FRONTPAGE

«Nicole Eisenman: What happend – Eine Chronistin unserer Zeit»

Von Ingrid Schindler

 

Das Brandhorst Museum in München zeigt eine Werkschau der New Yorker Künstlerin Nicole Eisenman von 1990 bis zur Gegenwart. Eine gossartige Retrospektive, die in diesem Umfang noch nie in Europa zu sehen war. 

Not ladylike, Vorsicht, Männer! Die Amazonen sind im Untergeschoss des Brandhorst Museums ausgeschwärmt und spiessen euch auf! Der Ausstellungsbesuch mag manchem wie ein Spiessrutenlauf durch 30 Jahre Zeitgeschichte vorkommen. Lange bevor Begrifflichkeiten wie «gendern», «queer» und «LGBTQ+» erfunden waren, hat Nicole Eisenman althergebrachte Geschlechterrollen und -identitäten, Klischees und Tabus auf krude, witzige, unverfrorene wie auch charmante Art aufs Korn genommen. Werfen wir einen Blick auf ihr malerisches Werk!

 

Der Fisch fängt den Vogel
«Mermaid Catch», 1996: Fünf dunkeltürkise Meerjungfrauen, wie in Stein gemeisselt und zu einem Kraftknäuel im schwarzen Wasser vereint. Die muskulösen, in Lust und Leid verstrickten Fischweiber geben sich gegenseitig Halt und drücken Besorgnis und Mitgefühl füreinander aus. Die maskuline Figur am unteren linken Rand könnte die Malerin selbst sein; sie, ihre Freunde und Familie fliessen häufig in die Gemälde ein. Die wuchtigen Mermaids nehmen vier Fünftel der grossen Leinwand ein, am oberen Bildrand lümmeln drei winzige Freizeitkapitäne im Boot, die die Maids am Haken halten. Das kann nicht gut gehen. Die läppischen Männlein fügen den wuchtigen Wasserwesen zwar Schmerz zu, stellen aber keine wirkliche Bedrohung für diese dar. Im Gegenteil, die Angler ahnen nicht, warum sich ihre Ruten bis zum Bersten biegen und dass sie der Fang wohl in die Tiefe ziehen wird.

 

Was dann passiert, kann man sich ausmalen, betrachtet man andere Werke der Künstlerin. Wie etwa die Aquarelle «Matisse Dancers», 1994, wo nackte Frauen in Matisse-Manier um einen nackten Mann am Marterpfahl tanzen, und «Captured Pirates on the Island of Lesbos», 1992, wo sich lesbische Frauen an abgetrennten männlichen Genitalien delektieren. Auch das Ölgemälde «Fishing», 2000, demonstriert, wie Mann enden kann: Jägerinnen im ewigen Eis blicken stumpf und ungerührt wie bei Bruegel auf einen gefesselten Mann, der wiederum den Blick ängstlich aufs Wasser richtet. Die Frauen sind dabei, ihn kopfüber am Seil in ein Eisloch abzusenken.

 

 

Just do it! Wimmelbilder weiblicher Wollust
Die Rollen und Kräfteverhältnisse sind in Eisenmans Werk vertauscht. Frauen sind das starke Geschlecht. Es sind die Männer, denen es ans Leder geht: sie werden von lustgetriebenen, starken Frauen aufgespiesst, geröstet, getaucht, gepfählt, kastriert. Das Leid, das Männer Frauen über Jahrtausende antaten, wird umgekehrt und die Betrachterin aufgefordert, «Just do it», 2020.
Die hemmungsfreie Darstellung lesbischer Lustspiele und weiblicher Sexualität ist das grosse Thema der jungen Nicole Eisenman in den 90er Jahren. Sie zeichnet feministische Utopien und karikiert die Dominanz des Männlichen in der traditionellen Wertegemeinschaft. Gruppenbildnisse und Wimmelbilder, in denen sich die Geschlechtergrenzen verwischen und weibliche Körper wollüstig und schwerelos ineinander verrenken, bevorzugt im oder am Wasser, wie in «Swimmers in the Lap Lane», 1995, sind bezeichnend für die erste Schaffensphase der New Yorkerin, Humor, jüdischer Witz und Selbstironie fliessen ein. Man hört Eisenman förmlich lachen. Sie war selbst Rettungsschwimmerin, erläutert Monika Bayer-Wermuth, die die Ausstellung gemeinsam mit Mark Godfrey kuratiert hat.

 

 

Vom Bad Girl zum Megastar
Die 1965 im französischen Verdun geborene Künstlerin jüdischer Abstammung besitzt europäische Wurzeln. Ihre Grosseltern fliehen 1937 von Wien über Trinidad in die USA. Eisenmans Vater ist Psychologe bei der US Army und lässt sich mit der jungen Familie in Scarsdale nieder, einer Kleinstadt im Norden von New York. Im Rahmen ihres Kunststudiums hält sich Nicole ein Jahr in Rom auf und studiert italienische Renaissance und Barock, insbesondere Michelangelos schwebende Körper tun es ihr an.
Mit dem Kunstdiplom in der Tasche zieht sie nach New York, wo sie sich mit Gelegenheitsjobs und Illustrationen für die Village Voice über Wasser hält. Sie feiert ihr Coming-out in der lesbischen Community im East Village und erntet erste Erfolge mit lustigen, comicartigen Zeichnungen, Karikaturen und Waldmalereien. Rasch steigt sie zum Star der New Yorker Undergroundszene auf. Die internationale Kunstwelt wird durch feministische Gruppenausstellungen unter dem Titel «Bad Girls» auf die unkonventionelle, queere Künstlerin, die sich, alles andere als ladylike, völlig ungeniert an obszöne Themen heranwagt, aufmerksam.

 

In den Nuller Jahren gerät die Provokateurin etwas aus dem Blick, ihre Werke machen weniger von sich reden. Mit der Geburt ihrer beiden Kinder fürchtet sie, in der Versenkung zu verschwinden. Sie befindet sich in der Krise, stellt sich und ihre Kunst in Frage und setzt sich mit dem Medium Malerei und ihrem Selbstverständnis als Künstlerin auseinander. In einem Teil der Münchner Ausstellung wird auch diese Schaffensphase ins Licht gerückt, u.a. mit den Porträts/ Selbstbildnissen «Invisible Woman», 2002, «From Success to Obscurity», dem Titelbild der Ausstellung, und «Inspiration», beide 2004, oder dem Künstler mit den Werwolfkrallen (und Picasso-Streifenshirt) in «Were-Artist», 2007. Heute gilt Eisenman als eine der wichtigsten künstlerischen Positionen unserer Zeit.

 

 

«Coping» als Credo
Neuen Schub erhält Nicole Eisenman’s Werk in den vergangenen zehn Jahren. Ihr Fokus richtet sich auf Orte der Gemeinschaft wie Biergärten, Parks, Strassen, Party-, Bar- und Tischszenen. Auch hier sind Melancholie, Depression, Sinnlosigkeit, Stupidität, Ausdruckslosigkeit auf vielen Gesichtern sichtbar, was die Interpretation nicht immer so naheliegend erscheinen lässt wie in «Tea Party», 2011. Das Erstarken der Tea-Party-Bewegung provoziert Eisenman zur Darstellung ihrer Mitglieder als müder, gestriger Gesellschaft. Frau, Hund und drei Männer sehen auf dem in Kackbraun-Tönen gehaltenen, grossformatigen Gemälde ziemlich alt bis sehr alt aus: Ungepflegt, müde, schlapp und ungesund sowohl die Waffenschwester als auch die Bombenbrüder, Uncle Sam’s Streifenhose ist zerlumpt, Teebeutel und Gewehr scheinen aus der Hand zu gleiten. Das Licht, das hinter der Gruppe leuchtet, ist klein, auf dem Kanonenofen steht ein (k)alter Wasserkessel, im Lager hinter der Vierergruppe haben sich überdimensionale Spinnweben angesetzt – wirklich eine tolle Teeparty!

 

Vor allem gesellschaftspolitische Themen nehmen nun in ihren Arbeiten Fahrt auf, wie das Auseinanderdriften der Gesellschaft in den Staaten, Rechtsruck und Populismus, Finanzkrise, Trumps MAGA-Kampagne, Black Life Matter oder der Einfluss von Social Media. Coping, deutsch Bewältigung, lautet dabei ihr Motto, das sich wie ein roter Faden durch ihr Werk zieht.
Für Monika Bayer-Wermuth ist das Gemälde «Coping», 2013, denn auch eines der Hauptwerke der Ausstellung. Unterschiedlichste Figuren waten einzeln, bleich und mit sorgenvollen Gesichtern in einer Kleinstadt durch zähen, braunen Schlamm. Jede hat ihre eigene Art, damit zurechtzukommen. Ein Mann zieht lässig an einer Zigarette, ein anderer hält einen Coffee to go in der Hand, wieder ein anderer blickt achtsam auf den Schlamm, einer hat sich vom Po bis zum Scheitel einbandagiert, eine Frau trägt ihren Hund und eine Katze (Eisenman liebt Katzen) einen Vogel auf dem Kopf durch die braune Brühe, eine andere Frau watet nackt hindurch. Im Hintergrund sitzen ungerührt Menschen an Biertischen zusammen oder betrachten das Spektakel von ihrem Geschäft oder Fenster aus. Der Himmel ist bedrohlich schwarzbraun verhangen, aber die grüne, friedliche Berglandschaft zuhinterst im Bild leuchtet (sonnig)gelb. So, wie es aussieht, fliesst die Scheisse irgendwann ab, was Kuratorin Bayer-Wermuth als positive Botschaft wertet.

 

Eisenmans Werk hafte ein zutiefst verankerter Humanismus an, ist die Chefkuratorin des Brandhorst Museums überzeugt. Die Künstlerin habe ihr gegenüber geäussert, sie sei erleichtert, dass sie «Coping» nicht deprimierend fände. Letztendlich verbinde uns doch alle das Streben nach Glück, Gemeinschaft und Liebe. Apropos: «Coping» hängt just gegenüber dem Selbstporträt «The Session», 2008, das Eisenman auf der Couch ihres Vaters zeigt. Für diesen war Homosexualität eine Geisteskrankheit; er hatte lange Mühe zu akzeptieren, dass seine Tochter Frauen liebt.

 

 

Die Hosen herunterlassen: Wir sehen uns im Spiegel
Einen Kontrast zu den Gruppenszenen bilden Werke, die im Laufe der 2010er Jahre die Omnipräsenz von Bildschirmen zum Inhalt haben. Soziale Medien machen einsam: comicartige Einzelfiguren mit runden Köpfen, Nasen, Augen und Ohren starren auf Handys, Bildschirme oder Drohnen. Die soziale Isolation wird in «Breakup», 2011, buchstäblich mit breiten Wurstfingern greifbar. Wie immer geht es darum, mit der neuen Realität klarzukommen und individuelle Strategien zur Bewältigung schwieriger Situationen zu finden.

 

Von der Zeichnung, Collage, Acryl- und Ölmalerei bis zu Happening, Film, Installation und Plastik sind Eisenmans Ausdrucksformen ungeheuer breit. Ebenso vielschichtig ist ihr malerischer Stil, bei dem sie sich vieler Quellen bedient. In ihr fantasievolles Werk fliessen Elemente von Porn, Punk, Comic, naiver Malerei, Expressionismus, Neuer Sachlichkeit und Sozialistischem Realismus bis hin zu Alten Meistern ein. Zitate von Michelangelo, Bruegel, Bosch, Goya, Manet, Ensor, Grosz, Picasso, Lassnig und andere kunsthistorische Referenzen entdeckt man in ihren Arbeiten zuhauf. Im Gemälde «The Triumph of Powerty», 2009, etwa zieht ein Herr in Frack und Zylinder mit heruntergelassenen Hosen «assbackwards», wie die Künstlerin sagt, stolpernde Miniaturfiguren an einer Schnur hinter sich her, die so die Finanzkrise mit Pieter Bruegels «Blindensturz» von 1568 in Verbindung bringen. Eine Allegorie auf nimmersatte Banker und Investoren, denen Heerscharen ebenso gieriger Anleger blind folgen und dadurch in Armut stürzen.

 

Eisenman erzählt in ihren malerischen, wie auch grafischen und bildhauerischen Arbeiten Geschichten, die ins Schwarze treffen. «Ich spiegle meine Erfahrungen mit der Welt wider, während ich mich durch sie bewege», sagt die Künstlerin. Die 58-jährige klagt nicht an, sondern beobachtet und drückt den Pinsel in des Pudels Kern. Sie ist eine Chronistin unserer Zeit, knallhart, komisch, cool und doch mitfühlend und zutiefst menschlich. «What happened» passt als Titel für diese grossartige Retrospektive einer der meistgefeierten Künstlerinnen der Gegenwart, die in diesem Umfang noch nie in Europa zu sehen war.

 

 

«Nicole Eisenman. What Happened» ist vom 24. März bis 10. September im Museum Brandhorst in München zu sehen. Die grosse Werkschau versammelt rund 100 Arbeiten der New Yorker Malerin und Bildhauerin aus drei Jahrzehnten, von 1992 bis heute. Monika Beyer-Wermuth und Mark Godfrey haben die Ausstellung kuratiert. Sie wird im Anschluss in der Whitechapel Gallery in London und im Museum of Contemporary Art in Chicago gezeigt.

 

Bildlegenden von oben nach unten: 1.  Nicole Eisenman  2. Fishing 2000  3. From Success to Obscurity 2004  4.  Mermaid Catch 1996   5. Twister 1995 6. Tea Party 2011  7. Selfie 2014 8. Coping 2008 

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