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«Das Sanatorium Zonnestraal in Hilversum erstrahlt in neuem Glanze»

Von Fabrizio Brentini

Die unweit von Amsterdam liegende Stadt Hilversum zieht keine Touristen an. Sie ist ausserhalb der Niederlande höchstens als Standort von «Radio Hilversum» bekannt, doch für Architektur-Interessierte bietet die rund 80 000 Einwohner zählende Mittelstandstadt einiges.

 

Einen Grossteil der Werke von Willem Marinus Dudok (1884–1974), einem wichtigen Vertreter der holländischen Vormoderne, kann man hier besichtigen. Sein 1931 vollendetes Rathaus fehlt in keiner Übersichtsdarstellung zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Weniger bekannt ist das ehemalige Sanatorium Zonnestraal von Jan Duiker (1890–1935), der – obwohl er ein Zeitgenosse von Dudok war – ungleich radikalere Bauten realisierte, wie etwa die Freilichtschule in Amsterdam (1931). Duiker stand jedoch im Schatten von Pieter Oud, Gerrit Rietveldoder Peter van Doesburg, die in der Bewegung De Stijlfederführend waren und sich optimal vermarkten konnten.

 

Das Sanatorium Zonnestraal ist nicht nur Duikers Hauptwerk, es steht den Vorzeigeobjekten der niederländischen Moderne, wie etwa das Schröder-Haus von Rietveld in Utrecht (1924) oder die Wohnsiedlung Kiefhoek von Oud in Rotterdam (1925/30) in keiner Weise nach. Das Grundstück für den Bau eines Zentrums, um an Tuberkolose Erkrankte zu behandeln, ist von Heideflächen und Wald umgeben. Es ist noch heute ein Naherholungsgebiet für Hilversum und so geschützt, dass das Areal dem niederländischen Siedlungsdruck wohl nachhaltig standhalten kann. Tuberkulose war damals in den Niederlanden, wie anderswo auch, die Volkskrankheit schlechthin. Ein Deal mit der Industrie der Diamantschleifer, die besonders auf Lungenkrankheiten anfällig waren, machte Gelder für die Errichtung eines Tuberkulosesanatoriums frei. Es ist nicht ganz geklärt, wie Duiker zu diesem Auftrag kam. Es wird u.a. kolportiert, dass Hendrik Petrus Berlage (1856–1934) höchstpersönlich, der damalige Doyen der holländischen Architekten, ihn empfohlen habe. Erste Skizzen fertigte Duiker, der im mit Bernard Bijovet (1889–1979) arbeitete, bereits 1919 an. Es vergingen aber noch sieben Jahre, bis die Ausführungspläne erstellt wurden.

 

Was bis 1931 gebaut wurde, gehört zweifelsohne zum Besten, was die Bewegung des Neuen Bauens zu bieten hat. Aus der Luft sieht das Hauptgebäude mit je einer zweiflügigen Anlage auf jeder Seite wie ein Vogel mit ausgebreiteten Schwingen aus. Vorherrschende Werkstoffe sind Beton und Glas, wobei die geschlossenen Wandteile weiss gestrichen wurden. Das Skelett wurde so errichtet, dass die nichttragenden Aussenseiten losgelöst von konstruktiven Sachzwängen gestaltet werden konnten. So erscheinen insbesondere die grossformatigen Glasflächen als schwebende, transparente Paneelen, ähnlich wie dies Walter Gropius 1925/26 am Bauhausgebäude in Dessau vordemonstriert hatte. Die Flügel mit den Patientenzimmern weisen an den zur Hauptachse gewandten Stirnseiten fast gänzlich in Glas aufgelöste Zylinder für die Treppenaufgänge auf. Die Rundform wird im Zentralgebäude aufgenommen und variiert. Dieses Element erinnert wohl nicht zufälligerweise an Walter Gropius’ Aufgängen für die Musterfabrik, die er für die Werkbundausstellung von 1914 in Köln realisierte. An die Grenze des statisch Möglichen ging Duiker beim Zentralgebäude. Dessen Skelett besteht aus nach innen versetzten Stützen, der Bodenplatte zwischen Erd- und Obergeschoss sowie des Flachdaches in Form eines Kreuzes, deren Enden auf drei Seiten beträchtlich auskragen. Aufnahmen aus der Renovationszeit zeigen das nackte Gerüst, das an die berühmten Fotos der Rohbauten von Pier Luigi Nervi aus den 1930er Jahren denken lässt.

 

Nach dem frühen Tode von Duiker übernahm sein ehemaliger Arbeitskollege Bijovet die Verantwortung für den weiteren Ausbau und für Ergänzungen auf dem gesamten Areal. In den 1950er Jahren begann mit der Abnahme der Tuberkuloseerkrankungen der Niedergang des Sanatoriums. Erstmals sorgten sich Architekten in den 1960er Jahren um das Schicksal der ganzen Anlage, die nach langem Zögern 1981 unter Schutz gestellt wurde. Es folgte ein zäher Kampf um das weitere Vorgehen, währenddessen der Zahn der Zeit unerbittlich an der Substanz nagte. Bilder aus den 1980er Jahren zeigen die ehemaligen Patiententrakte als hässliche Ruinen. Die mit den ersten Untersuchungen betrauten Architekten Hubert-Jahn Henket und Wessel de Jonge konnten nach 2000 die Restauration in Angriff nehmen. 2011 waren die meisten Arbeiten abgeschlossen. Noch fehlt aber die Innenrenovation des einen ehemaligen Patiententraktes.

 

Die Gesamterneuerung kann als Lehrstück für den Umgang mit den Baudenkmälern der Frühen Moderne betrachtet werden. Eine informative, 2010 herausgegebene Monografie erörtert ausgewogen das Für und Wider dieser Planung. Duiker selber war entschieden gegen die Erhaltung von Bauwerken, die nicht mehr der ursprünglichen Nutzung dienen können. Wie andere Vordenker der Moderne erachtete es Duiker als inkonsequent, würde er künftige Generationen zur Erhaltung seines Werkes um jeden Preis verpflichten. In der Tat war ein wichtiger Programmpunkt der Erneurer die radikale Ablehnung des Bestehenden. Somit stand das Vorhaben der Erneuerung des Sanatoriums Zonnestraal im Grunde zu den Anliegen des Entwerfers im Widerspruch. Darf man sich über ein solches Manifest hinwegsetzen und ein Gebäude neu interpretieren, nämlich als ein bedeutendes Zeugnis der Frühen Moderne und somit als Bestandteil einer zu pflegenden Erinnerungskultur? Es war nicht das einzige Dilemma, das die Restauratoren auszuhalten hatten. Welche Substanz war erhaltenswürdig? Wollte man gemäss der berühmt berüchtigten Charta von Venedig aus dem Jahre 1964 vorgehen, so durften spätere Ergänzungen nicht wegretuschiert werden, weil sie genauso zur Geschichte des Bauwerkes gehörten wir das «Startkapital». Nach langem Hin und Her wagte man in Hilversum doch, sich über die besagte Charta hinwegzusetzen und überall dort, wo es möglich war, die ursprüngliche Gestalt zurückzuerobern. Dies betraf vor allem das Zentralgebäude, das von einem recht voluminösen Annexbau befreit wurde. Schliesslich musste man bedenken, dass zur Bauzeit andere Standards in Bezug auf Haustechnik und Isolation galten als heute. Kompromisse waren schlicht nicht zu vermeiden, wobei man jenseits jeglicher ökonomischer und ökologischer Vernunft beispielsweise die Einfachverglasungen beliess. Es gab bei der Untersuchung der Bausubstanz überraschende Resultate. Das von Duiker mitgetragene Bekenntnis der industriellen Produktion, ein Bekenntnis, das viele der Protagonisten des Neuen Bauens teilten, entpuppte sich als trügerische Etikette. Es wurde auf der Baustelle offensichtlich tüchtig improvisiert und gebastelt. Die unsauberen Baunähte insbesondere in der Betonstruktur zwangen die Restauratoren von Fall zu Fall nach der adäquatesten Lösung zu suchen.

 

Heute erstrahlt der Komplex in neuem Glanze. Teile davon werden für die Rehabilitation verwendet. Wer die Möglichkeit hat, auf dem Weg nach Amsterdam in Hilversum einen Zwischenhalt einzuschalten, sollte den Weg zum Sanatorium Zonnestraal nicht scheuen.

Paul Meurs/Marie-Thérèse van Thoor (Hrsg.)
Sanatorium Zonnestraal. history and restoration of a modern monument,
NAi Publishers Rotterdam 2010
ISBN 978–90–5662–696–9

 

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