FRONTPAGE

«Nur auf einem Auge blind – zur Ausstellung «Blinde Passagiere» im Aargauer Kunsthaus»

Von Simon Baur

 

Nach «Stille Reserven» werden mit «Blinde Passagiere» im Aargauer Kunsthaus zum zweiten Mal Werke aus der Sammlung des in Basel lebenden Künstlers, Autors und Sammlers Peter Suter mit solchen aus Museumssammlungen – aus Aarau und anderen Orten – vereint und zu einem besonderen Überblick verdichtet.

 

Wir sehen nur was wir kennen
Die Zeitungen sind des Lobes voll, der Besucherandrang kann sich sehen lassen, Katalog und Zusatzprogramm sind beachtlich. Die Ausstellung sticht hervor, sie hat einen besonderen und verdienten Erfolg. Natürlich liesse sich das eine oder andere aus der Aussensicht kritisch anfügen, doch betrifft dies vor allem das Abbildungskonzept im Katalog und die etwas zu dichte Hängung in den Räumen, über solche Themen lassen sich bekanntlich Bücher schreiben. Hier soll einiges über die Kunst und den Sammler Peter Suter erzählt werden. Seit rund einem halben Jahrhundert sammelt er Kunst, Kunsthandwerk und spezielle Gegenstände, bisweilen entsteht der Eindruck er sei ein Getriebener, ein «Messie», einer der keinen Flohmarkt besuchen kann, ohne ein Bild mit nach Hause zu nehmen. Doch er ist kein zweiter «Gurlitt», der das in seinem Haus bunkert und ein Geheimnis veranstaltet. Regelmässig zeigt er seine Schätze in kleineren und grösseren Ausstellungen und Katalogen. Gleichzeitig unterstützt er einzelne lebende Künstler, aber auch Wissenschaftler sind bei ihm willkommen, sie profitieren von seinem breiten Wissen, dass er mäzenatisch zur Verfügung stellt. Die unscheinbaren Gäste im Kunstzirkus haben es ihm angetan, die stillen Orten und blinden Flecken der Kunstgeschichtsschreibung, die Werke, die es meist nicht in Museen schaffen, die es aber dennoch wert sind, beachtet zu werden. Sie hat er in «Stille Reserven» gezeigt, sie zeigt er aktuell in «Blinde Passagiere», der grossartigen Ausstellung, die momentan im Aargauer Kunsthaus zu sehen ist. Niklaus Stoecklin, Arnold Böcklin, Rudolf Maeglin, Guido Nussbaum und Mireille Gros mögen dem geübten Museumsgänger noch bekannt sein, doch wer kennt schon Hélène Amande, Gertrud Oettinger-Burckhardt oder Gertrud Schwabe, deren «Bildnis einer jungen Frau» befreiend kühn und selbstsicher wirkt. Man könnte hier rund hundert Namen aufzählen, die dem Kenner dennoch unbekannt sind: Kennen Sie etwa Erich Hèrmes, Guido Locca, Traugott Keller, Jules Moos, Fritz Widmann, Adolf Kron, Jean-Pierre Viollier und Johann Jakob Schneider? Wenn ja gehören Sie zu den wenigen Glücklichen, vielen werden die Namen aber wie spanische Dörfer vorkommen. Hier Vieles zu benennen und zahlreiche Werke zu beschreiben, macht daher nicht wirklich Sinn, da sich bei den Lesern, anders als bei den Stickereien von Sophie Taeuber-Arp, den Landschaften von Hodler und den Stillleben von Albert Anker, keine Bilder einstellen, mit Referenzen und Vergleichen hier wenig anzufangen ist.

 

 

Streiflichter
Nehmen wir uns deshalb zwei Bilder besonders vor: Hélène Amandes «Mädchen mit Hasen» und Fritz Baumanns «Frau am Fenster», beide Bilder sind um 1918 entstanden, die beiden Künstler haben sich vermutlich gekannt, im Entstehungsjahr der Bilder haben sie beide an der legendären Gruppenausstellung «Das neue Leben» in Basel teilgenommen. Beide sind sie Vertreter eines schweizerischen Expressionismus, wenngleich im Bild von Hélène Amande auch Elemente des französischen Kubismus, besonders im grünen Laub des Hintergrundes auszumachen ist. Fritz Baumanns «Frau am Fenster» interagiert zwischen deutschem Expressionismus, wie wir ihn von Paula Modersohn kennen, die Kleidung der Frau, das Tier aus dem Fenster und der Ausblick erinnern hingegen an die Malerei Henri Rousseaus. Zwei gute Beispiele für «blinde Passagiere», beides zwei besondere Werke, die es dennoch nicht in eine Museumssammlung schafften – wie hoch liegt denn überhaupt die Messlatte und wer bestimmt wer die Hürde überspringt und wer ausgeschlossen bleibt? – und doch brauchen sie sich vor den genannten Bekannten nicht zu fürchten. Doch kennen sie sich überhaupt? Ist es nicht vielmehr so, dass sie nicht nur auf unterschiedlichen Decks sondern auch auf unterschiedlichen Dampfern hausen? Die Spitzenwerke auf dem Dampfer, der in Basel oder Zürich vor Anker liegt, die in dieser Ausstellung versammelten in einem separaten Dampfer, der den Namen «Blinde Passagiere» trägt und an einer Au der Aare vertäut und verknotet ist. Wie wunderbare wäre es doch, wenn die beiden Dampfer sich vereinen könnten, das Mädchen mit den Hasen neben einem Fensterausblick von André Derain, die Frau am Fenster neben dem Selbstporträt Paula Modersohn-Beckers hängen würde. Klar, dass wäre eine andere Ausstellung, doch müssen die «blinden Passagiere» so sehr unter sich sein, wie in Aarau? Ist es nicht höchste Zeit die Kunstgeschichte neu zu schreiben, das aufs Unterdeck verbannte Fussvolk zu rehabilitieren? Das wird auch deutlich am Stillleben mit dem Blumentopf von Amédé Barth, ein in unseren Breitengraden völlig unbekannter Maler. Und doch erinnert diese Malerei an die Vertreter der neuen Sachlichkeit, würde sich aber auch als moderne Deutung zwischen all den niederländischen und flämischen Stillleben behaupten können. So geht es einem übrigens bei fast allen Werken dieser Ausstellung und das ist auch gut so. Denn es bleibt damit nicht nur bei einer beschaulichen Betrachtung. Man beginnt dadurch auch über die Absichten und Zwecke der Museen und ihrer Auswahlkriterien nachzudenken und diese zu hinterfragen. Nicht, dass man sie deswegen abschaffen muss, vor allem nicht, so lange es Sammler vom Schlag eines Peter Suters gibt, der einiges an Gegensteuer gibt, damit seine «Schäflein», die alles andere als schwarz sind, nicht vergessen gehen.

 

 

Still und blind ?
«Stille Reserven» weisen Ähnlichkeiten mit dem «Tafelsilber» und dem «Notproviant» auf, einige Geldnoten in einem Strumpf unter der dem Kissen, halbierte Birnen in Einmachgläsern, Marmelade aus überreifen Pflaumen oder einige Konserven Ravioli, die noch in einer Kellerecke schlummern. Mit den «Blinden Passagieren» verhält es sich ähnlich. Sie selbst sind nicht blind und selbst wenn sie unter Deck hausen, werden sie von den zahlenden Passagieren wahrgenommen. Es verhält sich mit ihnen ähnlich wie mit Kindern, die die Augen schliessen, damit man sie nicht sehen kann. Möchten sie denn tatsächlich auf dem Oberdeck flanieren, ist es ihnen nicht wohler in den Katakomben, den Maschinenräumen und Kombüsen? Feierten sie nicht dort ihre grössten Triumphe, konnten sie nicht dort, geschützt vor den bohrenden Blicken der Besucherscharen ihre Unschuld entfalten? Für wen sind die «Blinden Passagiere» blind, für sich selbst? Für uns Besucher, die sie nun zu sehen bekommen oder für den Sammler, der ja selbst ein Fachmann, ein Kunsthistoriker ist, der, wie er selbst auf seiner Website schreibt, zur «antiken Statuengruppe der Tyrannenmörder» promoviert hat und nun mit seiner Ausstellung selbst zu einer Art Damon mit dem Dolch im Gewande, wie ihn Schiller in seiner «Bürgschaft» beschreibt. Denn zu etwas ganz ähnlichem wird die Ausstellung in Aarau, die von Thomas Schmutz, Kurator am Aargauer Kunsthaus und Peter Suter selbst eingerichtet wurde. Wer die Werke in Aarau Revue passieren lässt, stellt fest wie wenig «Blindheit» hier um sich greift, wie viel «Sehenswertes» hier vorhanden ist, wie sehr für Qualität und Kunst gebürgt wird. Hier sind zwei Fahnder am Werk, zwei, die ein Auge für die kunsthistorischen Zusammenhänge haben, die in den Bildern spezielle Kunstgeschichten und Verweise auf andere Kunst erkennen, die erkannt haben, dass selbst jene Passagiere, die unter Deck hausen, nicht unerkannt sein wollen und das alle Beteiligten – die Kunst, die Kuratoren und die BetrachterInnen nur auf einem Auge blind sind. Was nur der Kenner weiss, hier ist längst nicht alles ausgebreitet, es gibt sie durchaus die wirklich «stillen Reserven» und «blinden Passagiere», die in den vergangenen Wochen, Monaten hinzugekommen sind, hier vielleicht nicht in den Kontext passten und auf eine weitere Gelegenheit zu warten haben, bis sie vom «Tyrannenmörder» in einer weiteren «tour d’horizon» präsentiert werden. Zum Schluss noch ein persönlicher Tipp: Besuchen Sie nicht nur die Ausstellung, erwerben oder konsultieren Sie zumindest auch den umfassenden Katalog. Bei so viel Neuem, bisher Unbekanntem, kann es leicht geschehen, dass sie manches übersehen haben, was Sie vielleicht nochmals in Ruhe studieren möchten. Dafür bietet sich mit dem Katalog der im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen und mit zahlreichen Abbildungen und Texten versehen ist eine optimale Gelegenheit, zumal er nicht besonders teuer und im Aargauer Kunsthaus und im Buchhandel für CHF 59.- zu haben ist.

 

 

«Blinde Passagiere. Eine Reise durch die Schweizer Malerei» dauert bis zum 15. April. Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz, 5001 Aarau, 10 Minuten zu Fuss vom Bahnhof aus. Das Kunsthaus ist rollstuhlgängig. Öffnungszeiten Di-So 10-17 Uhr, Do 10-20 Uhr. Sonderveranstaltungen und Führungen: www.aargauerkunsthaus.ch

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