FRONTPAGE

«Die Universität Miséricorde in Fribourg – ein Hauptwerk der Perret-Schule in der Schweiz»

Von Fabrizio Brentini

 

Ende der 1970er Jahre besuchte ich als Student, wie viele andere Kolleginnen und Kollegen aus der Innerschweiz, die Universität Miséricorde in Fribourg. Für mich war es ein Aufbruch zu ganz neuen Ufern, und mit diesem verbinde ich heute noch das unweit des Bahnhofes thronende Gebäude. Die Architektur hatte für mich schon damals etwas Angestaubtes, sogar etwas leicht Morbides.

Das hatte mit der speziellen Zurschaustellung des unverputzten Betons zu tun, was in der nun vorliegenden Monografie als Betonklassizismus etikettiert wird. Zudem waren die Gänge recht dunkel, das Mobiliar schwerfällig, die Arbeitsplätze in den Hörsälen unbequem. Welch ein Kontrast zu den eleganten, von Franz Füeg 1960 bis 1968 konstruierten Kuben für die naturwissenschaftliche Abteilung im Quartier Pérolles!

Entworfen wurde die Unversité Miséricorde unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg von Denis Honegger (1907–1981), einem Schweizer, der in Paris ein Architekturbüro führte und sich für die hiesigen Projekte mit dem in der Westschweiz bestens verankerten einheimischen Architekten Fernand Dumas (1892–1956) verband. Dieser wurde als Coautor stets mitgenannt, doch seine Tätigkeit beschränkte sich auf den Kontakt zu den Behörden und auf die Bauführung vor Ort. Honegger war zuerst im Atelier von Le Corbusier tätig, bevor er bei Auguste Perret gleichsam in leitender Stellung Projekte beaufsichtigte. Dies erklärt die offensichtliche Nähe der in der Universität Fribourg zur Anwendung gelangten architektonischen Sprache zur Auffassung von Perret. Man kann sich sogar fragen, worin in Fribourg die Eigenleistung von Honegger besteht. Die in Kassetten aufgelösten Fassaden, die kannelierten Säulen, die in Fensteröffnungen eingelassenen Claustras, all dies schöpft aus dem Vokabular des französischen Meisters, und kennte man den Namen Honegger als Entwerfer der Universität nicht, wäre man bei einer ersten Analyse geneigt, die Miséricorde Perret zuzuschreiben. Die Perret-Schule hatte in der Westschweiz einen gewissen Einfluss. Honegger selber baute in Fribourg wenig später mit der von Wohnblöcken eingerahmten Kirche Christ-Roi ein weiteres auffälliges Denkmal in der Manier von Perret. Erwähnt müssen auch die Werke von Jeanne Bueche, insbesondere ihre 1952 eingeweihte Chapelle de Montcroix in Delsberg. In der deutschen Schweiz bezeugen die frühen Kirchen von Ferdinand Pfammatter den Einfluss von Perret, doch im Gegensatz zur Westschweiz galt dessen Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg als überholt.

 

Das Freiburger Architekturforum gab zur Feier des zehnjährigen Bestehens mit der Monografie über die Universität Miséricorde seine erste gedruckte Publikation heraus. Die umfangreiche Festschrift von 1941 wurde als Faksimile in den Band integriert. Das ist zwar eine bestechende Idee, doch hätte ich eine Trennung von Festschrift und Monografie bevorzugt. Nicht nur typografisch gibt es zwischen Alt und Neu einen Bruch, sondern auch durch den Umstand, dass die Festschrift auf Französisch erschienen ist, während die Monografie zweisprachig bearbeitet wurde. Nebst den zum Teil für Laien unverständlichen Berichten der Ingenieure, die seitenweise komplexe Formeln zur Statik auflisten, frieren die 37 Seiten beanspruchenden Inserate beteiligter Unternehmungen einen Moment fribourgi-scher Industriekultur ein. Der Hauptkommentar stammt aus der Feder der Architekten, welche die Leser deskriptiv durch die gesamte Anlage führen.

 

Die vom Architekturhistoriker Christoph Allenspach verfasste kunsthistorische Analyse wird von einem 50seitigen Portfolio eingeleitet, in dem fünf Fotografen Gelegenheit erhielten, ihre Impressionen auszulegen. Allenspachs Aufarbeitung des Entstehungsprozesses fördert einige überraschende Ergebnisse zu Tage. Architekt Honegger war im Atelier von Le Corbusier exakt zu der Zeit engagiert, als das Projekt für den Völkerbundspalast in Genf vorangetrieben wurde. Allenspach entdeckte eine Skizze von Honegger mit dem Grundriss der ganzen Anlage und – darin eingeschlossen – einer von diesem selber stammenden Variante. Es ist in der Tat plausibel, nicht nur die ehemals asymmetrische Disposition der Universitätsflügel, sondern auch die in den 1970er Jahren hinzugekommenen Ergän-zungen in die Nähe des corbusiansichen Planes für Genf zu rücken. Des Weiteren filtert Allenspach aus den wenigen theoretischen Texten von Honegger dessen Anliegen und Haltung heraus, inklusive Proportionenlehre, die anhand von Fassadenstudien visualisiert wird. Wesentlich verständlicher als in der Festschrift erörtert Eugen Brühwiler die Rolle des Betons und die Prinzipien der Statik. Anschliessend präsentiert Allenspach seine Recherchen in Bezug auf den 1937 ausgeschriebenen, aber alles andere als korrekt durchgeführten Wettbewerb für diese Universität, die von Anfang an als katholisches Bollwerk verstanden wurde, als «neue Kathedrale der Wahrheit und des Glaubens», wie es die Partei der Freiburger Konservativen formulierte. Eingeladen waren Freiburger Architekten, die durch zehn persönlich aufgeforderten Schweizer Architekten ergänzt wurden. Eigenartigerweise trug unter 22 Projekten (nachdem zehn Projekte von Studierenden des Freiburger Technikums ausgeschieden wurden) eine anonyme Eingabe den Sieg davon. Sie stammte von Honegger, der zudem zwei weitere Entwürfe eingereicht hatte. Von den Konkurrenzplänen hat sich nichts erhalten. Die Auftragserteilung an Honegger erfolgte unmittelbar danach; man war offensichtlich froh, mit Honegger einen Baumeister gefunden zu haben, der sich nicht radikal der Weissen Moderne verschrieben hatte.
In meinen Augen etwas zu knapp fielen die Erläuterungen von Claude Castella zu den späteren Ausbauten aus. Ich kann mich selber noch gut an die Bauzeit Ende der 1970er Jahre erinnern, als – damals für mich unverständlich – im Stile des Altbaus der eine Flügel verlängert und mit einem zweiten Querflügel ein neuer Hofbereich geschaffen wurde. Was ich nicht wusste – das Konzept basierte auf einen früheren Entwurf von Honegger, der zudem den Ausbau selber leitete. Dass die gesamte Anlage für die Denkmalpfleger eine Herausforderung bedeutet (Thema Fenster, Mobiliar, technische Einrichtungen, Beleuchtung), wird lediglich angetönt. Grössere Diskussionen verursachte der Abbruch der eleganten Aussentreppe – es musste Platz für eine neue Mensa geschaffen werden, die 1982 eröffnet wurde.
In einem letzten Beitrag stellt Sébastian Radouan das Wirken von Honegger in Frankreich vor, wo dieser unglaublich vieles realisieren konnte. Gegen Ende seiner beruflichen Laufbahn löste er sich von seinem grossen Vorbild, doch wirklich eigenständig kann man die im Buch abgebildeten Wohnblöcke auch nicht nennen. Honegger war gewiss ein begnadeter Verkäufer und Kommunikator, doch architektonisch blieb er zeit seines Lebens ein Eklektiker.

 

 

Universität Miséricorde Freiburg
Betonklassizismus und Moderne
D/F, 322 S., Niggli Verlag Sulgen 2014,
CHF 98
978-3-7212-0905-1

 

 

 

L&k-Buchtipps


«Architekturführer Basel – Die Baugeschichte der Stadt und ihrer Umgebung»

Alle Welt schaut nach Basel, wenn dort etwas Neues gebaut wird. Die Museen, Industrie- und Bürogebäude, ganze Strassenzüge lesen sich wie ein Who‘s who der Architektur. Hier Hier bauen Global Players, und manche von ihnen haben hier auch ihren Sitz. Doch nicht nur die jüngere, auch die historische Architektur oder eigentlich das ganze Stadtensemble ziehen jährlich unzählige Architekturfans an das Rheinknie.
 

 
Warum Basel heute so ist, wie es ist, lässt sich jetzt im neuen Architekturführer Basel nachlesen, der vom S AM Schweizerisches Architekturmuseum und der Christoph Merian Stiftung herausgegeben wird. Darin erzählt die Kunsthistorikerin Dorothee Huber die spannende Architekturgeschichte Basels und seiner Umgebung: Auf 500 Seiten zeigt sie, wie sich aus den frühen Keltensiedlungen Schritt für Schritt die heutige Stadt entwickelt hat.
Ob nur mal kurz nachschlagen oder zum sich intensiv Vertiefen: Leser erfahren viel Aufschlussreiches, etwa über die frühmittelalterliche Stadtbildung und den Einfluss von Kirchen und Klöstern, über die Auswirkungen des Humanismus und die Herausbildung des Bürgertums und mit ihm über das Entstehen von Stadtpalais und Lustschlössern.

 
Basel ist die bedeutendste Architekturstadt der Schweiz.
Vor knapp zwanzig Jahren edierte das Architekturmuseum Basel den ‹Architekturführer Basel›. Dieses Standardwerk dokumentierte umfassend die Baugeschichte der Stadt und ihrer Umgebung. Das Buch war lange vergriffen, nun liegt endlich eine aktualisierte und erweiterte Ausgabe vor. Alle Gebäude werden neu fotografiert, die bestehenden Texte überarbeitet und dem neusten Stand der Forschung angepasst. Zudem werden alle relevanten Gebäude, die in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind, aufgenommen und beschrieben.

Der Führer zeigt, wie sich aus den frühen Keltensiedlungen Schritt für Schritt die heutige Stadt entwickelt hat, und wie sich diese in ihren Bauten spiegelt.

Die Publikation enthält Grundrisspläne, Namens- und Ortsregister und Stadtpläne, in denen alle vorgestellten Bauten eingezeichnet sind. Porträts bedeutender Architekten und Baumeister finden sich im ganzen Buch eingestreut.

 

 

Über die Autorin:
Dorothee Huber (* 1952) studierte Kunstgeschichte an der Universität Basel. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Museum Basel, am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der ETH Zürich, am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur gta der ETH Zürich und am Architekturmuseum Basel. Seit 1991 ist sie Dozentin für Architekturgeschichte am Institut Architektur FHNW.

 

 

Christoph Merian Stiftung,
Schweizerisches Architekturmuseum S AM (Hg.)
Dorothee Huber
ARCHITEKTURFÜHRER BASEL
Die Baugeschichte der Stadt und ihrer Umgebung
500 S., 450 meist farbige Abb., broschiert, 12 x 25 cm
CHF 59. € 49.
ISBN 978-3-85616-613-7


«Moritz Holfelder: Zwischen Vision und Funktion – der Jahrhundert-Architekt Le Corbusier»


Über Le Corbusier, den Großmeister der Moderne des 20. Jahrhunderts, ist viel geschrieben worden. Jetzt kann man den wegweisenden Architekten, dessen Todestag sich 2015 zum 50. Mal jährt, auch hören – im Original-Ton auf historischen, teils noch nicht veröffentlichten Tondokumenten. Moritz Holfelder reiste für sein neues Hörbuch «Zwischen Vision und Funktion: Der Jahrhundert-Architekt Le Corbusier» an Orte, die Le Corbusier mit seinen Entwürfen geprägt hat.

 

Holfelder fängt die spezielle Atmosphäre der Bauten ein, berichtet von Konflikten, die bei der Realisierung entstanden, und lässt Le Corbusier erzählen, was ihm bei seinen Entwürfen und Arbeiten wichtig war. Holfelder ist so ein akustisches Portrait gelungen, in dem man viel über die Person Le Corbusiers, über sein Denken und seine Theorien erfährt.

Wir hören seine Überlegungen zu Oberfläche und Raum, zur Wahl der Materialien, zu Lichtwirkung und Farbe. Malerei und Bildhauerei waren ihm ebenso wichtig wie seine theoretischen Schriften – das prägt sein Gesamtwerk, und auch sein «Gedicht vom rechten Winkel», einer Art Privatmythologie, in der er sein Selbstverständnis als Architekt zum Ausdruck bringt.

 Die Hörer reisen mit Holfelder zu einzelnen Stationen des Jahrhundert-Architekten und folgen ihm von seinen Anfängen und den ersten Bauten in der Schweiz bis zu seinen späteren Aufträgen rund um die Welt, nach New York, Moskau und Indien.

 

Sie begleiten ihn zur Villa Savoye in der Nähe von Paris, eines der wegweisenden Wohnhäuser der internationalen Moderne, oder in die Stuttgarter Weissenhofsiedlung, an der Le Corbusier auf Einladung von Mies van der Rohe mitbaute. Sie besuchen die berühmten Unités d‘habitation in Marseille und Berlin, mit denen Corbu den sozialen Wohnungsbau revolutionierte oder sakrale Bauten wie das mit Licht komponierte Kloster La Tourette und die organisch anmutende Kapelle von Ronchamp – und natürlich auch seine geliebte Holzhütte «Le Cabanon» in Roquebrune bei Nizza.

 

Moritz Holfelder lässt die Gebäude sprechen und untersucht ihren Einfluss auf die Moderne. Er thematisiert auch seinen widersprüchlich erscheinenden Charakter. Das Spannungsfeld changiert zwischen Vorbild, genialer Vision und pragmatischer Funktion. So entsteht ein vielstimmiges akustisches Bild, aus dem dieses Genie der Baukunst mit all seinen Widersprüchen ungemein lebendig hervortritt.

 

 
Moritz Holfelder
Zwischen Vision und Funktion:
Der Jahrhundert-Architekt Le Corbusier
Hörbuch, DOM publishers, Berlin 2014

CHF 20. € 14.
ISBN 978-3-86922-404-6

 

 

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