FRONTPAGE

«Der Architekt und Forscher Fritz Haller»

Von Fabrizio Brentini

 

Mosaikstein um Mosaikstein wächst das Bild über die Solothurner Schule. Nach der Monografie über Max Schlup und der Gesamtschau von Jürg Graser – beide Publikationen sind hier schon vorgestellt worden – folgt nun die vom gta-Verlag betreute Monografie über Fritz Haller.

 

Im Gegensatz zu seinen Mitstreitern konnte Haller allerdings schon ein gewichtiges Buch vorweisen. Es handelt sich um die von Hans Wichmann anlässlich der 1988 in Solothurn gestarteten Wanderausstellung «fritz haller. bauen und forschen» herausgegebenen Begleitpublikation mit einem detaillierten Werkkatalog. Überholt ist diese keinesfalls, aber sie enthielt keine umfassenden Analysen, was eine Gesamtbewertung des Schaffens von Haller erschwerte. Dies wird mit der von Laurent Stalder und Georg Vrachliotis herausgegebenen Übersicht nachgeholt.

 

 

Das Erproben aller Möglichkeiten

Auf den ersten Blick ist die Architektur von Haller ausgesprochen spröde. Ihn interessierte weniger das Bombastische im Auftreten eines Gebäudes als vielmehr die perfekte Abstimmung aller für ein Gebäude notwendigen Aspekte wie Materialität, Fenstereinteilung, Lichtführung, Lastverteilung, Flexibilität in der Nutzung, Integration der technischen Ausrüstung und vieles mehr. Kaum ein anderer Baumeister verbrachte derart viel Zeit im Labor wie Haller. Das Zusammenfügen von Einzelteilen zu einem Ganzen wurde durchgerechnet und durchgespielt, noch und noch. Es war ein geduldiges Erproben aller Möglichkeiten ausgehend von der Wahl weniger Parameter. Bei einem solchen Denken war es folgerichtig, sich bei einer bestimmte Bauaufgabe nur auf wenige Module zu beschränken. Die mit Paul Schärer entwickelten Systeme Mini, Midi und Maxi stellten die perfektionierten Einzelteile zur Verfügung, aus denen Gebäude buchstäblich zusammengesteckt werden konnten. In Hallers Oeuvre tauchen sowohl Fabrikationshallen als auch Schulgebäude und sogar Einfamilienhäuser auf, die im Baukastensystem errichtet wurden. Der corbusianische Begriff «Wohnmaschine» passt exakt zu den Werken von Haller.

 

 

Formvollendete Artefakte
Man könnte meinen, dass bei soviel technischem Überbau das Ästhetische auf der Strecke blieb, doch wer schon einmal vor den Trakten der Höheren Technischen Lehranstalt in Windisch stand, kann gar nicht anders, als die Fassaden mit den grünlich schimmernden Gläsern und den abgerundeten Ecken als formvollendete Artekfakte zu bewundern. Und wer das Hauptgebäude der Kantonsschule Baden studiert, wird eher dazu geneigt sein, ein solches Gefäss als idealere Bildungsstätte zu werten als die skulpturalen Betongebilde in der Nachfolge der Architektur von Walter M. Förderer.
Haller musste miterleben, wie Ende der 1970er Jahre durch den Erfolg der Tessiner Architektur wieder Autorenwerke verlangt wurden, Gebäude, die klar und deutlich die Handschrift des Entwerfers manifestieren. Das konnte bekanntlich nur dadurch gelingen, dass die Architekten das Formenreper-toire massiv erweiterten. Ich kann mich erinnern, wie ich 2003 bei der Präsentation der Modelle für die Universität Luzern die verblüffend einfache Lösung bestaunte, die von Haller und seinen Mitarbeitern vorgeschlagen wurde, ein niedriges, langgezogenes Gebäude, das in Kontrast stand zu den prämierten Projekten, die mit wuchtigen Turmblöcken auffielen. Haller hatte nicht den Hauch einer Chance und schied bereits in der zweiten Runde aus. Im Werkverzeichnis wird das Projekt als 244. und somit als letztes aufgelistet, ein Schwanengesang, der nachdenklich stimmt.

 

Möbelsystem USM
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Haller als Schöpfer von Möbeln, genannt Möbelsystem USM Haller, weltberühmt wurde, die heutzutage in keiner von Stararchitekten entworfenen Wohnung fehlen. In der Rezeption droht sein Gesamtschaffen auf dieses Programm reduziert zu werden, das in Verbindung mit verführerischen Aufnahmen von Innenräumen in die Design-Schublade abgelegt zu werden droht.
Interpretiert man die Anordnung der Texte in der neuen Monografie als Ausdruck einer hierarchischen Ordnung der einzelnen Aspekte von Hallers Schaffen, dann rangiert das Möbelsystem ganz weit oben. Der auf Wohnkultur spezialisierte Arthur Rüegg rollt die Entstehungsgeschichte von USM Haller auf, vom noch konventionell angehauchten Schulmobiliar der 1950er Jahre zum multivariablen Möbelprogramm aus Stahlrohren, Verbindungstücken, Kugeln und Deckblechen. Glücklicherweise ist diesem Text eine von Monika Dommann verfasste, grundlegende Einführung in das Denken von Haller vorangestellt. Es wird dabei deutlich, dass das Ringen um Produkte sowohl im Kleinen wie im Grossen aus derselben Motivation entstand, nämlich Lösungen für die jeweiligen Bedürfnisse zu schaffen, die zunächst gründlich analysiert werden, um alle benötigten Elemente zu einer stringenten Synthese zusammenzufügen.

Die Unterschiede zwischen einer grossen Fabrikhalle im System Maxi und einem rollenden Gestell für die Akten ist lediglich gradueller Natur. Im dritten Aufsatz bespricht Bruno Mauer den Bautypus Schule, für den Haller wohl das meiste Herzblut vergossen haben dürfte. Die auch hier unabdingbare Analyse musste den Menschen, genauer den auszubildenden Menschen, einbeziehen, was die Aufgabenstellung ungemein verkomplizierte. Haller war sich sehr wohl bewusst, dass Bildungsziele nicht in Stein gemeisselt sein konnten, dass das, was heute gilt, morgen als überholt verworfen werden kann. Die Architektur muss dem Rechnung tragen.

Es war eine Pionierleistung, dass er Gebäude plante, die mit wenig Aufwand innenräumlich veränderbar waren. Als ob man seine Lektion verlernt hätte – die Bildung ist ein volatiles Geschäft –, werden seit den 1990er Jahren Schulhäuser gebaut, die kaum eine Flexibilät zulassen. Der Denker Haller wird in den Texten von Georg Vrachliotis, der Einblicke in die Forschungstätigkeit ermöglicht, und von Laurent Stalder, der sich mit der schwierigen urbanistischen Studie zur «totalen stadt» auseinandersetzt, vorgestellt.

 

Wer die beiden Publikationen von 1968 und 1975 mit Vorschlägen zur Bewältigung der Unterbringung der schnell wachsenden Bevölkerung nur oberflächlich studiert, kann wohl nicht anders als von einer geradezu menschenverachtenden Inbesitznahme des Bodens durch einen kühl rechnenden Technokraten sprechen. Da sollen in einer aufsteigenden Organisationspyramide Menschen in stets gleichen Containern beherbergt werden, von Einheiten mit 3200 bis zu solchen mit 120 Millionen Einwohnern, wobei die Verkehrsflüsse zwischen den Einheiten ähnlich optimiert werden sollen wie die Informationsströme in Computerchips – zumindest wird dies durch die von Hallers Lebensgefährtin Therese Beyeler perfekt ausgeschaffenen Plänen insinuiert. Es ist aber Stalder Recht zu geben, wenn man die Studie als Modell auffassen soll, als Denkanstoss zur Bewältigung einer Herausforderung, die in nicht allzuferner Zukunft zu einer Überforderung auswachsen könnte.

 

 

Architektur als eigenständiger Organismus

Schwierig zu lesen ist der Aufsatz von Steeve Sabatto, der einen eigenartigen Begriff einführt, den der Totipotenz, der – so Sabatto – von Haller selber nicht verwendet wurde. Wer bei Wikipedia nach-schlägt, wird feststellen, dass es sich um einen in der Biologie verwendeten Begriff handelt, der für die Fähigkeit von Zellen steht, eigenständige Organismen zu bilden. Dabei ist der Prozess eben nicht, wie Sabatto ihn definiert, reversibel. Ich halte es diesbezüglich mit Ockhams Devise, wonach Entitäten ohne Notwendigkeit nicht zu vermehren seien. Problematisch ist meiner Ansicht nach auch der Aufsatz von Nils Röller, der aus einer Begegnung des Essayisten Vilém Flusser mit Haller eine Art Gleichgesinntheit abzuleiten scheint.

Die detaillierte Zusammenfassung des Vortrages von Flusser, der auf Einladung von Haller 1991 an einer Tagung in Karlsruhe auftrat, sagt einiges über den Denkakrobaten Flusser aus, aber kaum etwas über seinen Gastgeber. Und beim Aufsatz von Werner Oechslin über die Geschichte der Technik verliere ich mich – wie häufig bei seinen Texten – im Gewusel von Zitaten und Verknüpfungen aus einer Unmenge von Publikationen zur Architekturtheorie. Hallers Name taucht erst gegen Ende des Rundganges auf, ohne dass ich erkennen kann, was die vorangestellte Erörterung mit seinem Gesamtwerk zu tun hat.

 

Gesamtkunstwerk

Seichtere Gewässer betritt man im Schlussteil der Aufsatzsammlung. Hier kommen vor allem Freunde und Mitarbeiter von Haller zu Wort. Teilweise sind es Wiederabdrucke wie etwa der durchaus kritische, aber insgesamt wohlwollende Kommentar von Luigi Snozzi, der 1981 einen Beitrag für ein Spezialheft von «werk, bauen+wohnen» für die Solothurner Schule verfasst hatte. Wer an eine Annäherung an den Menschen Haller interessiert ist, dem wird mit den persönlich gefärbten Schilderungen von Franz Füeg, Paul Schärer, Thomas Herzog, Ludger Hovestadt, Kurt Breiter und Christian Müller ein breites Tor geöffnet.
Erstmals liegt nun ein Gesamtverzeichnis der Werke von Haller vor, von denen die bedeutendsten zusätzlich mit Kommentaren, Fotos und Plänen hervorgehoben sind. Es fällt dabei auf, dass nicht unterschieden wird zwischen dem Realisierten, dem nur Projektierten und dem im Labor Erforschten. Das dürfte ganz im Sinne von Haller sein, dem alle Ebenen gleich wichtig waren.

 

 

Laurent Stalder, Georg Vrachliotis (Hrsg.)

Fritz Haller Architekt und Forscher

348 S., gta Verlag Zürich 2015

CHF 89/€ 85.

978-3-85676-334-3

 

 

Buchtipp Literatur & Kunst

 

«Norm und Diversität – Die Ästhetik der Platte»
Wohnungsbau in der Sowjetunion zwischen Stalin und Glasnost

Der serielle Wohnungsbau in der UdSSR ist das grösste Bauprogramm der modernen Architektur und ein widersprüchliches Thema, das in der aktuellen Bauforschung bislang kaum beachtet wurde. Plattenbauten prägten und prägen noch heute den Alltag von mehr als 170 Mio. Menschen, ein Phänomen, das eine Würdigung in den Chroniken des 20. Jahrhunderts verdient.

 

Nach dem Zerfall der Sowjetuion waren die bauhistorischen Ikonen zwar schnell gefunden und publiziert, doch die Alltagsarchitektur wurde bisher nur fragmentarisch behandelt. Philipp Meuser legt nun mit der Forschungsarbeit «Die Ästhetik der Platte» den Grundstein für eine wissenschaftliche Erschliessung des auch gestalterisch unterschätzten seriellen Wohnungsbaus.

 

Der Anspruch dieses umfangreichen Werkes ist den sowjetischen Wohnugsbau zwischen Stalin und Glasnost (1955-1991) in den Kontext der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Die in drei Abschnitte eingeteilte Untersuchung stellt zunächst den soziolukturellen und architekturtheoretischen Zusammenhang zwischen den Debatten der frühen Moderne und den Anfängen des industriellen Bauens in Europa her.
Neben der Einordnung des Massenwohnungsbaus in den bauhistorischen Kontext der Sowjetmoderne werden in dieser Untersuchung zehn gebäudekundliche Parameter zur Identifikation serieller Wohnbautypen definiert und am Beispiel von drei ausgewählten Städten in der ehemaligen Sowjetunion angewendet: Moskau, Leningrad und Taschkent. Insgesamt zeichnet «Die Ästhetik der Platte» ein neues Bild vom industriellen Wohnungsbau in der UdSSR, der nicht nur den Alltag von Sowjetbürgern prägte, sondern auch das Erscheinungsbild vieler Städte zwischen Kaliningrad und Wladiwostok bis heute dominiert.

 

 

Philipp Meuser, *1969, Architekt und Verleger, Studium der Architektur in Berlin und Zürich mit den Schwerpunkten Geschichte und Theorie. Bau- und Planungsprojekte in Osteuropa und Zentralasien. Forschungen zum Wohnungsbau in der Sowjetunion sowie Publikationen u.a. zur sozialistischen Architektur.

 

 

Philipp Meuser
Die Ästhetik der Platte
DOM publishers, Berlin 2015
235 × 275 mm, 728 Seiten
über 1.400 Abbildungen
Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-86922-399-5 (deutsch)
CHF 121.50. € 98.

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