Tanzbrunnen
Montreal-Pavillon.
Yuzhong I, Chongqing, China, 2011 Foto © Gisela Erlacher
Foto: PD
«Frei Otto – ein Grenzgänger zwischen Architektur und Ingenieurbau»
Von Fabrizio Brentini
Den am 9. März 2015 verstorbenen deutschen Baumeister Frei Otto bezeichnete Rainer Gabriele in der nach wie vor massgebenden, 2005 erschienenen Monografie treffend als «Grenzgänger zwischen Architektur und Ingenieurbau». Obwohl sein Werkverzeichnis nicht weniger als 200 Projekte auflistet, ist kaum ein Bau von ihm ohne Zusammenarbeit mit anderen erhalten geblieben.
Das hat damit zu tun, dass vieles nur auf dem Papier und in Modellen (obwohl einige dieser Projekte mehr Einfluss auf die zeitgenössische Architekturdiskussion hatten als viele der bewunderten Megarealisationen internati-onal tätiger Stars) oder als temporäre Installationen entwickelt wurde. Untrennbar verbunden ist sein Name mit der Dachlandschaft des für die Olympiade 1972 in München erbauten Parks, doch geht dabei vergessen, dass der Gesamtentwurf vom Büro Behnisch und Partner stammt, das bei der Realisation schliesslich eng mit Frei Otto zusammenarbeitete. Das war bei vielen anderen Herausforderungen seine Rolle. Teamfähig wie kaum ein anderer seiner Zunft unterstützte er mit seinem immensen Wissen und seiner Erfahrung renommierte Architekten bei der Umsetzung wagemutiger Ideen. Er selber be-schreibt seine Rolle wie folgt: «Vom Herzen bin ich Gestaltsucher und manchmal auch Gestaltfinder, der sich der Unvollkommenheit seines Tuns und seiner Produkte bewusst ist».
Energiesparendes Wohnen
Seine Leidenschaft galt der Erforschung Material sparender Konstruktionen, wobei für ihn das Studium der Natur grundlegend war, eine Tätigkeit, die man heute als Bionik bezeichnen würde. So experimentierte er bereits in den 1950er Jahren mit Membranen, die mit wenigen Stützen und Drähten über grössere Flächen gespannt wurden. Ein nächster Schritt waren Seilnetzkonstruktionen, die im deutschen Pavillon für die Weltausstellung 1967 in Montréal zu einem Welterfolg wurden. Frei Otto schlug auch pneumatische Artefakte vor, bei denen riesige Gewölbe stützfrei und nur mithilfe eines Unterdruckes Schutz für ganze Städte bieten könnten. Und er suchte nach Stützsystemen, die ähnlich wie bei Bäumen mit starker Verästelung mit einem Minimun an Werkstoffen eine maximale Stabilität erreichen sollten.
Studiert man das Werkverzeichnis fallen die zahlreichen Projekte für den arabischen Kulturraum auf, wo die Tradition des Wohnens in Zelten offensichtlich ein tiefes Verständnis für die Anliegen von Frei Otto gefördert hat. Und einige wenige Spuren führen auch in die Schweiz. Frei Otto wirkte als Berater für die Zeltarchitektur von Marc Saugey mit, der damit an der Expo 1964 das Hafenareal bespielte. Bekannt ist auch eine aus dem Jahre 1960 stammende Fotomontage des Genfer Sees mit dem Schloss Chillon, auf der eine transparente Kuppel eine Badeanstalt inmitten des Sees überwölbt.
Frei Otto überprüfte seine Resultate und Erkenntnisse nicht nur an Modellen, von denen noch rund 400 in Karlsruhe archiviert sind, sondern er beschrieb sie auch in unzähligen Artikeln, sodass er ebenso als Architekturtheoretiker bedeutend ist. Nach wie vor empfehlenswert ist das 1984 erschienene und weiterhin erhältliche Sammelwerk «Frei Otto. Schriften und Reden 1951–1983», worin der Autor in prägnanter Sprache seine Analysen zu Aspekten des Wohnens und Bauens ausbreitet. In vielen Texten tritt er als engagierter Missionar auf, teilweise als unerbittlicher Kritiker des Platz raubenden und Ressourcen verschwendenden Bauens. Er ist gleichsam ein Grüner avant la lettre, der heute aktuelle Themen wie Energie sparendes Wohnen, Landschaft schonenden Städtebau, ökologisches Bauen antönt und als grosse Herausforderungen der Zukunft vorträgt.
Anlässlich seines Achtzigsten im Jahre 2005 richtete das Architekturmuseum München eine grosse Ausstellung ein, die von der bereits erwähnten Monografie begleitet wurde. Irene Meissner und Eberhard Möller wollten dem Altmeister zum Neunzigsten eine weitere Schrift schenken. Frei Otto, der noch an den Vorbereitungen mitgewirkt hatte, sollte das Erscheinen nicht mehr erleben, und so ist das nun vorliegende Buch zu einem Nachruf geworden. Es ersetzt die Monografie von 2005 nicht, im Gegenteil. Es kommt mir so vor wie bei Grossanlässen, die von derart monumentalen und kaum verdaubaren Katalogen begleitet werden, dass für weniger Anspruchsvolle Zusammenfassungen in Broschürenformat angeboten werden.
Den Herausgebern gelang eine stimmige Einführung in alle wesentlichen Aspekte der Arbeit von Frei Otto, man lernt die Hauptthemen kennen, die mit Kurzkommentaren und Beispielen vorgestellt werden. Man wird auf mögliche Nachwirkungen aufmerksam gemacht, etwa auf das Werk von Santiago Calatrava und vom Büro Gerkan, Marg und Partner. Man erhält Einblick in ein bewegtes Leben, das in jungen Jahren vom Krieg geprägt war. Der Sonderweg von Frei Otto ist aus dieser Perspektive auch als Verarbeitung seiner Erlebnisse in den 1940ern zu interpretieren. Statt Klassizismus ein Bekenntnis zu den neuen Industrieprodukten auch in der Architektur, statt das Bauen für die Ewigkeit das Anbieten von ephemeren Gebilden, statt Monumentalität Leichtigkeit und Transparenz, statt Namenskult Forschen und Arbeiten im Team.
Irene Meissner/Eberhard Möller (Hrsg.)
Frei Otto
forschen bauen inspirieren
a life of research construction and inspiration
d/e, 128 S., Edition Detail München 2015
CHF 51
978-3-95553-252-9
Dieses Buch war als Würdigung zu Frei Ottos 90. Geburtstag am 31. Mai gedacht, es ist nun wie der renommierte Pritzker Architektur-Preis für Frei Otto zu einer posthumen Ehrung geworden. Anhand von Frei Ottos Werk zeigt es die Bandbreite seines Schaffens und wie seine Vorstellungen weltweit aufgegriffen und fortgeführt wurden. www.pritzkerprize.com
Buchtipps L&K Architektur
«Hybride Räume: Gisela Erlacher, Fotografin»
Das Interesse der österreichischen Fotografin Gisela Erlacher, die u.a. Kamera in Wien studiert hat, gilt hybriden, improvisierten Situationen im Stadtraum. Vor dem Hintergrund fortschreitender globaler Beschleunigung und Urbanisierung und dem dadurch ansteigenden Druck auf den öffentlichen Raum rücken die verdrängten, «unbewussten» Orte vermehrt in den Fokus.
In «Himmel aus Beton» bildet Gisela Erlacher jene Räume und Situationen ab, die durch Überbauung oder Aneignung unter Brückenbauwerken entstehen. In China, Grossbritannien, den Niederlanden und Österreich fotografierte sie jene «Nicht-Orte», die geprägt sind durch das «Darunter» und die daraus erwachsenden, ganz spezifischen und immer wieder verblüffenden räumlichen Konfigurationen und Nutzungen.
Dieses neue Buch zeigt erstmals eine Auswahl der eindrucksvollen, auf mehreren Ebenen lesbaren Fotografien, ergänzt durch Essays von Lilli Lička und Peter Lodermeyer über die Arbeit von Gisela Erlacher und die Räume, die sie in ihren Bildern festhält.
Gisela Erlacher
Himmel aus Beton
Park Books Zürich, 2015
Essays d/e von Lilli Lička, Peter Lodermeyer
CHF 39
ISBN 978-3-906027-92-0
«Hong Kong»
Das faszinierende urbanistische Forschungsprojekt zweier Schweizer Architektinnen gibt Einblick in das alltägliche Leben der dicht besiedelten Stadt Hongkong abseits der Hauptstrassen.
«The night we arrived in Hong Kong, we had the feeling that life in this city exists on a different scale – maybe a termite’s.
We start believing, like archaeologists, that these spaces can tell us more about the story of the city and its successive traces of evolution».
Géraldine Borio, Caroline Wüthrich
HongKong in-between
Park Books Zürich, 2015
Text in English and Chinese
Paperback
248 pages, 77 color and 80 b/w illustrations and graphics,
folded supplement
15 x 21 cm
ISBN 978-3-906027-77-7
«TYPOLOGIE moderner Städte»
Paris, Delhi, São Paulo, Athens. Review No. III
Typische Bauten in vier Metropolen, vorgestellt mit Grundrissen, axonometrischen Zeichnungen, Fotos und kurzen Texten: die Fortsetzung des erfolgreichen Konzepts der Gebäudeanalyse.
Urbane Architektur
Architektur entsteht heute immer im städtischen Umfeld. Damit stellt sich mit jedem Bauprojekt auch die Frage, welcher Art und Form die Stadt sein soll, die mit jedem neuen Gebäude wächst und sich verändert. Viele Architekten verstehen heutzutage die von ihnen entworfenen Häuser als auf sich selbst bezogenen Designobjekte, als individuelle, architektonische Artefakte. Die daraus gebaute Stadt verkommt in der Folge zu einer Ansammlung von isolierten Objekten, einer Art (schlecht kuratierter) Design Collection. An vielen Orten dieser Welt sieht so inzwischen die gebaute Realität aus. Dabei wird vergessen, dass die Stadt als System verstanden immer wesentlich mehr sein muss als die Summe ihrer Teile. Ihre Gebäude sind nicht autonom, sondern weisen Gemeinsamkeiten auf und sind geprägt von einer städtischen Kultur. Sie folgen gemeinsamen Regeln, die ihr Zusammenwirken bestimmen und beschreiben. Besonders interessante Beispiele sind die vier Metropolen Paris, Delhi, Sao Paulo und Athen, exemplarisch im Hinblick auf ihre urbane Kultur, ihre öffentlichen Räume und ihre prägnante Architektur.
Typology
Park Books Zürich 2015
Herausgegeben von Emanuel Christ, Victoria Easton,
Christoph Gantenbein und Cloé Gattigo
Text Deutsch und Englisch
Gebunden
228 Seiten, 57 farbige und 805 sw Abbildungen und Pläne
CHF 59. € 58
24.5 x 32.5 cm
ISBN 978-3-906027-63-0
Zum 50 Todestag:
«LE CORBUSIER – DIE MENSCHLICHEN MASSE»
Die lebenslange Auseinandersetzung mit den Proportionen des menschlichen Körpers und dessen Behausung: Eine umfassende Neuvermessung von Le Corbusiers Schaffen und Architektur und Kunst.
Jeder verbindet den Namen Le Corbusier mit moderner Architektur. Dieser bedeutende Gestalter hat in der Tat die grossen industriellen und ästhetischen Umwälzunge begleitet, die das 20. Jahrhundert kennzeichnen, indem er Zweifel, aber auch scharfe Kritik an der Rationalisierung der Stadtplanung und dem gemeinschaftlichen Wohnen geäussert hat, Relikte aus der Zeit des Wiederaufbaus und der Planung neuer Städte.
Die Frage nach dem Menschen, einer „Zelle im menschlichen Massstab“, steht nach einer globalen, kulturübergreifenden Vision der Stadt im Mittelpunkt des Werks von Le Corbusier.
Die erste Retrospektive, die das Centre Pompidou ihm 1987 widmete, hat gezeigt, dem Publikum nun einen neuen Zugang zu seinem Werk zu erschliessen, fokussiert auf die Stellung, die der Architekt der Menschlichkeit einräute. Von zahlreichen Architekten angewandt, ist der Modulor, das „Proportionssystem“ des architektonischen und städtischen Raums, der Garant für eine konstruktive Harmonie, eine am Mass des Menschen orientierte Ordnung, ein weltumfassendes Vermögen.
Die Ausstellung im Centre Pompidou hat sich vorgenommen, eine Genealogie der Auffassung des corbusianischen Körpers zu rekonstruieren, die unter dem Einfluss vo Gusta Fechner und der deutschen Psychophysik zur dynamischen Grundlage einer regelrechten Raumerkennung wird. Um seine künstlerische Vorgehensweise und seine Architekturpraxis besser zu verbinden, führt Le Corbusier zunächst den Begriff der Eurhythmie ein, mit der sich Émile Jacques-Dalcroze und sein eigener Bruder Albert Jeanneret befasst haben. Die Ordnungslinien der puristischen Malerei ordnen von nun an den kognitiven Raum und stimulieren die «Augen, die nicht sehen», wie der Titel eines seiner Artikel lautet.
Die Augen in den Augen – Architektur & Mathesis
Von Frédéric Migayrou
War Le Corbusier modern? Verkörperte er wirklich den Architekten, der das von der Aufklärung geerbte rationalistische Projekt realisiert hat, indem er mittels des berühmten Schlagworts «Wohnmaschine» die Entwicklung einer technologischen und rationalistischen Modernität gefördert hat, die in einer tayloristischen Vision von Architektur gründete und sich auf eine Ideologie der reinen Form stützte? Unter diesem Blickwinkel hätte Le Corbusier auch zu einer Ästhetisierung des Endzustands der Industriegesellschaft und der Maschine beigetragen, der in einer unmöglichen Synthese von Kunst, Wissenschaft und Vernunft Gestalt nimmt. Wofür ist Le Corbusier das Symptom? Obwohl er die Radikalität seines Leitsatzes «Ein Haus ist eine Maschine zum Wohnen» betont, prangert Le Corbusier die rein rationalistischen Interpretationen an – «diejenigen, die sich zu einem überspitzten Rationalismus bekennen, sind selbst am wenigsten rational» – und versichert dann, dass die Architektur «über die Maschine hinausgeht». (Auszug)
Le Corbusier – Die menschlichen Masse
Scheidegger & Spiess Zürich, 2015
Herausgegeben von Olivier Cinqualbre und Frédéric Migayrou
Gebunden 256 Seiten, 322 farbige und 123 sw Abbildungen
24 x 30 cm
CHF 49
ISBN 978-3-85881-469-2
In Kooperation mit dem Centre Pompidou, Paris
Das schön gestaltete Buch hat nur einen entscheidenden Makel: dass das letzte Bauwerk von Le Corbusier, das Heidi Weber-Museum Centre Le Corbusier, das weltweit als architektonisches Juwel geschätzt wird, nicht in der Publikation enthalten und aufgeführt wurde.
2015 Heidi Weber, Anekdoten
Zum 50. Todestag von Le Corbusier 25.08.1965
Beim Spaziergang im April 1960 erzählte ich Le Corbusier von meiner Vision, am Zürichhorn ein Museum zu bauen.
Schon drei Monate später sandte er mir farbige Pläne und ein Modell für eine Konstruktion aus Beton. Das Modell für ein Betongebäude war schön, doch war ich nicht wirklich davon begeistert, weil ich der Überzeugung war, dass Konstruktionen aus Beton nicht der Zukunft gehören würden.
Als er mir ein halbes Jahr später ein weiteres Modell für ein Gebäude aus Stahl und Glas vorschlug, freute ich mich sehr. Ein Museum aus Stahl, das bedeutet Vorfabrikation und Elementbauweise. Der Entwurf überzeugte mich vollends.
Rund drei Monate später erklärte mir Le Corbusier bei einem Essen: “Madame Weber, nous sommes retournés au béton parce que vous ne savez pas ce que vous risquez avec le métal. Le métal est plus difficile.” „Madame Weber, wir sind wieder auf ein Gebäude aus Beton gekommen, denn Sie wissen nicht, was Sie mit einem Gebäude aus Metall riskieren, eine Metallkonstruktion ist viel riskanter.”
Meine Antwort war klar: „Monsieur, je suis très déçue, parce que j’aime l’idée du métal. La construction en métal est le future.“ „Monsieur, ich bin sehr enttäuscht, weil ich die Idee von Metall liebe. Die Metallkonstruktion ist die Zukunft.“„Je suis tout-à-fait consciente que n’importe, comment je risque tous avec vous, alors fesons laquelle en métal.” „Ich bin mir vollkommen bewusst, dass ich alles mit Ihnen riskiere. Also bauen wir es in Metall.”
Er quittierte meinen Mut und meine Entschlossenheit mit einem leisen Lächeln als Ausdruck seiner Freude darüber, dass ich bereit war, wirklich alles für sein Bauwerk zu riskieren.
https://www.lecorbusier-heidiweber.ch/