FRONTPAGE

«Blauer Reiter: unfassbare Ideen – fassbare Formen»

Von Simon Baur

 

Die Fondation Beyeler in Riehen b. Basel zeigt eine Ausstellung, die sich mit Franz Marc, Wassily Kandinsky und dem «Blauen Reiter» befasst. Der Blaue Reiter ist der Name eines Almanachs, der 1912 in München von Wassily Kandinsky und Franz Marc herausgegeben wurde.

Heutzutage steht der Name für eine kurze höchst produktive Epoche deutscher Kulturgeschichte vor dem Ersten Weltkrieg und für das wohl prominenteste Beispiel interdisziplinären Denkens im zweiten Dezennium des 20. Jahrhunderts. Bekannter als ihr revolutionärer Almanach, sind die beiden Herausgeber Wassily Kandinsky und Franz Marc. Beide Künstler, sind sie neben dem Almanach auch die Protagonisten dieser grossartigen Ausstellung, die noch bis zum 22. Januar in Riehen bei Basel zu sehen ist. Franz Marcs Entwicklung wurde zu früh, durch seinen Tod an der Front im März 1916 in der Nähe von Verdun beendet. Natürlich war er nur eine Stimme im Chor dieser Aufbruchsbewegung, doch neben ihm hat nur Paul Klee, mit dem er eng befreundet war, derart viel Metaphorisches und Symbolistisches in die Malerei hineingetragen. Was vor diesem Hintergrund leicht vergessen geht: «Der Blaue Reiter» ist keine Bewegung und keine Künstlergruppe, er ist in erster Linie – ein Buch.

 

 

Kunst-Bibel
Für die damalige Kunst war dieses Buch eine Art Losung mit der Wirkung eines Fanals, vergleichbar mit dem «Kommunistischen Manifest» für die Arbeiterschaft. Aus heutiger Sicht ist diese Wirkung kaum nachvollziehbar, zu selbstverständlich denken wir in diesen Kategorien und doch gewinnt dieses, bereits über hundertjährige Buch vor dem Hintergrund zunehmender nationaler Egoismen und Sorgen von fremden, unkonventionellen Einflüssen an Bedeutung. Mit wieviel Verve die beiden Herausgeber die Internationalität der Kunst forderten, erstaunt aus heutiger Perspektive.

Doch hören wir, was sie selbst in einem unveröffentlichten Vorwort schreiben: «Es sollte wohl überflüssig sein, speziell zu unterstreichen, daß in unserem Falle das Princip des Internationalen das einzig mögliche ist. Heutzutage muß aber auch das bemerkt werden: das einzelne Volk ist einer der Schöpfer des Ganzen und kann nie als Ganzes angesehen werden. Das Nationale, gleich dem Persönlichen spiegelt sich in jedem großen Werke von selbst ab. In der letzten Consequenz aber ist diese Färbung eine nebensächliche. Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und Völker, sondern die Menschheit».

 

 

Wege der Abstraktion
Die Ausstellung in der Fondation Beyeler fokussiert auf zahlreiche bekannten Werke von Wassily Kandinsky und Franz Marc und es ist erstaunlich, wie viel, trotz zahlreicher Absagen, hier versammelt ist. Von Franz Marc sind «Die grossen blauen Pferde» und «Die gelbe Kuh», sind genauso versammelt wie die symbolistischen Bilder «Der Traum» und «Der Wasserfall».

Besonders beeindruckend sind auch die drei Bilder die sich durchaus politisch lesen lassen: «Reh im Walde», «Die Wölfe (Balkankrieg)» und «Die Angst des Hasen», Bilder die einen ganz anderen Franz Marc zeigen, Bilder in denen er neue Farben und Abstraktionsformen testet, Bilder die fast dämonisch und höchst beunruhigend wirken.

Kandinskys Gemälde sind in der Ausstellung streng chronologisch gehängt und das ist durchaus sinnvoll, da sich nur so sein Weg hin zur abstrakten Kunst nachvollziehen lässt. Von den Murnauer Landschaften führt der Weg ganz selbstverständlich zu den frühen Improvisationen, die noch gegenständliche Elemente erkennen lassen und von diesen zu den Abstrakten des Jahres 1914, wovon «Improvisation 35» aus dem Kunstmuseum Basel, das letzte einer grossartigen Entwicklung sein dürfte. Ein einzelner Raum ist dem Almanach «Der blaue Reiter» gewidmet.

Das Buch ist eine Kombination aus Texten und Abbildungen: Kandinsky widmet sich der Form- und der Bühnenfrage, Thomas von Hartmann der Anarchie in der Musik und Roger Allard der interessanten Frage der Kennzeichen der Erinnerung in der Malerei. Reproduktionen zeitgenössischer und mittelalterlicher Kunst sind genauso vertreten, wie Beispiele aussereuropäischer Kunst. Diverse Initialen stammen von Hans Arp, einige Vignetten steuerte Franz Marc bei. Paul Klee belieferte seine Freunde mit zahlreichen Materialien und das erklärt, weshalb überraschend viele Objekte aus Bali, Gabun und Borneo aus dem Historischen Museum Bern stammen.

 

 

Potential bis heute
Nicht nur bei Dada Zürich, auch beim Bauhaus und dem Blauen Reiter, um nur wenige Beispiele herauszupflücken, stellt sich jeweils die Frage, inwiefern wir von dem damaligen Potential auch heute noch was lernen können. «Der Blaue Reiter» ist ein Kunstkonzept, das bewusst Grenzen überwindet: Gattungsgrenzen, territoriale Grenzen, aber auch Mauern in unserem Kopf. Erstaunlich, das in diesem Buch deutsche, russische und französische Kunst so nahe nebeneinander stehen.

Dabei waren Deutschland und Frankreich seit dem Ende des deutschfranzösischen Krieges 1871 Erzfeinde. Was Wassily Kandinsky und Franz Marc gelungen ist, sie haben Künstler in das Buch aufgenommen, deren Werke bis heute diskutiert werden und Katalysatoreffekte aufweisen: Hans Arp, Robert Delaunay, Paul Klee. Auch konnte Franz Marcs Gegenständlichkeit problemlos neben Kandinskys Abstraktionen bestehen, sowie auch Edvard Munchs Werk gegenüber Piet Mondrians keineswegs im Nachteil ist. Kandinsky schrieb in einem Brief vom 19. Juni 1911 an Franz Marc: «In dem Buch muß sich das ganze Jahr spiegeln, und eine Kette zur Vergangenheit und ein Strahl in die Zukunft müßen diesem Spiegel das volle Leben geben». Auch wenn das im ersten Moment pathetisch klingt, dieser «Strahl in die Zukunft» leuchtet auch heute noch, das «wilde Denken» ist das Vermächtnis dieser beiden Künstler bis auf den heutigen Tag.

 

 

Die Ausstellung Kandinsky, Marc & Der Blaue Reiter dauert bis zum 22. Januar 2017. Die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel erreichen Sie am besten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, Tram Nummer 6, ab Basler Marktplatz. Öffnungszeiten täglich 10 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Veranstaltungen und Sonderführungen entnehmen Sie bitte www.fondationbeyeler.ch. Der umfassende Katalog mit 188 Seiten und 168 Abbildungen ist bei Hatje Cantz erschienen und kostet CHF 62.50.

 

 

«Kunsthaus Zürich: Alberto Giacometti – Der Visionär»

 

Von Ingrid Isermann

 

Wenn Alberto Giacoetti gewusst hätte, dass 50 Jahre nach seinem Tod einzelne Werke seines Schaffens auf Auktionen bis 140 Millionen Franken erzielen, was hätte er wohl dazu gesagt? Vermutlich hätte Giacometti den Kopf geschüttelt, warum die anfangs belächelten Skulpturen heute so gefragt und soviel wert sind.

 

Der stets bescheiden lebende Giacometti sagte, dass er so leben wolle, dass er mit wenigen Mitteln seinen Unterhalt bestreiten könne. Auf Glamour und Glitter legte er keinen Wert. Wenn er wie mit Puderzucker bestäubt, es war nur der Gipsstaub, seinen Besuchern im Atelier entgegentrat, fielen seine Demut und Bescheidenheit auf, bei all seinem Charme und Grandezza, die er ausstrahlte. Seine fragilen Gipsfiguren, die den späteren Berühmtheiten Skulpturen in Bronze wie dem «L’Homme qui marche» vorausgingen, sind Zeugen der porösen Oberfläche, die auch dem Menschen innewohnt, eine Versicherung der Unsicherheit, die alle betrifft, in allen Himmelsrichtungen.

Was wir sehen, ist was wir erkennen können, was sich uns wieder entzieht, was wir zerstören und wieder neu beginnen. Noch kurz vor seinem Tod sagte Giacometti: «Ich stehe erst am Anfang».

 

«Material und Vision. Die Meisterwerke in Gips, Stein, Ton und Bronze»

Das Kunsthaus Zürich, Sitz der Giacometti-Stiftung und damit der weltweit bedeutendsten Museumssammlung seiner Werke, richtet den Fokus in der Ausstellung auf 75 Gipsfiguren, die seit dem Tod des Künstlers (1901-1966) nicht mehr gezeigt wurden. Erst 2006 kamen die Gipsfiguren als Schenkung des Bruders Bruno Giacometti ins Kunsthaus zur Sammlung.

 

Die Gipse wurden von Kunsthaus-Spezialisten sorgfältig restauriert und von Schmutz und Staub befreit, jedoch ohne die cremeartige Kruste aus Trenn- und Isoliermitteln zu entfernen, um möglichst authentische Werke aus Giacomettis Atelier zeigen zu können. Dazu kommen 200 unbeschichtete und unzersägte Stiftungsplastiken, die nun aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachtet sind.

 

Der Fülle nicht genug: Etwa 250 Exponate beleben die grosse Schau – Plastiken aus der Stiftung und Leihgaben auch aus der Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris, Gemälde, auch von Giovanni Giacometti, Vater von Alberto, Werke aus der kubistischen und surrealistischen Periode, meterhohe und winzig kleine Arbeiten aus Stein und Ton und Plastilin und Holz, eine Fülle des Materials wie zuvor noch nie gesehen. Abgerundet wird der Blick auf Giacomettis Werk durch Fotografien von Peter Lindbergh, der erst vor wenigen Monaten exklusiven Zugang zu den Gipsen in ihren unterschiedlichen Zuständen erhielt.
Die Ausstellungsarchitektur überzeugt, die Wände sind in dezenten Grautönen gehalten, das kleinräumige Atelierzimmer naturgetreu nachgebaut, Vitrinen und Nischen mit Skulpturen und Werken  – der riesige Bührle-Saal ist reichhaltig bestückt, es geht um Wahrnehmungen der menschlichen Natur in den Werken Giacomettis, der immer von Neuem beginnen wollte und seine Arbeiten als work-in-progress betrachtete, unfertig, zum Scheitern verurteilt, aber doch aufrechten Gangs weitergehend.

 

Der ausführliche, reichhaltig bebilderte Katalog zur Ausstellung, diverse Autoren, Scheidegger & Spiess, 2016, ist im Buchshop erhältlich. CHF 59.
Ausstellung bis 15. Januar 2017.
www.kunsthaus.ch

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