FRONTPAGE

«Der Georgier Niko Pirosmani in der Fondation van Gogh in Arles»

Von Ingrid Schindler

 

Die Fondation van Gogh in Arles zeigt von März bis Oktober den grossen, georgischen Maler Niko Pirosmani (1862-1918). Bice Curiger, Kuratorin der Ausstellung präsentiert den «Rousseau des Ostens» neben Werken von Raphaela Vogel, Tadeo Anda, Christine Forrer, Yoshitomo Nara u.a., die Pirosmani inspirierte, und stellt den «Wanderer zwischen den Welten» van Gogh gegenüber.

Eine monumentale «Giraffe», «weisse Sau mit Ferkeln», ein «Keiler», «sitzender, gelber Löwe», «Hirsch» oder ein Kamel hängen im Profil an der Wand. Der «Bär in mondheller Nacht» könnte ein Fuchs sein, das Kamel ist entweder ein Gigant oder der «Tartarische Kamelführer» ein Liliputaner, Grössenverhältnisse spielen keine Rolle, die Giraffe erinnert an einen Hirschen oder Schimmel mit schwarzen Punkten und verlängertem Hals. Das Bestiarium von Niko Pirosmani ist nicht eines, das realen Vorbildern entspringt, sondern der Fantasie und dem Erinnerungsvermögen des autodidaktischen Malers. «Abbildungen eines Löwen hat er wahrscheinlich auf iranischen Streichholzschachteln gesehen oder im Museum», sagt Sara Guti, Kunstvermittlerin in der Fondation Vincent van Gogh, die nach der Albertina in Wien einen repräsentativen Ausschnitt des Werks des georgischen Meisters zeigt. Oder er hat Löwen auf Bildern, Fotos, Wappen oder als Skulpturen im Museum gesehen, immerhin ist ein 5000jähriger, in Kachetien ausgegrabener, goldener Löwe das Prunkstück der Schatzkammer in Tbillissi. In natura wohl kaum. Ebenso wenig Giraffen oder «Eisbärweibchen mit ihren Jungen», da es einen Zoo seinerzeit in Georgien noch nicht gab. «Der Zoo von Tiflis wurde erst nach Pirosmanis Tod gegründet» führt Guti aus, «und von Wanderzirkussen mit exotischen Tieren wird nichts in Archiven berichtet.» Er könnte sie in Zeitungen, auf Briefmarken, Fotos oder Postkarten gesehen haben.

 

 

Rosen von Tiflis für Margarita
Die stilisierten, typisierten Tierporträts wirken eindrücklich zeitlos und mysteriös. Sie stehen für sich allein, füllen das Format bildparallel im Profil, kommen mit wenig bis gar keinen Details aus, die Formensprache und Farbwahl sind reduziert. Die hybriden Tierwesen nehmen keinen direkten Blickkontakt mit dem Betrachter auf, sie wirken wie geheimnisvolle Fabelwesen und stehen da für die Ewigkeit. Das Lieblingsbild des Künstlers soll die «Giraffe» gewesen sein: «Pirosmani schafft mit diesem Gemälde eine Ikone der Tierdarstellung, die dem ebenfalls nur auf Beschreibung basierenden Nashorn Albrecht Dürers um nichts nachsteht», schreibt dazu die Albertina Wien im Saaltext.
Eine weitgefasste Populärkunst, von Gebrauchsgrafik inspiriert, die russische Ikonenmalerei, naive georgische Volksbilderbögen, vereinfachende persische und byzantinische Kunst des Mittelalters in eine scheinbar primitive, moderne Bildsprache tradiert. Einprägsame Gemälde, die man gern als Eyecatcher und Wandschmuck aufhängt. Dafür wurden sie auch gemacht. Nicht anders die typisierten Darstellungen von Personen, Festen und Alltagsszenen. Die «Frau mit Bierglas», gravitätisch, in sich ruhend, schematisch, kraftvoll, «Die Schauspielerin Margarita», als ginge sie auf ihre eigene Hochzeit, in byzantischer Bildkomposition auf einer grün-schwarzen Wiese stehend, schmutzig weiss-grau die Haut, das Kleid, Schärpe, Strümpfe und Rosen in ihrer Hand, fahl gelbgrün Blätter, Vögel, Schuhe, Armbänder und das Haar der Sängerin, blau der Himmel. Der schwarze Malgrund scheint wie bei der Biertrinkerin durch, Tag und Nacht vermischen sich. Die Geschichte hinter dem Bild: 1905 tritt die französische Schauspielerin, Sängerin und Tänzer Marguerite de Sèvres im Rahmen ihrer Tournee durch Russland in Tiflis auf und trifft Pirosmani ins Herz. Der Verliebte überschüttet die Angebetete mit Rosen, gibt sein ganzes Vermögen aus, um ihr alle Rosen von Tiflis zu Füssen zu legen. «Margarita inspiriert bis in die Gegenwart zahlreiche Künstler», so Muti, vor allem japanische, wie zum Beispiel Yoshitomo Nara, den Meister des Tokyo Pop, der seine aus der japanischen Mangatradition kommenden Werke «»Königin Tamar nach Pirosmani» und «Die Schauspielerin Margarita nach Pirosmani» in direkten Bezug zum bewunderten georgischen Original stellt. Sie sind in Arles zu sehen, neben Werken von Baselitz, Picasso oder Tadao Ando.

 

 

Wachstuch als Malgrund
Pirosmanis Bildinhalte sind konkret, erschliessen sich leicht. Wenn mehrere Personen dargestellt werden, sind diese nebeneinander aufgereiht, wie ausgeschnittene Schablonen. In «Kinderloser Millionär und die arme Frau mit Kindern» stellt er einem reich geschmückten, wohlgekleideten und -frisierten bzw. gestutztem Paar einer barfüssigen, einfach gekleideten Gruppe aus Mutter mit Säugling an der Brust und zwei Kindern an der Seite gegenüber. Die Farbigkeit beschränkt sich auf die gleichen wenigen Töne wie bei Margarita. Ein zartes Altrosa kommt bei der Schleife der betuchten Frau dazu. Die arme Frau hat keinen Mann und stillt noch bei der Übergabe das Kind.
Raumlos neben- und übereinander in leicht lesbarer Seitenansicht platziert Piosmani Figuren, Tiere, Häuser, Esswaren und Gegenstände auch in seinen grossformatigen Fest-, Tisch-, Bankett- und Landszenen. Eines seiner berühmtesten Gemälde ist der «Kachetische Zug», der aus dem Nichts ohne Schienen kommt. Im Vordergrund lagern Weinschläuche in Schweinehaut, Qvevrys, die traditionellen georgischen Weinamphoren und Fässer zum Verkauf oder Befüllen des Zugs sauber aufgereiht.
Schwarzes Wachstuch, Leder, Karton, Metallplatten, Holzplanken, was sich gerade finden lässt, so scheint es, verwendet Pirosmani als Untergrund. Bevorzugter Malgrund ist das Wachstuch, wie man es damals in georgischen Schänken über die Tische legt. Es treffe aber weder zu, dass Wachstuch billiger als Leinwand gewesen sei, noch dass er Wirtshauswachstücher verwendete, so Guti, sondern dass er gezielt ein aus Europa importiertes Wachstum orderte, das man auch für das Verdeck von Pferdekutschen und Schiffen verwendete. Dessen Vorteil: Es ist flexibler als Leinwand, muss nicht grundiert werden und lässt die wenigen, sparsam aufgetragenen Farben auf dem dunklen, sichtbaren Malgrund intensiver leuchten und wie aus dunkler Tiefe hervortreten.

 

 

Ein Leben als Vagabund
Die meisten Bilder sind nicht datiert. Von Niko Pirosmanischwilis Leben, so sein vollständiger georgischer Name, weiss man wenig Gesichertes, das Meiste stammt von bruchstückhaften Augenzeugenberichten. 1862 als jüngstes Kind eines armen kachetischen Bauernpaares geboren, verliert er früh seine Eltern und wird 1870 von einer Familie in Tiflis aufgenommen, wo er lesen, malen und schreiben lernt und mit der georgischen Kultur und Literatur in Berührung kommt. Nach einer Ausbildung als Schriftsetzer arbeitet er kurz in einer Druckerei, eröffnet selber ohne Erfolg eine Schilderwerkstatt, schlägt sich als Koch durch und findet als Bremser von Güterzügen bei der Transkaukasischen Eisenbahn schliesslich für vier Jahre seine längste Anstellung. Da die Arbeit auf der offenen Plattform hart, eintönig und der Gesundheit nicht förderlich ist, versucht er als nächstes mit einem Milchladen sein Glück. Grosszügig, friedfertig und freundlich, wie er beschrieben wird, erweist sich auch dieses Geschäft nicht als einträglich und so beginnt Pirosmani, sich ganz der Malerei zu widmen.
Als unabhängiger, autodidaktischer Maler zieht er fortan durch Schenken, Kaschemmen, Vergnügungs- und Werkstätten, zeigt Wirten, Kunsthandwerkern und Geschäftsleuten in Tiflis sein Skizzenbuch und lässt sie Sujets für Schilder und Bilder wählen. Man darf sich Bildinhalte wünschen, nicht aber die Art der Ausführung, seine künstlerische Freiheit ist ihm heilig. Gegen Kost und Logis überlässt er die Werke den Auftraggebern und treibt als Vagabund durchs Land. Man nennt ihn respektvoll den «Grafen», da er sich elegant westlich europäisch kleidet und trotz seines unsteten Lebenswandels Würde und Ehre bewahrt. Seine zeitlosen, den Blick fesselnden, dekorativen Gemälde sind sehr beliebt und gefragt.
Georgien verlässt er bis zu seinem Tod nicht. Völlig verarmt und obdachlos stirbt er in der Osternacht 1918 entkräftet und vom Alkohol gezeichnet in einem Verschlag in Tiflis. Er wird in einem Armengrab begraben, wo genau seine Überreste liegen, ist nicht bekannt.
Sein Leben hat der «Wanderer zwischen den Welten», so der Untertitel der Ausstellung, künstlerisch in Form gegossen. Man schätzt, dass er um 2000 Werke geschaffen hat, davon sind etwa 200 erhalten und befinden sich im Besitz des Georgischen Nationalmuseums in Tiflis – Pirosmani gilt heute als Nationalmalers Georgiens. Die Ausstellung in Arles wurde zuvor in der Albertina Wien gezeigt und war ein Publikumserfolg.

 

 

Auf Augenhöhe mit dem Zöllner Rousseau
Der russische Maler Michail Le-Dantju entdeckt 1912 in einer Taverne Pirosmanis Arbeiten und ist begeistert. Gemeinsam mit seinen Künstlerfreunden, den Gebrüdern Sdanewitsch, sucht er nach weiteren Werken dieses georgischen «Neoprimitiven» – als Inspirationsquelle. Vier Werke Pirosmanis, darunter «Frau mit Bierkrug», stellen sie auf der Ausstellung «Mischén» (Zielscheibe) in Moskau aus, vom Maler Mikail Larionow organisiert, gemeinsam mit Werken der russischen Avantgarde, u.a. von Gontscharowa, Chagall, Malewitsch, sowie Vertretern der naiven Volkskunst.
Die russische wie französische Avantgarde sucht nach dem Naiven als unmittelbarem Ausdruck des Authentischen – im Gegensatz zur Virtuosität und Professionalität der anerkannten, akademischen Salonkunst. Sie bedienen sich Kinderzeichnungen, der Bilder Geisteskranker und naiver Sonntagsmalerei genauso wie exotisch-archaischer Einflüsse ozeanischer und afrikanischer Kunst. Gilt der Zöllner Rousseau im Westen der Avantgarde als offizieller Kopf der Primitiven, rückt Pirosmani erst in Moskau und dann auch in Paris in diese Position nach, ohne noch selbst davon profitieren zu können. Er stirbt zu früh und geht in den Wirren des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution unter. Die Nachwelt interpretiert sein Werk als Ausdruck der Hoffnung an das Gute im Menschen und auf eine natürliche, harmonische Ordnung des Lebens in Zeiten, in denen sich alles anders ausnahm und auseinanderbrach.
1929 werden 100 seiner Gemälde im Georgischen Nationalmuseum ausgestellt. 1969 zeigt ihn das Musée des Art décoratifs in Paris, das Musée des Beaux Art in Nancy und 1995 Bice Curiger erstmals im Kunsthaus Zürich in der Ausstellung «Zeichen und Wunder». Der Aussenseiter ist im heutigen Georgien ein Nationalheld, dessen Kopf eine georgische Banknote ziert.

 

 

Niko Pirosmani – Promeneur entre les mondes
Fondation Vincent van Gogh
Arles, 2. März bis 13. Oktober 2019
29 Gemälde von Niko Pirsmani
avec les hommages de Tadao Ando, Christina Forrer, Adria Ghenie, Raphaela Vogel, Shirana Shahbazi, Yoshimoto Nara, Andro Wekua, Georg Baselitz & Pablo Picasso
www.fondation-vincentvangogh-arles.org

 

 
Arles – Camargue, Corrida und noch viel mehr Kunst
Arles wurde von Caesar gegründet und ist wegen des einzigartigen römischen Kulturguts UNESCO-Weltkulturerbe. Die belebte, schmucke Stadt ist Tor zur Camargue, des UNESCO-Weltnaturerbes im Rhonedelta, und hat sich auch als moderne Kulturstadt und Stierkampf-Hochburg (Feria d’Arles) einen Namen gemacht. Künstler wie van Gogh, Picasso, der Fotograf Lucien Clergue oder Modeschöpfer Christian Lacroix haben hier gewirkt.

 

 
Ausgewählte Kulturtipps für eine Reise nach Arles.
Arles ist eine Hochburg der zeitgenössischen Fotokunst. Das Fototreffen Les Rencontres Internationales de la Photo à Arles feiert ihr 50jähriges Bestehen, 1.7.-22.9.2019, www.rencontres-arles.
LUMA Arles: experimentelles Kulturzentrum für zeitgenössische Kunst, Ausstellungszentrum, Künstlerresidenz. Komplette Eröffnung der Stiftung erst 2020, aber der von Frank Gehry entworfene, markante Turm steht, umgeben von revitalisierten Industriegebäuden und einem Park, www.luma-arles.org
Arles auf den Spuren van Goghs: Van Gogh lebte von 1888/89 in Arles, mit mehr als 300 Werken, die hier entstanden, war dies die produktivste Zeit seines Schaffens. Rundgang auf seinen Spuren: www.arlestourisme.com
Den Römern kann man nicht nur im antiken Theater oder etwa dem Amphitheater, sondern im Musée Départemental Arles Antique nachspüren, www.arles-antique.cq13.fr
• Darüberhinaus gibt es viele weitere Museen und Galerien, den längsten Markt Südfrankreichs mit über 2 km Strassenständen, jeweils samstags, unzählige Musik-, Trachten-, Stierkampffeste usw., siehe www.arlestourisme.com

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