FRONTPAGE

«Ben Vautier. Ist alles Kunst?»

Von Simon Baur

 

Ben Vautier im Museum Tinguely ist top. Da fühlt man sich an die Zeiten erinnert, als Jean Tinguely und Bernhard Luginbühl noch lebten und mit ihren Aktionen die Schweiz unsicher machten. Bekannt ist der 1935 in Neapel geborene Künstler vor allem unter seinem Vornamen Ben und durch seine Schriftbilder, weltbekannt ist sein Bild „la Suisse n’existe pas“. Nun hat das Basler Museum Tinguely ihm eine Gesamtshow, eine Art Retrospektive eingerichtet.

 

Auf der Überholspur
Doch Ben Vautier hat noch nicht aufgehört, Kunst zu machen, er ist ein Besessener, der es nicht lassen kann und der der ganzen Welt beweisen muss, dass er nach wie vor voller Energien ist. Was ihm in die Hände kommt, wird mit Schriften versehen, zu Kunst transformiert, die von Sprachwitz nur so strotzt und die immer wieder subversiv auftritt. Vermutlich hat kein anderer Künstler mit so viel Ironie und Humor die Kunstgeschichte hinterfragt und durchleuchtet und es ist daher ideal, dass die Ausstellung jetzt stattfindet, zu einem Zeitpunkt also, wo mit der Ausstellung „Auf der Suche nach 0,10“  die letzte futuristische Ausstellung der Malerei Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat und damit ein ganz anderer Ansatz über die Möglichkeiten des Bildes und der Malerei nachzudenken, in einer Ausstellung präsentiert wird.

 

Zu Beginn seiner künstlerischen Karriere Mitte der 1950er-Jahre stand für Ben Vautier die Suche nach einer ureigenen Formensprache im Zentrum seiner Recherchen. Er entwickelt die sogenannten Bananes, bahnenförmige Motive, die die Marschrichtung für seine nachfolgenden Arbeiten vorgeben, es ist das Ergründen einer ureigenen Signatur oder eines Zeichens, die bis heute seine Arbeiten dominieren.

1958 – Yves Klein soll ihn dazu angeregt haben, verabschiedet er sich weitgehend von den Bananes und widmet sich vorwiegend den Schriftbildern. Dabei ist wichtig, dass es ihm weniger um die ästhetischen Qualitäten der Schriften als vielmehr um den Sinngehalt der Worte geht. Teils hat er Texte bei Schriftmalern in Auftrag gegeben, doch nach und nach entwickelte sich seine eigene Handschrift zu seinem besonderen Markenzeichen. Anfänglich brachte er diese mit dem Pinsel auf die Fläche, später und bis heute «schrieb» er mit der Acrylfarbe direkt aus der Tube auf die Leinwand. Die Kernaussagen betrafen immer wieder Aspekte, die den Inhalt und das Wesen von Kunst in Frage stellten: l’amour c’est des mots, rien oder oeil ist auf den Bildern zu lesen. Wir wollen nun nicht alle Werkgruppen im Einzelnen besprechen, es sind rund 800 Arbeiten von Ben Vautier in der Ausstellung zu sehen, doch letztlich geht es immer wieder um dasselbe. Die Möglichkeiten den präsentierten Gegenstand zu hinterfragen, sei es das Bild selbst und damit seine eigenen Grenzen auszuloten oder sei es ein x-beliebiger Gegenstand und diesen so zu thematisieren, dass man sich unweigerlich dazu eigene Fragen stellt und sich diese gleichzeitig zu beantworten versucht. Wie heisst es doch beispielsweise auf einem Bild: la liberté de boire un whisky et fumer une cigarette.

 

 

Politischer Humor
In der Ausstellung ist auch Bens Klassiker vertreten, der Text la Suisse n’existe pas, der den offiziellen Schweizer Pavillon bei der Weltausstellung in Sevilla 1992 prägte. Ben darauf angesprochen sagt sinngemäss, bei der Schweiz handle es sich um einen Vielvölkerstaat, es gebe eine Deutschschweiz, eine italienische, eine französische und eine romanische Schweiz. Eine einzige Schweiz, «la Suisse» existiere nicht. Das Bild ist eine Hommage an das mehrsprachige und multikulturelle Land Schweiz, doch das versteht nur, wer denkt. Sowieso Grundvoraussetzung um sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Wieso darin kein politisches Statement sehen? Abstimmungen und Wahlen zeigen doch immer wieder wie verschieden wir in diesem Land, das eigentlich aus vielen Ländern besteht, sind. Oder haben wir es verlernt, politische Aussagen als solche zu erkennen? Und ist dies eine Folge der eigenen Saturiertheit? Lukas Bärfuss wurde schliesslich auch von vielen nicht ernst genommen, obwohl seine Ausführungen genügend politischen Sprengstoff beinhalten. Beide, Ben und Bärfuss provozieren, Ben hat sich für die Mittel wie Ironie, Sarkasmus und Persiflage entschieden und wird damit in der Wohlstandsgesellschaft auch als Spinner abgetan. Doch es bleibt ein Rest zurück, ein kleiner Blitz, der stutzig macht, der skeptisch macht und der bewirkt, das wir das Gelesene hinterfragen, es in Zweifel ziehen, und vielleicht auch später nochmals drüber nachdenken. Humor kann eben doch ganz schön politisch sein.

 

 

Grenzenlose Kumulation
Es sind eigentlich zwei Ausstellungen, eine historisch-chronologische und eine thematische, letztere ist in progress, die Serien sind noch nicht abgeschlossen, und befinden sich in den hinteren Räumen des Erdgeschosses. Beispielsweise der Themenbereich Der arme Kunstsammler, dazu schreibt Ben Vautier: «Ich habe auf diesem Raum bestanden, dann wenn ich zu Abbé Pierre gehe und ein Bild sehe, das wie ein Gauguin, ein Picasso oder irgendein anderer Künstler aussieht, dann nehme ich es mit, weil es in meine Kunstgeschichte passt. Denn in der Kunstgeschichte zählt der Stil und der Stil ist Wiederholung». Oder das Thema Noch ein Objekt, das sich für Kunst hält und das in der Ausstellung auch prominent in Form von Bügeleisen, einer Küchenwaage, Farbbüchsen oder einer Whiskyflasche vertreten ist: 7 pots qui se prennent pour de l’art, 21 grammes qui se prennent pour de l’art oder encore uns bouteille de Whysky qui se prend pour de l’art. Und weil das alles nicht genügt, gibt es jeden Donnerstag, ab 17.33 Uhr eine Gesprächsrunde unter dem Titel le centre mondial du questionnement.

 

Ben Vautier. Ist alles Kunst?

Museum Tinguely, Basel.

Bis 22. Januar 2016. Öffnungszeiten Di-So 11-18 Uhr,

Sonderöffnungszeiten über Weihnachten und Neujahr finden sich auf www.tinguely.ch.  

Ausstellung 21.10.2015 – 22.01.2016

Zur Ausstellung erscheint im Kehrer Verlag eine reich bebilderte Publikation mit aktuellen Texten von Ben Vautier, Andres Pardey und Roland Wetzel, 256 Seiten,

Buchpreis im Museumsshop und Online CHF 52.

 

 

 

L&K-Ausstellungs-Tipps

 

«Ich bin ein Aufzeichner»: 

Tomi Ungerer incognito im Kunsthaus Zürich 

 

Man sagt, Tomi Ungerer habe jeden beeinflusst – als Illustrator, Geschichtenerzähler, Autor, Bildhauer, Bauer, Metzger und Aktivist. Ununterbrochen hat der «schärfste Strich der Welt», wie man den heute 85-jährigen auch nennt, seine spitzen Kommentare in die Welt gestreut. Aber wer genau ist Tomi Ungerer? «Ich bin ein Aufzeichner», sagt Tomi Ungerer über sich selbst.

 

An der Presseorientierung im Kunsthaus Zürich sitzt er da, mit langem Mantel und Hut, seinem schiefen Lächeln und beantwortet die Fragen mit gewohnter Eloquenz. 84 Jahre zählt Tomi Ungerer nun und ist kein bisschen leise. Wir kennen ihn als Entwerfer und Zeichner für legendäre Kinderbücher, als provokativen Grafiker und scharfzüngigen Autor, seine erotischen Illustrationen haben vor allem in den USA in den siebziger Jahren stark polarisiert. Weniger bekannt ist sein künstlerisches Werk: Die Assemblagen, Collagen und Plastiken sind seit Schaffensbeginn in den 1950er- Jahren aber integraler Bestandteil seines Gesamtwerks. Die Ausstellung im Kunsthaus will diesem bedeutsamen Werkbereich Ungerers erstmals umfassend Rechnung tragen, was ganz dem Geiste des Künstlers selbst entspricht: «Expect the Unexpected!» Seine Wortspielereien sind legendär: «Besser nie als spät». 170 überwiegend unveröffentlichte Collagen, Zeichnungen und Plastiken von Ungerer sind nun im Kunsthaus zu sehen.

 

Der begnadete Autor und Geschichtenerzähler reiht sich in die zweite Traditionslinie ein, die Schriftstellern wie Friedrich Dürrenmatt (1992), Alfred Jarry (1985), Marquis de Sade (2002) und Victor Hugo (1987) Ausstellungen widmete. Auch diese Persönlichkeiten nahmen mit scharfzüngigen Kommentaren zu ihrer Zeitgenossenschaft Stellung oder operierte mit der Kraft der Erotik. Auch Andy Warhol, der zeitgleich in New York arbeitete, stellte sich wie Tomi Unterer Fragen um Narzissmus, Sehnsucht, Erotik und Politik, als Collagen oder Vexierbilder angelegt. Die Collage als Metapher der Freiheit vermittelt im Prozess der künstlerischen Produktion ein starkes Gefühl der ‚Selbstermächtigung‘. Ungerer dekonstruiert Bestehendes, kombiniert mit intellektuell scharfen Assoziationen und Botschaften. Spannung statt Harmonie, Ungerer wechselt zwischen den drei Sprachen englisch,französisch und deutsch, wobei auch das Elsässer Deutsch eine gravierende Rolle spielt. Den Wortspielen ist denn auch in der Schau eine ganze Bandbreite gewidmet. In seiner Serie «Waiting for Godot» (2009) hat er seine Bewunderung für den Schriftsteller Samuel Beckett umgesetzt, kippen doch auch seine Bildschöpfungen oftmals vom Traum ins Trauma.

 

Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit dem Museum Folkwang, Essen. Ein ausführlicher, 400 Seiten umfassender Katalog in drei Sprachen (d/e/f), eine Produktion des Diogenes Verlages, dem Tomi Ungerer  als „meine Familie“ sehr verbunden ist, ist im Kunsthaus-Shop und Buchhandel für CHF 59/€ 49 erhältlich. Er enthält die in der Ausstellung gezeigten Werke sowie neue Beiträge von Tobias Bezzola, Tobias Burg, Cathérine Hug, Philipp Keel und Thérèse Willer. Die hochwertig ausgestattete und nummerierte signierte Vorzugsausgabe mit exklusivem Siebdruck kostet ca. CHF/€ 500. (I.I.)

Kunsthaus Zürich, 30. Oktober 2015 – 7. Februar 2016. www.kunsthaus.ch

 

 

 

ANDREAS GURSKY: Brennpunkte und Bildgedächtnis

 

Er gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler: der Düsseldorfer Fotograf Andreas Gursky (geb. 1955 in Leipzig). Sachlich und präzise fängt er die Brennpunkte der modernen Lebenswelten und der globalen Realität ein. Jede Gesamtkomposition ist ein technisches und bildnerisches Meisterwerk und längst im kollektiven Bildgedächtnis der Kunstwelt eingeschrieben.

Die digitale Bildbearbeitung und das extreme Großformat sind neben der dezidierten Farbfotografie seine charakteristischen Ausdrucksmittel.

 

Gurskys Werke sind dabei auch immer bildhaft gewordene Zeugen seiner über Jahrzehnte fortgesetzten Reisen um die Erde. Hinter seinen Bildern verbirgt sich somit auch eine imaginäre Landkarte, die die Reiserouten des Künstlers nachzeichnet. Kaum ein Künstler unserer Zeit hat eine derartig konsequente Reisetätigkeit verfolgt, und es erweist sich zunehmend, dass Gursky schon immer eine genaue Schilderung der Welt, ihrer Konstruktion und Verfassung, im Auge hatte. Immer sind seine Bilder Reflexionen über die äußere und die innere Erscheinung der Welt. Die augenscheinliche Schönheit und Perfektion seiner Bilder täuscht, verbirgt sich doch erst hinter ihnen, sozusagen nach einer ersten Inaugenscheinnahme, der reiche Gedankenraum des Gezeigten. Gurskys Bilder verführen durch das Gezeigte, ihnen ist aber gleichzeitig die beharrliche Aufforderung mitgegeben, über den Grund der Bilder nachzudenken.

Von antiken Stätten über aktuelle Schauplätze gesellschaftlicher und politischer Brennpunkte bis hin zu fiktiv arrangierten Phantasiewelten: Stets erweisen sich Andreas Gurskys Bilder als subtile Betrachtungen über den Zustand unserer globalisierten Welt. Kairo und die Cheops-Pyramide, Prada-Shops und Toys“R“Us, Produktionsbetriebe und Müllhalden, Massenspektakel im nordkoreanischen Pjöngjang oder anlässlich von Kirchentagen, das subversive Aufzeigen von Machtstrukturen und globalen Weltordnungen, die international agierenden Börsen, Museen als Orte vermeintlicher Besinnung und Comic-Helden zur Vorstellung zukünftiger Welten – all dies gehört zum Repertoire seiner Bildkompositionen. (I.I.)

 

Ausstellung im Museum Frieder Burda, Baden-Baden. 3. Oktober 2015 – 24. Januar 2016.

 

Andreas Gursky
Herausgegeben von Udo Kittelmann
Steidl, 10/2015
152 Seiten, fester Einband
Format 25.2 x 29.4 cm
deutsch. € 38.
ISBN 978-3-95829-045-7

 

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