FRONTPAGE

«Johannes Itten: Das Bauhaus-eine kleine Insel im Meer des Spiessbürgertums»

Von Ingrid Schindler

 

 

100 JAHRE BAUHAUS: Viel mehr als Architektur und Design! Das Bauhaus war ein radikal neues Lebenskonzept fern jeglicher Konvention – und den Nazis ein Dorn im Auge, entartete Kunst. Eine Reise an den Ursprung der europäischen Avantgarde nach Weimar und Dessau zum Auftakt des Festjahrs 2019.

Die Goldenen Zwanziger: Ein ausgelassener, überdrehter Tanz auf dem Vulkan im Würgegriff der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. 1918 und 1933 als Marksteine: Euphorischer Rausch und tiefste Depression zwischen dem Ende des ersten Weltkriegs und der Machtergreifung Hitlers. Das Ende der alten Zeit, die Ausrufung der Weimarer Republik, die erste demokratische Verfassung Deutschlands, Inflation, Weltwirtschaftskrise, ein unstillbarer Hunger nach Leben und: die Diktatur. In den Jahren dazwischen erfahren die Freizeitkultur und Vergnügungsindustrie einen nie dagewesenen Aufschwung. Kinos, Revuetheater, Zirkusarenen, Variétés, Jazzkeller, Kleinkunstbühnen, Sportstadien schiessen aus dem Boden, Freikörperkultur, sportliche Ertüchtigung, animalische Wildheit und gesunde Ernährung feiern Hochkonjunktur, zugleich begeistert sich der neue Mensch für Technik, Maschinen, Flugzeuge und das Automobil.
Das ist die Zeit des Bauhauses in Deutschland. 1919 in Weimar gegründet, von den Rechten 1925 vertrieben, 1926 in Dessau wiedereröffnet, 1932 erneut vertrieben, nach Berlin umgesiedelt, 1933 aufgelöst und in alle Welt verstreut. Nur 14 Jahre Existenz, drei Direktoren – Walter Gropius, Hannes Meyer, Ludwig Mies van der Rohe –, drei Standorte und 1’250 Schüler aus 29 Ländern reichten aus, die experimentelle Schule des neuen Bauens von Deutschland in die Welt zu tragen und zum einflussreichsten Kulturexport des 20. Jahrhunderts zu machen. Weil Bauhaus mehr ist als Design und Architektur: Ein lebensreformerisches Gesamtkunstwerk, erst elitär, dann massentauglich, mit dem Menschen im Mittelpunkt. Provokation, Aufbruch, Revolution! «Nur eine Idee hat die Kraft, sich so weit zu verbreiten» (Ludwig Mies van der Rohe).

 

 

 

Weimar, Urzelle der Avantgarde
Und das ausgerechnet in Weimar. Synonym für Deutsche Klassik. Eine hübsche, biedere Kreisstadt in der Mitte Deutschlands, in der Wieland, Goethe, Herder und Schiller die «Schönheit des Geistes» zum Strahlen brachten. In der das Nationaltheater, Goethe-Museum und die Anna-Amalia-Bibliothek Besuchermagneten sind, Bach, Liszt, Nietzsche und andere Geistesgrössen wirkten.
1901 wurde der belgische «Alleskünstler» Henry van de Velde nach Weimar gerufen, um die Stadt erneut zu einem Hotspot für Kultur in Europa zu machen. Das gelang. Van der Velde gründete und baute in Weimar neue Schulen für Malerei, Bildhauerei und Kunstgewerbe, aus denen nach dem Ersten Weltkrieg das Bauhaus hervorging. Die Weimarer Republik holte den Berliner Architekten Walter Gropius nach Weimar. Der legte 1919 das Bauhaus-Manifest vor und vereinte van der Veldes Kunstgewerbe- und Kunsthochschule zum Staatlichen Bauhaus. Gropius begriff neues Bauen als Einheit von Architektur, Bildhauerei, Malerei und Handwerk nach dem Vorbild mittelalterlicher Bauhütten beim Kathedralenbau. Eines seiner grossen Verdienste bestand darin, nicht nur Studenten aus aller Herren Länder, sondern Freigeister und Avantgardekünstler wie Feininger, Itten, Kandinsky, Klee, Schlemmer, Moholy-Nagy, Albers u.v.a. anzuziehen. Sein erklärtes Ziel war, Kreativität auf unterschiedlichste Arten auszuloten und nicht auf bestehenden Traditionen aufzubauen. Das Bauhaus wurde zum Experimentierfeld. «Man lernt wieder wie ein Kind zu spielen, Eigenschaften aus einem Stoff herauszuholen, die man bisher noch nicht kannte», kommentierte Hans Kessler die berühmte gestalterische Elementarlehre, die alle Bauhausschüler zu absolvieren hatten – «wider die geistige Vereinseitigung».

 

 

 

Gesamtkunstwerk und Designklassiker
Gropius’ Direktionszimmer ist eines der Highlights auf dem Rundgang durch das Weimarer Bauhaus. Ein Kubus im funktionellen Design, die Farben erklären die Funktion, die Form folgt: Gelb steht für den kommunikativen, Blau für den Arbeits-, Rot für den Eingangs- und Denkbereich, der Schreibtisch des Chefs steht im Schnittpunkt. Daneben der berühmte, quadratische, gelbe Gropius-Sessel F51 für Besucher, der wie viele hier Bauhaus-Entwürfe zu Ikonen des modernen Designs geworden ist, wie Marcel Breuers Stahlrohrstühle, Marianne Brandts Teekannen oder Wilhelm Wagenfelds Leuchten.
Für die Gestaltung der Wände des Bauhauses holte Gropius den «Totalkünstler» Oskar Schlemmer als Werkstattleiter für Wandbilder und Bildhauerei an Bord. Der Maler, Tänzer, Bildhauer, Fotograf, Bühnen- und Kostümbildner, Poet und Erfinder des programmatischen Triadischen Balletts ist eine der faszinierendsten Figuren am Bauhaus. Gemeinsam mit dem Grafikdesigner Herbert Bayer, der die neue Werkstatt für Druck und Reklame leitet, schuf er für die Bauhaus-Ausstellung 1923 – ein Riesenerfolg, nur nicht in Weimar – Wandreliefs im Treppenhaus in den Grundfarben Rot, Gelb, Blau. Als den Nationalsozialisten 1924 in Thüringen erstmals der Einzug in ein Landesparlament gelang, wurde Weimar zum Zentrum der Rechten und die Bauhäusler ein Jahr später aus Weimar vertrieben. Diejenigen Wandbilder, die zu dem Zeitpunkt nicht mit weisser Farbe übertüncht worden waren, wurden von den Nazis als entartete Kunst zerstört und durch Folkloremotive aus dem ländlichen Deutschland um 1800 ersetzt. Später wurden Schlemmers und Bayers Werke restauriert bzw. rekonstruiert.

 

 

 

Feste «gegen bürgerliche Herzverstocktheit»
Bevor die Nazis aufmarschierten, zogen die Bauhäusler immer wieder laut tanzend in Theaterkostümen durch die Stadt. Es wurde viel und exzessiv gefeiert. Feste gehörten als immanenter Bestandteil des Studiums an den Bauhausschulen in Weimar und Dessau dazu. Als «Protest gegen bürgerliche Herzverstocktheit, Gemütsduselei und Scheinleben», um Gästen zu zeigen, was Bauhaus ist, und «sich gegenseitig vor lauem Leben zu bewahren» (Johannes Itten). Legendär waren u.a. das Laternenfest zu Ehren von Gropius’ Geburtstag am 18. Mai, Sonnwendfest, Drachenfest, Julklapp (Weihnachten) und Mottofeste wie «Das weisse Fest. 2/3 weiss, 1/3 gedippelt, gewerfelt, gestreift», «Neue Sachlichkeit» oder «Das Metallische». Bis nach Berlin eilte den Open Parties ihr exzentrischer Ruf voraus. Die Zutaten: Paul Klees Puppenspiele, Sketche, wilde Tänze, die «halbbarbarische Negermusik» der Bauhausband, fantasievolle Kulissen, exotische und «triadische» Kostüme (Kugel, Dreieck, Rechteck, Spiralen, Stangen u.a.) u.a. von Oskar Schlemmer, der oft sein ganzes Geld darin investierte. Zum Glück hatte er vor dem Zweiten Weltkrieg einige Kostüme an das Museum of Modern Art in New York geschickt. Diese waren die einzigen, die den Nationalsozialismus überlebten und zur Rekonstruktion des Triadischen Balletts dienten.
Die verrückten Bauhäusler kamen im bürgerlichen Weimar nicht gut an. Die Bevölkerung lehnte sie ab, stand ihnen feindlich gegenüber, strammen Rechten waren sie geradezu verhasst. «Wenn ein Kind nicht gehorchte, hiess es: ‘Sei brav oder du musst ins Bauhaus!’», erzählt Student Jakob Wolters, der Besucher durchs Weimarer Bauhaus führt.
Als die Bauhäusler schliesslich in einem Protestmarsch Weimar verliessen, boten sich mehrere Städte an, sie aufzunehmen, zum Beispiel Frankfurt am Main, Darmstadt oder Dessau. Die Wahl fiel auf Dessau in Sachsen-Anhalt, eine vibrierende, aufstrebende, liberale Industriestadt (Flugzeugindustrie, Haushaltsgeräte, Maschinenbau). Bis die neue Schule und die Meisterhäuser am neuen Ort gebaut und bezugsbereit waren, verging ein Jahr.

 

 

 

Die Meisterhäuser von Dessau und Bauhaus fürs Volk
In Dessau kam das Bauhaus, nun mehr eine Hochschule für Gestaltung, zur vollen Blüte. Hier erfüllte sich die proklamierte Einheit von Kunst und Technik. In den Werkstätten des neuen Bauhausgebäudes von Gropius wurde der Grossteil der Bauhaus-Designklassiker entworfen. Für sich und die Meister aus Weimarer Zeit, Feininger, Kandinsky, Moholy-Nagy, Mucha, Klee und Schlemmer, konzipierte Gropius die sogenannten Meisterhäuser, die berühmtesten Künstlerhäuser ihrer Zeit. Für den einfachen Mann entwarf Gropius eine Reihenhaussiedlung in Dessau-Törten, Bauhaus sollte endlich für jedermann erschwinglich sein. Die Feste und das ausschweifende, libertäre Leben der Weimarer Zeit setzten sich in Dessau fort. Doch auch hier wehte Gropius bald ein schärferer Wind entgegen, so dass er schliesslich 1928 die Leitung dem Schweizer Architekten Hannes Meyer übergab.
Der zweite Bauhausdirektor erreichte nie den Bekanntheitsgrad von Gropius oder Mies van der Rohe, obwohl er das Bauhaus entscheidend prägte. Nach einer erstaunlichen Karriere in Deutschland, England und der Schweiz wurde der Basler 1927 zunächst zum Leiter der neu gegründeten Architekturabteilung ans Bauhaus berufen. Meyer war ein Meister des Funktionalismus und brachte eine handwerkliche Grundausbildung, wie sie Gropius postulierte, mit. Als gelernter Maurer und Steinmetz verkörperte er den idealen Werk- und Formmeister. Eigene Akzente setzte er durch eine Politisierung des Bauhauses und die Reform der Lehre: Er orientierte die experimentelle Arbeit in den Werkstätten an Vorgaben der industriellen Massenproduktion und brachte das Bauhaus zum Volk. «Volksbedarf statt Luxusbedarf» war seine Parole. Das Neue Bauen sollte erschwinglich, nutzerfreundlich und nicht mehr elitären Kreisen vorbehalten sein. 1930 wurde Meyer auf Gropius’ Betreiben von der Stadt Dessau wegen «kommunistischer Machenschaften» fristlos entlassen. Ludwig Mies van der Rohe trat nun als Direktor auf den Plan. Meyer emigrierte in die Sowjetunion, wo er den Entwicklungsplan für «Gross-Moskau» entwarf. 1936 ging er in die Schweiz, von 1938 bis 1949 nach Mexiko, danach kehrte er endgültig in seine Heimat zurück.

 

 

 

Die Idee trägt bis heute
Für die Nazis war Bauhaus typisch jüdisch-sozialistische Architektur. Kurz nach der Machtergreifung Hitlers 1933 gingen im Berliner Bauhaus die Lichter aus. Viele Bauhäusler emigrierten und trugen die Idee in die Welt hinaus. Gropius und Marcel Breuer wandern in die USA aus, Kandinsky nach Frankreich. Der grösse Teil der jüdischen Bauhauslehrer und -schüler ging nach Palästina, wo sie den Staat Israel vom Reissbrett aus nach Bauhaus-Prinzipien entwarfen und Tel Aviv zur grössten Bauhaus-Siedlung der Welt machten.
Die NSDAP benützte das Bauhaus in Dessau als lokale Parteizentrale, im Zweiten Weltkrieg wurde es von den Allierten bombardiert. Nach 1945 befand sich Dessau im russischen Sektor, das Bauhaus wurde erst nach Stalins Tod rehabilitiert. Dessau entwickelte sich neben Dresden und Ostberlin zum Zentrum für Architektur in der DDR, das Bauhaus wurde zur Hochschule für Architektur und Bauwesen. 1996 wurde das Gebäude originalgetreu rekonstruiert, es gilt als bedeutendster Bauhausbau der Welt.
In Weimar benannte man die Kunstgewerbe- und Kunsthochschule 1996 in Bauhaus-Universität um. Die beiden Bauhausschulen in Weimar und Dessau und die Dessauer Meisterhäuser wurden 1996 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen. «Die Bauhaus-Uni besitzt heute noch einen Wahnsinnsnamen, ist aber nicht mehr mit soviel Gehalt gefüllt wie damals», meint Student Wolters, der Besucher durch van der Veldes Gebäude führt (www.uniweimar.de/bauhausspaziergang).

Heute kann man an der Geburtsstätte des Bauhauses Architektur, Bauingenieurswesen, Gestaltung und Medien studieren. Die Studenten kommen aus 70 verschiedenen Ländern.
In 15 Fussminuten Entfernung – dazwischen befindet sich das Universum der Weimarer Klassik – laufen die Arbeiten am neuen Bauhaus-Museum auf Hochtouren. Eröffnung ist April 2019 anlässlich 100 Jahre Bauhaus. Auch dieser Standort strotzt vor Geschichte. Das Museum der Schule «wider die geistige Vereinseitigung» (Hans Kessler 1931), die, wie Itten es ausdrückte, eine «kleine Insel im Meer des Spiessbürgertums» war, erhebt sich direkt über dem ehemaligen Gauforum, auf dem die Nazis Aufmärsche und Versammlungen abhielten. Heute gehört der Platz, der in der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte «Herrenmenschen» arischer Abstammung vorbehalten war, allen, der ganzen Welt.

 

 

 

Reise an den Ursprung des Bauhauses
In ganz Deutschland gibt es wegweisende Architektur und herausragende Orte der Moderne, die unser heutiges Verständnis von Leben, Arbeiten, Lernen und Wohnen geprägt haben. Die Grand Tour der Moderne bietet einen Streifzug durch 100 Jahre Architekturgeschichte:

 

Tour 1 «Bauhaus entdecken» führt in 5 Tagen an sehenswerte Ursprungsorte des Bauhauses in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und Brandenburg.
«Bauhaus entdecken» – die Stationen:
Weimar, Wiege des Bauhauses, Bauhaus-Universität, Haus am Horn, Haus Hohe Pappeln, Bauhaus-Museum. Henry van de Velde und die Bauhäusler in Jena, Haus Auerbach. Bauhaus-Keramikwerkstatt in Dornburg. Haus Schulenburg in Gera. Haus des Volkes, Probstzella. Lyonel-Feininger-Galerie in Quedlinburg. Halle (Saale) und Lyonel Feininger. Aufbruch in die Moderne in Magdeburg. Diakonissen-Mutterhaus in Elbingerode. Piesteritzer Werkssiedlung in Lutherstadt Wittenberg. Bauhaus in Reinform in Dessau: Bauhausgebäude, Meisterhaussiedlung, Kornhaus, Siedlung Dessau-Törten, Laubenganghäuser. Berlin auf den Spuren der Bauhäusler, thematische Ausstellung im Jubiläumsjahr, Hufeisensiedlung, Siemensstadt. Observatorium im Einsteinturm in Potsdam, Einsteins Sommerhaus in Caputh, Mies-van-der-Rohe-Haus (Haus Lemke), Bundesschule Bernau.
Führungen, Events, Ausstellungen, Veranstaltungen im Rahmen des Bauhaus-Jubiläums: www.bauhaus100.de.

 

Reisen zum Bauhaus in Deutschland: grandtour@bauhaus100.de.

 

Reiseführer: „Bauhaus Reisebuch. Weimar – Dessau – Berlin“, Bauhaus Kooperation (Hrsg.), Prestel 2017

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