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«… die Grenzen überfliegen»: Hermann Hesse als Maler

Von Matthias Frehner

Hermann Hesse hat ein bislang wenig bekanntes malerisches und zeichnerisches Werk geschaffen. Zum 50. Todesjahr Hesse präsentiert das Kunstmuseum Bern, zusammen mit dem Museum Hermann Hesse Montagnola, die erste umfassende Retrospektive zu Hesses Kunstschaffen. Die Gemälde, Zeichnungen und Textillustrationen in der Ausstellung sind für das Verständnis von Hesses persönlicher Entwicklung, seiner Beziehung zur Kunst und seinem literarischen Werk aufschlussreich.

Hesse verstand sich nicht nur als Schriftsteller oder Maler, sondern vielmehr als Künstler. Sein umfassendes Kunstverständnis und seine malerisch-poetische Doppelbegabung löste die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten auf. Als Dichter war Hesse lange kontrovers beurteilt worden, obwohl er 1946 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden war. Auch als Maler wurde Hesse von der Kunstkritik lange ignoriert.

 

Die prägenden Berner Jahre
1912, vor genau 100 Jahren, liess sich Hermann Hesse in Bern nieder. Das «Ougspurgergut» in der Schosshalde, der «Lohn» in Kehrsatz und das Schloss Bremgarten sind die Schauplätze, mit denen Hermann Hesse in Bern eng verbunden war und wo er Inspiration und Förderung fand. Hesses Berner Jahre von 1912 bis 1919 waren nicht nur im Hinblick auf sein literarisches Werk entscheidend. In dieser Zeit, in welcher er den Künstlerroman «Rosshalde» vollendete, begann auch seine bis heutze wenig bekannte Laufbahn als Maler, die ihren Höhepunkt in den 1920er- und 1930er-Jahren in Montagnola erreichte.
Zwischen Harmonie und Obsessionen
Die Malerei nahm in Hesses Leben und Werk eine zentrale Funktion ein. Hesse lehnte alles Mittelmässige, Normale und Durchschnittliche ab. Er litt am Zweispalt zwischen bürgerlicher Existenz und künstlerischer Selbstverwirklichung. Hesses Malerei verkörpert den Zustand eines harmonischen Daseins, der für den Künstler im realen Leben wie auch für viele Figuren seiner Dichtung unerreichbar war. Als Maler erkennt Hesse das Schöne und findet es in seiner Tessiner Wahlheimat überall. Seine Aquarelle zeigen Blicke auf weite Seenlandschaften, auf Hügel und Täler, auf Dörfer. Erstmals wird in der Ausstellung die Werkgruppe der Traumbilder einer breiten Öffentlichkeit präsentiert. Es ist eine Serie von sehr persönlichen und intimen Darstellungen, zu denen Hesse durch eine Psychoanalyse angeregt wurde und in denen er seine Träume verarbeitete. Diese Bilder sind im Gegensatz zu den idyllischen Landschaftsdarstellungen geprägt von obsessiven Angstzuständen und wilder Erotik.
Umfassende Retrospektive
Viele der rund 150 ausgestellten Werke werden zum ersten Mal einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Ein Schwerpunkt liegt auf den Anfängen von Hesses künstlerischer Tätigkeit in Bern. Zudem sind zahlreiche von Hesse illustrierte Gedichte, Briefe und Manuskripte zu sehen. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf  Hesses Bildsprache, die inspiriert ist von Louis Moilliet, Cuno Amiet und Albert Welti. Sie ist gekennzeichnet durch die Verfremdung der Sujets, durch erfundene Formen, wirklichkeitsferne Farben, verschiedenste Stile und wiederkehrende Kompositionsmuster. Die Ausstellung präsentiert alle Schaffensphasen, Themen, Gattungen und Stilrichtungen, in denen sich Hesse seit seinen ersten Malversuchen betätigt hat. Zu sehen sind frühe Studien, grossformatige Landschaftsaquarelle, Gemälde, detailreiche Federzeichnungen und Textillustrationen. Zur Ausstellung findet ein vielfältiges Rahmenprogramm mit szenischen Lesungen, Konzerten, einem Liederabend und literarischen Spaziergängen statt.

Vorwort aus dem Ausstellungskatalog
Von Matthias Frehner, Direktor des Kunstmuseums Bern

 

Hermann Hesse ist ein Sonderfall. Sein Steppenwolf ist seit seinem Erscheinen 1927 auf der ganzen Welt die Lieblingslektüre vieler junger Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, gegen die Vorgaben und Erwartungen ihrer Herkunft auflehnen. In der Germanistik dagegen galt Hesse lange Zeit als Leichtgewicht. Während meines Studiums an der Universität Zürich in den 1980er Jahren gab es jedes Semester Seminare und Vorlesungen zu Thomas Mann, Franz Kafka, Robert Musil oder Robert Walser, jedoch kein einziges Mal eine Veranstaltung über den Nobelpreisträger Hesse. Wer sich in dieser Zeit als Student der Germanistik zu Hesse bekannte, wovor sich alle hüteten, wurde als Spätpubertierender belächelt. Die Frage ist jedoch, ob jemand, der von Generationen auf allen Kontinenten als Idol verehrt wird, diese Wirkung seiner Werke lediglich mit populärer Emotionalität und platter Allgemeinverständlichkeit erreichen konnte.

 

Hermann Hesse – ein Idol für Rebellen mit Wohlstandshintergrund? Kaum ein anderer
deutschsprachiger Dichter wird so kontrovers beurteilt. Der Umgang mit Hesse ist inzwischen entkrampfter als in den ideologieversessenen 1968er Jahren. Junge Menschen sind heute pragmatisch. Rebellion ist keine Frage über Sein und Nichtsein, sondern oft gar nur eine Wahl des Lifestyle. Man ist offen. Vorbilder sind die Stars der Gegenwart. Dafür werden historische Grössen wie Dichter und Künstler weniger weltanschaulich vereinnahmt respektive moralisch abqualifiziert. Das Lesen von Hesse ist nun ebenso wenig ein Bekenntnis zu einer bestimmten Lebenseinstellung wie das Tragen schmuddeliger Hippieklamotten.

Man liest deshalb in den unaufgeregten Germanistikseminaren der Bologna-Reform Goethe, Mann und Hesse ohne Vorbehalte. Diese neue Nivellierung hat die Diskussion versachlicht. Man arbeitet mehr mit dem Text, konzentriert sich auf Voraussetzungen und Vergleiche. Der lange Zeit vernachlässigte Hesse, der in einer ungemein umfangreichen Korrespondenz Stellung zu den Fragen seiner Zeit bezog, sich für andere engagierte und für Überzeugungen in den Kampf zog, ist von der Forschung als unerschöpfliche Quelle erkannt worden. Zum fünfzigsten Todesjahr des Dichters kulminiert dieses Interesse in einer Reihe wichtiger Publikationen und Veranstaltungen. Als ein in seiner Zeit optimal vernetzter Künstler wird Hesse derzeit neu beurteilt. Keines seiner Zitate bringt diese Neubeurteilung besser zum Ausdruck als der Titel der Berner Veranstaltungen: «… die Grenzen überfliegen».

Hesse war jemand, der sich klar ausdrückte und andere bewusst vor den Kopf stiess. In seiner Dichtung geraten die Protagonisten immer wieder in existenzielle Konflikte des Entweder-oder, an denen diejenigen leiden und zugrunde gehen, die sich nicht grundsätzlich entscheiden können.

Die Zuspitzungen der Opposition Fremdbestimmung versus Selbstbestimmung vermögen die holzschnittartige Schwarz-Weiss-Sprache vieler Textpassagen zu erklären. Durch die Eindeutigkeit des Inhalts und die Direktheit des Ausdrucks erhält der Steppenwolf seine mitreissende Suggestivität. Satz für Satz: ein Pamphlet.

Dies zeigt der folgende Auszug aus Harry Hallers Aufzeichnung «Nur für Verrückte » zu Beginn der Erzählung: «Denn dies haßte, verabscheute und verfluchte ich von allem doch am innigsten: diese Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen, Durchschnittlichen.»

Hesse litt daran, dass sich in seinem eigenen Leben die proklamierte Konsequenz nicht durchhalten liess und er laufend Kompromisse eingehen musste.
Der aus der Bahn Geworfene unternahm Suizidversuche und absolvierte eine Psychoanalyse. Er scheiterte in zwei Ehen und gab seine Kinder in Fremdbetreuung. In Hesses Leben gab es keine Balance auf der Spitze des Absoluten, stattdessen das Hin-und-Her-Geworfensein zwischen Bürgerexistenz und künstlerischer Selbstverwirklichung.
Hesses Malerei verkörpert wohl genau diesen Zustand harmonischen Daseins, der für den Dichter im realen Leben wie auch für die Protagonisten seiner Dichtung so schmerzlich unerreichbar war. Seine Malerei wird heute von der Kunstgeschichte noch immer so stiefmütterlich behandelt wie bis vor Kurzem seine Dichtung von einem Teil der Germanistik. Dabei sind es gerade die in der Malerei tausendfach und mehr erreichten Harmonie- und Glückszustände elementarer Weltbejahung, die ihn die Zustimmung der Kunstkritik kosten. Als Maler sieht Hesse nur das Schöne. Er findet es überall: im Blick auf die weite Seenlandschaft des Tessin, auf Hügel und
Täler, aber auch unmittelbar vor seinen Füssen, in einem Stück Rasen, einem Gebüsch, einem abgestorbenen Baum, einer Reblaube, einer verwitterten Stalltür, einer verfallenen Trockenmauer. Und auch das vom Menschen Geschaffene integriert sich in das irdische Paradies.

«Befreit von der verfluchten Willenswelt»
Von Regina Bucher, Direktorin Museum Hermann Hesse
Montagnola

 

Als Hermann Hesse 1912 mit seiner Frau und drei kleinen Kindern nach Bern zog, führten verschiedene Faktoren dazu, dass er sich schon bald in einer tiefen Krise wiederfand und schliesslich ab 1916 eine Therapie bei dem Psychotherapeuten Josef Bernhard Lang begann.
Hesses Haltung während des 1. Weltkriegs bestand in einer kategorischen Ablehnung von Nationalismus, Krieg und Gewalt, und bewirkte, dass er in Deutschland als „Vaterlandsverräter“ nicht mehr veröffentlichen durfte; sein Engagement für die Kriegsgefangenenfürsorge und die Geldsorgen belasteten und erschöpften Hesse; die Ehe kriselte und eine Trennung zeichnete sich ab; schliesslich starb 1916 der Vater. In Bern begann Hermann Hesse im Rahmen seiner Psychotherapie mit den ersten Malversuchen: es entstanden Traumbilder, Selbstporträts, Interieurs und Landschaften.

«Aus der Trübsal, die oft unerträglich wurde, fand ich einen Ausweg für mich, indem ich, was ich nie im Leben getrieben hatte, anfing zu zeichnen und zu malen,» heisst es in einem seiner Briefe.
1919 zerbrach die Ehe, Hesse liess sich in Montagnola im Tessin nieder, wo er bis zu seinem Lebensende 1962 wohnen bleiben wird. Er überwand Schreibkrisen, indem er Tausende von Aquarellen der Tessiner Landschaft schuf, die von intensivem Naturerleben zeugen. Das Malen bekam eine existenzielle Bedeutung für ihn und hatte eine wichtige Funktion für sein literarisches Schaffen. «Als Dichter» wäre er «ohne das Malen nicht so weit gekommen», berichtete Hesse 1924.
Ab Mitte der 1920er Jahre verbrachte er die Winter in Zürich, wo er schrieb, die Nächte durchfeierte und auf Maskenbällen tanzte. Gleichzeitig, von Verzweiflung und Lebensmüdigkeit getrieben, zog er ernsthaft in Erwägung, sich umzubringen. Die Sommer hielt er sich in seinem geliebten Montagnola auf, wo in diesen Jahren viele seiner schönsten und farbenfrohesten Aquarelle entstanden.
Die Malerei rettete ihn, war Gegenpol zu den schwarzen Stunden, spielte die Hauptrolle, wie er selbst 1928 schreibt: «Oh, es gab auf der Welt nichts Schöneres, nichts Wichtigeres, nichts Beglückenderes als Malen, alles andre war dummes Zeug, war Zeitverschwendung und Getue. Herrlich war das Malen, köstlich war das Malen!».

Mit dem Umzug in ein Haus mit grossem Garten 1931 und mit zunehmendem Alter trat eine Änderung ein. Hesse malte immer noch, jetzt aber häufiger Federzeichnungen, die er manchmal auch kolorierte. Der ältere, ruhigere Hesse widmete sich nun mit Genuss einer Tätigkeit, die er von Anbeginn seiner Malertätigkeit ausübte: er illustrierte Gedichthandschriften, verkaufte diese, und spendete den Erlös Bedürftigen. Diesen „schönen, träumerischen, spielerischen Arbeiten“ widmete er sich bis ins hohe Alter.

Nun kommt der Schweizer Nobelpreisträger für Literatur und Träger der Ehrendoktorwürde der Universität Bern 50 Jahre nach seinem Tod als Maler zurück in die Stadt, in der er mit dem Malen begonnen hatte. In dieser Ausstellung sind viele Werke zum ersten Mal zu sehen, ausgewählt und zusammengestellt unter kunsthistorischen Aspekten und ergänzt mit Zitaten und Fotodokumenten, die dem Betrachter eine Einordnung in den biografischen und schriftstellerischen Kontext erlauben. Es erscheint ein umfangreicher Katalog, der weit über diese Ausstellung hinaus die Forschung bereichern wird.
Courtesy Kunstmuseum Bern 

Ausstellung 28.03. – 12.08.2012

 

Katalog «… die Grenzen überfliegen».

Der Maler Hermann Hesse.

Hrsg. Kunstmuseum Bern, Matthias Frehner, Valentine von Fellenberg und Museum Hermann Hesse Montagnola, Regina Bucher. Mit Textbeiträgen von Regina Bucher, Thomas Feitknecht, Valentine von Fellenberg, Matthias Frehner, Volker Michels, Konrad Tobler und zahlreichen farbigen Abbildungen. Gestaltung: Marie Louise Suter,Kunstmuseum Bern. Deutsch. Kerber Verlag, Bielefeld. ISBN 978-3-86678-635-6

 

Kunstmuseum Bern
Musée des Beaux-Arts de Berne
Hodlerstrasse 8-12
3000 Bern 7
www.kunstmuseumbern.ch

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