FRONTPAGE

«Das Gesamtschaffen von Alvar Aalto im Vitra Design Museum»

Von Fabrizio Brentini

 

Das Vitra Design Museum in Weil am Rhein zeigt bis 1. März 2015 – parallel zum Auftritt Finnlands an der Frankfurter Buchmesse 2014 – das Gesamtwerk des finnischen Architekten Alvar Aalto (1898–1976). Eine Chance, dem nordischen Meister nach den umfassenden Gesamtdarstellungen im Jahre 1998 anlässlich seines 100. Geburtsjahres wieder zu begegnen.

 

Damals beteiligte sich auch die ETH Zürich mit einer kleinen Schau unter dem Titel «Der Magus des Nordens» an der Sichtung des immensen Nachlasses, das in eine Stiftung überführt wurde und heute im Alvar Aalto Museum in Jyväskylä konserviert wird. Die im gta-Verlag erschienene Publikation ist nach wie vor erhältlich und wird derzeit auch im Vitra Design Museum aufgelegt. Darin wird die Bedeutung der Schweiz für das Gesamtschaffen von Aalto manifest, insbesondere die Rolle, die der Schweizer Kunsthistoriker Sigfried Giedion bei der Förderung der «Marke» Aalto gespielt hatte.
Giedion hievte in seinem Epoche machenden Werk «Space, Time and Architecture» Walter Gropius, Le Corbusier und Mies van der Rohe in den obersten Architektenhimmel und bestimmte damit wesentlich die Architekturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. In der zweiten Auflage von 1949 gesellte sich dieser Trinität Alvar Aalto hinzu, dessen Gesamtschaffen Giedion seit den 1930er Jahren mit grösstem Interesse verfolgte. Er war es auch, der die Etikette «Magus des Nordens» kreierte und damit die Aufmerksamkeit der Architekturkritik auf das baukünstlerische Schaffen in Skandinavien richtete.

 

Nicht wenige Schweizer Architekten liessen sich von der eigenständigen Sprache Aaltos beeinflussen. Zu nennen ist hier in erster Linie Ernst Gisel, dessen 1955 vollendetes Parktheater in Grenchen in der Fachliteratur in die Nähe von Aaltos Rathaus in Säynätsalo (1949/52) gerückt wird, dann aber auch Eduard und Claudia Neuenschwander, die 1954 ein noch heute lesenswertes Buch über Aaltos Arbeiten aus den Jahren 1950 und 51 veröffentlichten, und Walter Moser, der nach seiner Mitarbeit in Aaltos Büro 1974 das katholische Kirchenzentrum Zürich-Leimbach mit denselben Keramikkacheln einkleidete, wie Aalto sie 1965 für das Rathaus in Seinäjoki eingesetzt hatte.

 

 

Kennzeichen der Architektur von Aalto
Es ist gar nicht so leicht, das Charakteristische von Aaltos Architektur herauszuschälen. Lässt sich das 1929 bis 1933 errichtete Sanatorium von Paimio – eine bedeutende Quelle für das Zürcher Universitätsspital Zürich –, mit dem Aalto erstmals international auf sich aufmerksam machen konnte, problemlos der Weissen Moderne zuordnen, löste er sich mit der berühmten gewellten und geneigten Schauwand aus Holz im finnischen Pavillon anlässlich der Weltausstellung in New York von 1939 vom Diktat des Rechten Winkels. Die gewellte Wand oder Decke – erstmals erprobt in der 1935 eröffneten Bibliothek in Viipuri (heute Russland), später monumental entfaltet in der Fassade des Studentenwohnheimes Baker House in Cambridge (Mass.) –, führte Giedion auf die von Wasser und Wald gebildeten Konturen der finnischen Seenplatte zurück, was seither schon fast dogmatisch von Fachbuch zu Fachbuch übertragen wird. Die entsprechende berühmte Bildseite im erwähnten Werk von Giedion hat «die Rezeption von Aalto mehr beeinflusst […] als jedes einzelne Bild oder Projekt», wie Eeva-Liisa Pelkonen in ihrem Essay für die Begleitpublikation wohl treffend schreibt. Auch wenn die gekrümmte Linie bzw. die gewölbte Schale ein wichtiger Aspekt der Handschrift Aaltos ist – sie ziert auch die Plakate der Ausstellung –, darf nicht übersehen werden, dass Aalto bis zu seinem Lebensende immer wieder höchst kubische Raumkompositionen vorlegte, wie etwa 1956 mit dem Gebäude für die Staatliche Pensionskasse in Helsinki. Faszinierend in seinem Schaffen ist gewiss das Experimentieren mit unterschiedlichen Werkstoffen, worunter Holz aus naheliegenden Gründen der bedeutendste war. Doch auch Marmor wurde eingesetzt, wie das Beispiel des Kulturzentrums Wolfsburg (1958/62) demonstriert; und Klinker, was auf den Einfluss von Frank Lloyd Wright verweist. Aalto variierte von Arbeit zu Arbeit die Anordnung der Räume, die Fluchten, das Spiel von Innen und Aussen derart, dass jedes vollendete Werk nur in der Begehung vor Ort erfasst werden kann.

 

 

Die Ausstellung im Vitra Design Museum
Heute eine Ausstellung über Aalto einzurichten, ist kaum mit einem Risiko verbunden, und gleichwohl müssen sich Kuratoren überlegen, wie man ein weitgehend vertrautes Gesamtschaffen so präsentiert, dass es haften bleibt. Den Titel «Alvar Aalto – Second Nature», den der Kurator Jochen Eisenbrand für die wohltuend überschaubare Ausstellung im Gehry-Gebäude verliehen hat, wird im Begleitbuch wie folgt indirekt erläutert: «Aalto sah sich […] als „chef d’orchestre“, der alle Künste zusammenführt, um ein harmonisches, sinfonisches Ganzes zu schaffen. Dadurch sind lebendige Räume entstanden, die Wärme ausstrahlen, die durch subtile Lichtchoreografie führen, orientieren und leiten, überraschende Blickbezüge zwischen Innen und Aussen bieten, mittels Kunst und Kultur Identifikation stiften und ihren Nutzern zu einer zweiten Natur werden».

 

Die Präsentation ist mehrschichtig, denn nebst originalen Exponaten – die meisten aus dem Aalto-Museum und aus der hauseigenen Sammlung – bilden die speziell hierfür hergestellten Aufnahmen von Armin Linke so etwas wie eine Ausstellung in der Ausstellung. Das dicke Begleitbuch mit wertvollen Essays wird auch nach Ausstellungsende gültig bleiben und die Literatur über Aalto bereichern.
Ins Blickfeld gerückt werden mit Plänen, Modellen und den Aufnahmen von Linke nur wenige Werke. Es sind die bekanntesten, die bereits in Richard Westons 1995 herausgegebenen Monografie ausgelegt werden – mit einer interessanten Ausnahme: Nach seiner ersten Italienreise im Jahre 1924 und immer noch im Einflussbereich der so genannten Nordischen Romantik verschrieb sich Aalto einem neuklassizistischen Duktus. In einer Abteilung der Ausstellung werden frühe Skizzen und die 1926/29 erbaute Kirche in Muurame als Belege für diese ansonsten stillschweigend übergangene Phase gezeigt. Eine wichtige Sektion wurde mit den Möbeln, Lampen und Vasen bestückt, die Aalto zunächst für bestimmte Gebäude entworfen hatte, später aber über die von ihm gegründete Firma Artek in Serie produzierte und vertrieb. Hatte er zu Beginn noch mit Stahlrohr geforscht, konzentrierte er sich später auf Bugholz, aus dem der berühmte Armlehnsessel 41 von 1932 besteht. Von hier führt der Besucherweg zu den Vitrinen mit den Vasen, aus denen die Savoy-Vase von 1936 heraussticht, und zu einer abgedunkelten Nische mit der raumhohen Fotografie der Wand im finnischen Pavillon der Weltausstellung von 1939. Die Aufnahme stammt von Ezra Stoller, der damit eine ähnliche Inkunabel schuf wie Julius Shulman mit seiner Nachtaufnahme des Case Study House Nr. 22. Im selben Raum wird der eigens für die Weltausstellung von Heikki Aho und Björn Soldan produzierte Film «Suomi Calling» projiziert, der die finnische Natur in Kontrast zur Industralisierung setzt.
In einem weiteren Raum hängen Kunstwerke von Aalto selber, aber auch von Kunstschaffenden, zu denen Aalto eine enge Beziehung hatte, wie etwa Jean Arp, Alexander Calder und Fernand Léger. Es wird hier ersichtlich, dass gerade die nonfigurative Kunst für seine architektonische Handschrift inspirierend wirkte. Im Obergeschoss des Museums trifft man auf Werke, die Aalto nach dem Krieg insbesondere auch ausserhalb Finnlands realisieren konnte, in Deutschland, in Amerika, in Italien. Leider ausgeblendet wird sowohl in der Ausstellung wie im Begleitbuch Aaltos Wirken in der Schweiz, wo mit dem Hochhaus in Luzern-Schönbühl nicht die unbedeutendste seiner Arbeiten steht.

 

 

Die Begleitpublikation
Im fast 700seitigen Begleitbuch sind sämtliche Aufnahmen von Linke veröffentlicht. Es werden die Exponate aufgelistet und es wurde eine knappe Werkliste samt Biografie erstellt. Zentral sind aber die Essays, die zum Teil überraschende Zusammenhänge neu beleuchten, etwa Aaltos Vorliebe für den Film, den er in den 1930er Jahren auch in seiner Heimat förderte, den Umgang mit künstlichem und natürlichem Licht, die Auseinandersetzungen in Bezug auf das Copyright bei den Möbelentwürfen, die Beziehung zu CIAM, wo Aalto als Hauptvertreter der von Giedion so bewunderten skandinavischen Szene galt, schliesslich die Projekte für Irak und Iran, wovon aber nichts umgesetzt werden konnte. Nebst diesen Bemühungen ausserhalb Finnlands wird noch das Wirken in Deutschland und Italien beschrieben.
Auch bei dieser Ausstellung steht alleine der Name «Alvar Aalto» im Titel, was insofern überrascht, als bereits Giedion auf die prägende Rolle von Aaltos erster Frau Aino aufmerksam gemacht hatte. Bis zu ihrem frühen Tode im Jahre 1949 arbeitete sie im Team mit ihrem Manne. Die Entwürfe und Pläne waren mit beiden Namen versehen. Auch Aaltos zweite Frau Elissa war seine engste Mitarbeiterin, sie führte das Büro nach seinem Tode im Jahre 1976 bis 1994 weiter und brachte etliche Projekte zu Ende wie beispielsweise die Oper in Essen. Es wäre mutig gewesen, diese beiden Frauen durch die Erwähnung im Titel zu würdigen.

 

Ausstellung bis 1.3.2015 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein (www.design-museum.de).
Danach in Barcelona und Madrid.

 

Jochen Eisenbrand und Mateo Kries (Hrsg.)
Alvar Aalto. Second Nature

Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2014

688 S., € 69,90.

ISBN 978-3-931936-87-7

 

 

L&K-Buchtipp


«Architekturführer Kasachstan» 
Kasachstan ist bislang ein weisser Fleck auf der architektonischen Landkarte. Philipp Meuser und die Autoren des Architekturführers Kasachstan unternehmen erstmals den Versuch, die Baukunst des Landes in seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit – zwischen orientalischer Traditionsfindung, westlichen Vorbildern und russisch-sowjetischem Erbe – zu würdigen und zugleich kritisch zu analysieren.
Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 wird Kasachstan von Nursultan Nasarbajew mit ehrgeizigen Zielen regiert. Bis 2050 soll das an Bodenschätzen reiche Land zu den 30 entwickeltsten Staaten der Welt gehören. Derzeit bereitet man sich für die Weltausstellung 2017 vor. Die Hauptstadt Astana wird dann erst 20 Jahre alt sein: Sie wurde 1997 gegründet, Bevölkerung, Wirtschaft und Bautätigkeit wachsen seitdem unaufhörlich. So entstand hier – nicht zuletzt dank sprudelnder Einnahmen aus dem Ölgeschäft – mitten in der Steppe ein beispielloses architektonisches Versuchslabor: nicht nur kasachische Architekten liessen hier ihrer Phantasie freien Lauf, sondern auch globale Akteure wie Norman Foster, Massimiliano Fuksas und Kisho Kurokawa (†). Dagegen ist die ehemalige Hauptstadt Almaty im Südosten ein «bunter Architekturzirkus mit allerlei Darbietungen aus der Baugeschichte»: Europäische Stile aus zwei Jahrtausenden werden hier hemmungslos zitiert. Dies belegt der Band mit insgesamt 100 Projekten zeitgenössischen Bauschaffens dieser beiden Städte.
Bei der Suche nach der kasachischen Architektur stiess das deutsch-kasachische Autorenteam auch auf weit entfernte und im europäischen Verständnis eigenartige Orte wie etwa den Weltraumbahnhof Baikonur, auf die Kasinostadt Kaptschagai (das «kasachische Las Vegas», in dem die «nouveau riches» ihrer Spiellust frönen) oder zu den Fischern am fast ausgetrockneten Aralsee, die um ihre Existenz kämpfen. Die ausgewiesenen Kenner Kasachstans führen auch zu unbekannten Städten am Rande von Atomwaffentestgebieten und des Uranabbaus, zu den Arbeiterstädten, die einst für die Rüstungs- und Rohstoffindustrie entstanden sind: Ust-Kamenogorsk in der Nähe der chinesischen Grenze, Pawlodar im russisch geprägten Norden oder die sowjetische Musterstadt Aktau am Kaspischen Meer. Klaus Pander (DuMont-Kunstreiseführer Zentralasien), der vor über 50 Jahren zum ersten Mal in Kasachstan war, führt in die Geschichte und Kultur ein.

 

Indem sich die Autoren der Architektur annähern, schaffen sie ein differenziertes Portrait eines Landes, das von Gigantomanie und rasanter Entwicklung auf der einen, von Umweltzerstörung und Armut auf der anderen Seite geprägt ist.

Bisher gibt es keine deutschsprachige Literatur, die das aktuelle Architekturschaffen und die Baugeschichte Kasachstans so umfangreich und kontextbezogen zusammenfasst und dokumentiert.

 

 

Philipp Meuser (Hrsg.)
Kasachstan
Architekturführer
DOM publishers, Berlin
Mit Beiträgen von Adil Dalbai, Guido Herz, Yuliya Sorokina,
Götz Burggraf, Henning Büchler, Ingo Zasada, Dmitrij Chmelnizki,
Peter Knoch und Klaus Pander
134 × 245 mm, 540 Seiten, 800 Abbildungen, Softcover
CHF 61,80. EUR 48,00
ISBN 978-3-86922-272-1 (deutsch)

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