FRONTPAGE

«Blick auf Olympiastätten»

Von Fabrizio Brentini

Der in Zürich lebende Fotograf Bruno Helbling lancierte ein höchst interessantes Projekt. Er erkundete mit seiner Kamera die Sportstätten der olympischen Austragungsorte Athen (2004), Berlin (1936), Sarajevo (1984), Turin (2006), Peking (2008) und Sotschi (2014). Für jeden Bildteil lud er einen Autor ein, über die entsprechende Olympiade und vor allem über deren Nachwirkung zu schreiben.

Auch ein Vanitasmotiv – ein nachdenklicher Blick auf Olympiastätten

Entstanden ist ein zeitgenössisches Vanitasbild mit Einblicken in versunkene, zerstörte und marode Schauplätze, die den Grössenwahn der Promotoren solcher Veranstaltungen dokumentieren. Die Essayisten waren nicht einmal gezwungen, irgendeine Kritik lauthals vorzutragen, es reichte, die Umstände nüchtern zu skizzieren, wie es zur Wahl eines solchen Austragungsortes kam, wie es in der Bauzeit lief und vor allem was man mit den gigantischen Anlagen nach Ende der Spiele umging.

Sportliche Anliegen standen meistens nicht im Vordergrund, politische hingegen sehr. Mit einer Olympiade erhofften sich etliche Länder einen wirtschaftlichen Stromstoss. Finanzielle Kontrolle wurde ausgeschaltet, Nachhaltigkeit wurde gepredigt, aber nicht ernst genommen. Die Sommerspiele Peking kosteten die Rekordsumme von 40 Milliarden Dollar, wobei dies nur die ausgewiesenen Ausgaben beinhalten. Nur sechs Jahre später wurde dieser Betrag um 10 Milliarden überboten, nicht etwa für eine Sommer-, sondern für eine Winterolympiade. Sotschi markiert den bisherigen Endpunkt eines bar jeder ökonomischen Vernunft ausgetragenen Wettbewerbes unter Nationen.
Der in den letzten Jahren wegen der griechischen Dauerkrise im Schweizer Fernsehen omnipräsente Griechenlandkorrespondent Werner van Gent rekapituliert die skandalöse Bauphase für Athen 2004. Kostenüberschreitungen, Verzögerungen, welche das Unternehmen bis zur Abbruchkante führten, undurchsichtige Transaktionen für ein zweiwöchiges Scheinfest. Die Stätten verlottern, die Wartungskosten sind zu hoch. So verblasst der Glanz. Der Lack blättert ab, es wächst Unkraut und man überlässt die Betonwüsten dem Zahn der Zeit. Ein Sonderfall ist Berlin, wo 1936 die Sommerolympiade als Nazimanifestation missbraucht wurde. Die Gebäude existieren nach wie vor und keineswegs als Ruinen, aber sie fordern die Öffentlichkeit heraus. Wie soll man mit diesen steinernen Zeugnissen eines menschenverachtenden Reiches umgehen? Peter Dittmann wagt die unbequemen Fragen zu stellen: «Sind die olympischen Sportstätten etwa nur noch steinerne Hüllen, die sich längst von der Vergangenheit gelöst haben? Wie viel nationalsozialistischer Geist steckt heute noch in den Stadien?»
Unter die Haut geht die Schilderung des bosnischen Schriftstellers Ahmed Buric über das Schicksal der Austragungsorte von Sarajevo 1984. Acht Jahre nach der Winterolympiade wurde die Stadt Schauplatz eines hässlichen Krieges. Da, wo Sportler sich massen, bezogen Scharfschützen ihre Stellungen, von wo aus sie die Menschen buchstäblich ins Visier nahmen. Übrig geblieben ist eine Ruinenlandschaft, wie die Bilder von der Bobbahn und den Sprungschanzen bezeugen. Und vor der Haupthalle erstreckt sich ein Friedhof – es gibt keinen grösseren Gegensatz zum Motto der Olympiade als Gefäss der globalen Friedensvermittlung.
Francesco Pastorelli spricht von falschen Versprechungen, die man für die Winterspiele 2006 den Bergregionen im Piemont gegeben hat. Profitiert hat allerhöchstens die Metropole Turin, während die kleinen Berggemeinden schlicht an die Wand gedrückt und ihre ökologischen Bedenken im Keime erstickt wurden. Es wurden Überkapazitäten geschaffen, die nun nicht genutzt werden können. Und auch hier vergammeln Bobbahn und Sprungschanzen. Das systematische Schummeln fand auch in Peking statt. Die ebenfalls durch das Schweizer Fernsehen bekannt gewordene Journalistin Barbara Lüthi erzählt den Lesern, was Chinesen nicht erfahren dürfen. Ganze Stadtteile wurden plattgewalzt. Es fanden Zwangsumsiedlungen statt. Mit viel Schein und Pomp wurde ein nationalistisches Megaereignis gefeiert, doch hinter die Kulissen durfte man nicht blicken. Selbst ausländische Journalisten wurden an der kurzen Leine gehalten. Mit Ausnahme des als «Vogelnest» berühmt gewordenen Hauptstadiums von Herzog & de Meuron sind auch hier die meisten Sportstätten verwaist. Eigenartig ist die zwielichte Rolle des Künstlers Ai Weiwei, der die Olympiade im Vorfeld scharf kritisiert hatte, sich gleichwohl mit den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron an der Ausgestaltung des Vogelnestes beteiligte.
Martin Müller erforschte das Projekt Sotschi 2014 über längere Zeit, und auch für diese Stätte lassen sich dieselben Sünden aufzählen. Radikale Eingriffe in die Landschaft, überdimensionierte Projekte, Aufblähung der Kapazitäten, Zwangsumsiedlungen für ein Fest, das vor allem dazu diente, wenigen ein Podium für eine abstossende Selbstdarstellung zu schaffen. Die in den Text eingestreuten Aufnahmen erinnern wohl nicht zufälligerweise an die Potemkinschen Dörfer. Was nicht gezeigt werden durfte, wurde zugedeckt. Der Welt wurde eine klinisch reine Kulisse vorgegaukelt, während die Einwohner weiterhin mit ungeteerten Strassen, schlecht isolierten Häusern und vor allem brach liegenden Baustellen leben müssen.
Es ist schwer, nach dem Weglegen dieses Buches noch an so etwas wie an eine olympische Idee zu glauben. In Europa sind kaum noch Städte oder Regionen zu finden, die sich für die Austragung von olympischen Spielen begeistern lassen. Also weicht man aus und vergibt die Spiele Ländern auf anderen Kontinenten, wo die Gefahr eines Aufstandes gering ist und Kritik effizient unterdrückt werden kann. Was hat die Architektur damit zu tun? Baumeister fügen sich, ob sie es wollen oder nicht, als gut geölte Zahnräder in diese Maschinerie ein. Wer die Welt von morgen gestalten will, ist – sofern man bereit ist, sein Tun zu reflektieren – aufgefordert zu überprüfen, wo man sich engagieren darf und wo Auflehnung erfordert wird. Das Buch von Bruno Hebling ist so betrachtet nicht nur eine Dokumentation, sondern hält allen Architekten einen moralischen Spiegel vor.

 

 

Bruno Helbling (Hrsg.)

Olympic Realities

Scheidegger & Spiess Basel 2016

d/e, 212 S. € 46.70
978-3-0356-0631-7

 

 

 

 
Die Brücken von Christian Menn, vorgestellt in einem Prachtband


Der Zufall wollte es, dass ich während der Lektüre der Monografie über die Bücken von Christian Menn den 2013 gedrehten Hollywoodfilm «R.I.P.D.» visionierte, in dem während eines Schwenks über die Stadt Boston kurz die formschöne Brücke über den Charles River ins Blickfeld rückte. Und nur wenig später sah ich den Thriller «The Town – Stadt ohne Gnade» aus dem Jahre 2010, wo dieselbe Brü-cke mehrmals und prominent gezeigt wurde.

 

2002 fertiggestellt sind die zwei hohen Stützen mit den schräg zur Fahrbahn gespannten Kabeln zu einem Wahrzeichen von Boston geworden. Das Werk ist für den 1927 geborenen Ingenieur Christian Menn gleichsam der krönende Abschluss einer lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Brücken-bau. Mit der vorliegenden, vom Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess herausgegebenen Monografie präsentiert Menn selber eine Bilanz seines Gesamtschaffen. Und so wie er nicht nur die technisch beste Lösung für einen Übergang finden wollte, sondern sich auch darum bemühte, Funktion mit höchsten ästhetischen Ansprüchen zu verbinden, so ist auch das Buch in Bezug auf Gestaltung eine Augenweide.

Der Einband ist mit Leinen bezogen und mit einem Umschlag geschützt – was früher für Publikatio-nen dieser Grössenordnung Standard war, ist heute zu einer Ausnahme geworden. Der englische Text hebt sich vom deutschen durch die goldbraune Einfärbung ab. Die technischen Pläne wurden so aus-gewählt, dass Laien eine Vorstellung vom Aufbau der jeweiligen Brücke erhalten, ohne durch Zahlen und Konstruktionsdetails erschlagen zu werden. Unübertroffen sind jedoch die Farbaufnahmen von Ralph Feiner, der eigens für diese Monografie zu den Standorten gereist ist und die Artefakte aus ver-schiedenen Blickwinkeln eingefangen hat.
Menn reklamiert den Begriff «Pontifex» für sich, obwohl die etymologische Rückführung auf den «Brückenmacher» nicht von allen akzeptiert wird. In der Tat wird heute der Papst mit diesem Titel ausgezeichnet, aber vielleicht dachte Menn augenzwinkernd auch an diese Schiene. Der Ingenieur, der mit seinem Können fähig ist, Schluchten und Wasserstrassen zu überwinden, wird zu jemanden, der Völker miteinander verbindet, der zusammenführt, was bis anhin getrennt war, er wird zum Gestalter einer neuen Welt. In einem weiteren Text stellt Menn seine «Philosophie des Brückenbaus» dar, doch die einzelnen Abschnitte passen eher zur Rubrik «Wegleitung» (das ungeschützte Wort «Philosophie» wird leider in allzu vielen Fällen als Synonym für Konzept oder Strategie missbraucht). In einem Ge-spräch mit Caspar Schärer gibt er auch zu, dass er mit dem Buch Anstoss geben möchte, «dass man sich mehr Mühe gibt in der Gestaltung – und bereit ist, je nach Standort und Bedeutung der Brücke auch etwas dafür zu zahlen». Menn tat alles, um künftige Bauherren für dieses Thema zu sensibilisie-ren. Es kommt ein Politiker zu Wort, der ehemalige Bündner Regierungsrat Luzi Bärtsch, der auf die grosse Herausforderung eines Alpenkantons verweist, sichere Verbindungen zu allen Talschaften zu garantieren.

 

Der Architekturhistoriker David P. Billington spannt den Bogen von Robert Maillart und Othmar Ammann, den international renommiertesten Schweizer Brückenkonstrukteuren, zu Christian Menn, der durch diese Nachbarschaft nobilitiert wird. Und faszinierend schliesslich der Beitrag von Iso Camertin, der Brückenkulissen in der Literatur und im Film aufstöberte. Der Hauptteil besteht aus der Präsentation von 28 Projekten und Realisationen, die von 1957 bis 2007 entwickelt wurden. Kurzkommentare und von Menn verfasste technische Beschreibungen werden durch Pläne und den meist ganzseitigen Farbaufnahmen ergänzt. Brückenbauten beeinträchtigen zugegebenermassen das Land-schaftsbild, aber das muss nicht gleich mit Verschandelung einhergehen. Wie fasste Luigi Snozzi seine Tätigkeit so treffend zusammen? «Bauen ist Zerstören. Zerstöre mit Verstand!».
Menn gelang es immer mehr, Landschaft und Kunstbauten aufeinander zu beziehen. Das wird vor allem bei den innovativen Lösungen nach 1971 manifest. Elegant fügt sich die Ganterbrücke ob Brig in die zerklüftete Gebirgswelt ein. Obwohl aus zwei wuchtigen Betonpfeilern bestehend, wirkt sie aus der Ferne wie ein zart gespannter Faden. Majestätisch überwindet die Doppelbrücke bei Giornico eine Tal-senke, die hundert Jahre früher die Bahningenieure dazu zwang, mit Kehrtunneln den Geländesprung zu meistern. Wenn immer es mir möglich ist, befahre ich in der Leventina die Kantonsstrasse, weil ich diesen grandiosen Blick auf die Autobahn nicht missen möchte. Schliesslich die Sunnibergbrücke bei Klosters, die mit einer sanften Kurve den Verkehr am Dorf vorbeischleust. Die Fahrbahn ruht auf filig-ranen Doppelstützen, die seitlich über die Fahrbahn hochragen, um eine zusätzliche Verkabelung zu ermöglichen. Das dadurch entstandene Muster verleiht der Brücke eine verblüffende Leichtigkeit.
Die Monografie endet mit einer magistralen Vision für Brücken mit Spannweiten von 3000 Metern, was weit über dem heutigen Weltrekord liegt. Das ist annähernd die Dimension der geplanten Hänge-brücke über die Strasse von Messina. Technisch dürfte wohl kein grosser Unterschied vorhanden sein, doch ästhetisch schlägt das visionäre Projekt von Menn dasjenige für Messina um Längen.

 

 

 

Caspar Schärer/Christian Menn (Hrsg.)

Christian Menn Brücken

Scheidegger & Spiess Zürich 2015,

d/e, 352 S.,  CHF 99.

978-3-85881-455-5

 

 

L&K Architekturtipp 
«Mies van der Rohe: Das kunstlose Wort – ein Meilenstein in der Architekturtheorie»

 

Ein Klassiker der Architekturtheorie ist Fritz Neumeyers 1986 veröffentlichtes Werk Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. In dieser ersten wissenschaftlichen Untersuchung der Ideenwelt von Ludwig Mies van der Rohe steht das Wort im Mittelpunkt – als Schlüssel zu dessen Philosophie des Bauens und zum Verständnis seiner Bauten.
Über die profunde Analyse von Originaldokumenten und durch die intensive Auseinandersetzung mit der Lektüre des grossen Baumeisters weist Fritz Neumeyer direkte persönliche Einflüsse sowie innere Widersprüche in der Entwicklung und im Selbstverständnis von Mies als Vertreter der Moderne nach. Zudem belegt er die enge Verbindung zwischen Philosophie und Baukunst in dessen Oeuvre. Dabei stützt er sich auf alle verfügbaren Quellen in Form von Vorträgen und Reden, Manifesten, Notizen und Manuskripten und spürt auch Mies’ Gedanken in Form von Aufzeichnungen nach, die er bei der Lektüre seiner Bücher hinterlassen hat. Diese geben einen aufschlussreichen Einblick in die geistigen Dimensionen seiner Philosophie des Bauens. Darüber hinaus kommt Mies in diese Buch selbst zu Wort. Der Anhang dokumentiert alle Texte, die sich mit de Bauen im Zeitalter der Moderne grundlegend befassen. Sie sind beredte Zeugen der gedanklichen Auseinandersetzung des Architekten mit der Baukunst und haben bis heute nichts von ihrer grundsätzlichen Bedeutung verloren.

Das Buch war lange Jahre vergriffen und ist nun in zeitgemässer Typografie bei DOM
erschienen.


Fritz Neumeyer
Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort
Gedanken zur Baukunst
Neuauflage des Originaltitels von 1986
165×235 mm, 416 S., 180 Abb.
CHF 58.60. € 48.
ISBN 978-3-86922-264-6

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