebsten eine Freude sagt der Gärtner
Begrab dich selbst und leg dir deutsche gelbe
Stiefmütterchen zur Hand oder rote Plastiknelken
Dieser Tag macht keinen Sinn er sollte
Als Ordnungswidrigkeit behandelt und verboten werden
Ich bin kein Bodendecker auch kein Hochstamm meine
Träume sprechen eindeutig gegen mich und jeder
Versuch normal zu sein ist bisher schnell gescheitert
Ich stell die Frage anders hast du eine Ahnung
Auf wen Vergissmeinnicht bezogen bleibt

 

 

Viktor & Rolf

Kunsthalle München
Der Lebensweise der Libellen
Stehen wir gleichgültig gegenüber
Verehrte Gäste bitte löschen Sie das Licht
Dieser Bereich ist vorgesehen für blauen Tüll
Vampire Seidenschleifen Perlen aus Keramik
Wer hat Angst vor Streikplakaten von Couturiers
Da standen wir schon da wie ein versiegeltes
Parfüm das Kleid stand kopf
Allein die Anforderung in diesem Tempo
Im engen Anzug geraden Rücken zu behalten
Bin ich denn keine Frau also ein Gegenstand von Wert
Dann saß ich da und schaute zu
Wie sich mein Spiegelbild verfärbte
Nahm deine Hand und legte sie auf mein Gesicht
So schuf ich mich selbst im Alter von
Zweiunddreißig Jahren

 

 

Bitte denken Sie an die Umwelt bevor Sie diesen Text ausdrucken

 

Da ist ja noch die Sache mit dem Bus
Der jeden Montag um die gleiche Uhrzeit
Zum Halten kam und wieder Abstand suchte
Und heute eine Elster die uns seltsam ansah
Man berichtet von einem Raben der
Von seinem Kind nicht angenommen wurde
Tierpfleger setzten sich Kostüme auf und
Trommelten bis es sich überzeugen ließ
Die Aufklärungsquote unter Vögeln zeigt
Eine unglaubliche Erfolgsbilanz
Siebzig Prozent meiner Verwandtschaft stimmen
Für eine fröhliche Apokalypse heute Nacht
Trug ich lateinische Deklinationstabellen vor
Das alles haben wir und wissen wir
Der Rückgang unserer Gefühle
Hat damit nichts zu tun

 

 

Lass uns Mandalas malen hier ist eh nichts mehr zu kriegen
Unsere Bücher stapeln sich wie Tiefkühlpizza
Trag diese Creme auf deinen Tränendrüsen
Am Tag der Deutschen Einheit waschen wir Gardinen
Und gestern wie es scheint war ich noch nicht geboren
Du bist jemand der auf Toilette flucht solange
Ihn seine Frau nicht hört das ist schon spaßig
Wie wir uns um die Dinge sorgen die uns schaden
Der dritte Bahnstreik dieses Jahr beginnt mit einer
Hoffnung dass wir für immer drinnen leben dürfen
Die Preise für Spinat und Pflaumen steigen
Uns zu Kopf lass mich ganz schnell an etwas denken
Was sich nicht kaufen lässt dann ein Gorilla
Setzt sich zu uns spielt Bachsonate Flöte in h-Moll
Dazu habe ich nichts mehr zu sagen

 

 

Der Älteste der Alten gründet eine neue Religion und wird senil
Mach doch das Licht an man sieht hier nichts von der Luft
Beim Stuttgarter Tatort ein russischer Junge dessen Familie
Aus lauter Verbrechern bestand am schlimmsten war
Seine Oma sie hatte ihn lieb tat nichts darüber hinaus für so eine Liebe
Sollte man ohrfeigen am schlimmsten war wie sie alle
Von Verbundenheit sprachen fast wie in meiner Familie
Halt still oder stirb das ist keine Wahl wenn du mich fragst
Wir leben zu Umbruchzeiten eine stille
Epoche wäre mir lieber wobei
Der Rückgang der Singvögel damit nichts zu tun hat
Wenn deine Entscheidung hässlich gerät streu Puderzucker drauf

 

 

LCB Wannsee Berlin
Etwas geschah auf der Sonne eine Art Explosion oder
Lief da ein Hase die Straße entlang
Ich möchte verschwinden nur sein wo ich will
Zuhause wenn du die Terrassentür schließt weil die Mücken
Sonst will ich alles nicht mehr und seit heute
Lese ich keine Nachrichten wer wo erschossen erschlagen begraben
Ich habe meine Haltestelle verpasst es gibt sie nicht diese Stadt
Für immer wie Gabeln aus rostfreiem Stahl
Das entgegenkommende Fahrzeug kann nur ein Zug sein
Der Ausgang ist gotisch ich bleibe ein guter Verlierer
Etwas geschah eine Art Explosion oder
На солнце произошла сильная вспышка
На солнце произошла сильная вспышка
На солнце произошла сильная вспышка Все

 

 

Wir kaufen uns eine Wohnung
Wir werden uns eine Wohnung gekauft haben
Bürgergeld beziehen mit schwarzem Kaviar die Wände tapezieren
Du betastest Gipsornamente schleifst chagallblaues Parkett
Mein Gesicht geht auf in Knospen und Blüten
Schrittweise herangeführt an die Freiheit
Die einzige Voraussetzung für eine eigene Wohnung
Ist die Bereitschaft zum Lachen
Zu positiver Motivation im Denken und Handeln
Du sagst: Welcher Mensch würde das aushalten können
Ich habe es aber ausgehalten und elf Jahre lang
Vor dem Einschlafen gelacht
Emma und Mia sind die schönsten Babynamen
Babylachen kostenlos herunterladen
Zum Einzug Pustekuchen Froschschenkel Provence
Kandierter Flieder spanischer Süßwein
Den ersten Postboten zerren wir rein fesseln ihn
Zwingen ihn mit uns zu feiern
Erschrockene Gäste sind bessere Gäste
Alles was wir noch brauchen ist langsame Zeit
Akupunktur mit rostigen Messern
 

 

Es ändert sich nichts ich bekomme nicht das was ich will
Zwerghyazinthen blühen vor der Treppe zum Müll
Bei fünf Grad im Regen verdammt am einunddreißigsten März
Ich bin grundsätzlich höflich zu Pflanzen weil keiner weiß
Ob es doch Menschen sind irgendwo also die Seelen
Vielleicht will ich zu viel und scheitere weil ich es nicht
Wirklich und fest will also um jeden Preis keiner fragt mich danach
Wir sollten ein Amselpaar werden oder zwei schlecht gelaunte Gorillas
Für uns gäbe es dann keine Jurys Finanzämter Mobilfunkgebühren
Zurück in den Tiefschlaf in die schamlosen einfachen Dinge
Hast du gesehen wie schnell die Vögel das Futter verschlingen
Sind das Reste von Shellac oder Schimmelporen auf meinen Fingern
Hier kommt jeder zur falschen Zeit und jeder zu spät

 

 

Wenn es ein zweites nonstop Leben geben sollte wie könnte jemand
Ewig leben mit dem Nichtewigen im Nacken und wie sollte
Jemand ewig leben wollen mit dem Ewigen vor Augen
Schon rein physisch sollte die Möglichkeit des Endes beibehalten sein
Auf meinem Tisch liegt eine Postkarte mit Kafka weil ich
Stille Männer mag die lieber ihre Texte vernichten als irgendeinen
Noch so kleinen Krieg in ihrer Nähe anzufangen
Meine schwarze Liste mit Namen denen ich nicht mehr
Begegnen will wird immer länger etwas zerbrach in mir
Ganz unspektakulär ich will die Hand schlagen die mich schlägt
Die Hand beißen die mich füttert das ist die Spur von Blut und Geld
Das ist der Moment wenn dir der Atem ausgeht ich lache
Über keine Witze über Männerduschen im Gefängnis schaue weg wenn wir
An der Jugendarrestanstalt am Mangfallplatz vorbeispazieren

 

 

Abends wenn ich mich zu oft frage wozu ich da bin
Schalte ich japanische Trickfilme an
Da singen Mädchenstimmen zu Klavier und
Alle schlafen auf dem Boden in zu kleinen Zimmern
Arbeiten kochen verlieben sich Kinder und alte Männer
Befreunden sich ohne Hintergedanken ich sehe
Jede kleinste Bewegung in Bäumen oder im Wasser beginne
Ruhig zu atmen gehe duschen nehme die Kontaktlinsen heraus
Taste mich zum Bett schließe die Augen und hoffe dass ich
Die Wohnungstür von innen abgeschlossen habe

 

 
Slata Roschal
Foto © Ksenia Laevskaia

geboren 1992 in Sankt Petersburg, studierte Literaturwissenschaft in Greifswald und wurde in München mit einer Arbeit zu Dostojevskij und Männlichkeiten promoviert. Zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. der Kunstförderpreis des Freistaates Bayern sowie der BücherFrauen-Literaturpreis. Neben zwei Lyrikbänden «Wir verzichten auf das gelobte Land» (2019) und «Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere aus» (2021) hat sie bereits zwei Romane veröffentlicht «153 Formen des Nichtseins» und «Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten» (2024). Die Autorin lebt in München.

 

 
 

Slata Roschal
Ich brauche einen Waffenschein

ein neues bitteres Parfüm

ein Haus in dem mich keiner kennt

Gedichte
Wunderhorn-Verlag, Heidelberg März 2025
Geb. 130 Seiten, € 24.
ISBN: 978-3-88423-726-7

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