«Weltausstellung 1873: Als die Sojabohne nach Wien kam»
Von Ingrid Schindler
Die Weltausstellung von 1873 war ein ungeheurer Wirtschaftsmotor. Sie hat Wien in die Moderne katapultiert und zur lebenswerten Weltstadt gemacht. Ein Blick auf 150 Jahre Stadtentwicklung: Wiener Wasser, Sisis Sterne und was im Wurstelprater von der Ur-EXPO blieb.
1873 findet die fünfte Weltausstellung in Wien statt, als erste im deutschsprachigen Raum. Zuvor wechselten sich Paris und London in der Ehre ab, die Welt zu sich einzuladen und sich der Welt zu präsentieren. Dem österreichischen Kaiser Franz Joseph I. ist sie Anlass, das Herz des Habsburgerreichs auf Hochglanz zu polieren. Wenn die Welt auf Wien blickt, soll es sich von der allerbesten Seite zeigen.
Tatsächlich sprengt die Wiener Weltausstellung alles bisher Dagewesene. Das Expo-Areal im Prater umfasst mehr als 230 Hektar, es ist fünfmal grösser als zuletzt in Paris und zwölfmal grösser als in London. In weniger als zwei Jahren errichten 5000 Arbeiter aus allen Ecken des Kaiserreichs eine Messestadt superlativischer Ausmasse. Das Hauptgebäude, der neue Industriepalast, ist 800 Meter lang, die Rotunde in seinem Zentrum der damals grösste Kuppelbau der Welt. Rund 200 eigens gebaute Pavillons, Bauernhäuser für die Gastronomie und andere Gebäude für 53’000 Aussteller aus 35 Ländern verteilen sich über das weitläufige Gelände. 116’000 Quadratmeter Fläche werden für technische Neuheiten, bahnbrechende Maschinen, neue Produkte und Kulturgüter aus allen Ecken der Welt überbaut.
Japanische Kultur im Wurstelprater
Genug Raum für die gigantische Messe bietet der Prater, das einstige private Jagdrevier der Habsburger in den Donauauen. Seit 1766 ist er Naherholungsgebiet der Wiener und heute noch grösster Vergnügungspark der Welt. Das Wort leitet sich von lateinisch pratum, Wiese, ab; die Wiener unterscheiden den Naturpark, zu dem sie Grüner Prater sagen, und den Vergnügungsbereich alias Volks- oder Wurstelprater, was nicht von Wurst, sondern von Hanswurst kommt. Die Praterstrasse, vordem Jägerzeile und Siegesstrasse für einziehende Truppen, verläuft schnurstracks vom Stadtzentrum zum Praterstern am Wurstelprater. Von hier bis zum heutigen Praterstadion im Grünen Prater dehnte sich das Gelände der Weltausstellung aus.
Japan und China stellen jeweils in ihren Pavillons 1873 dem Westen erstmals die Sojabohne vor. Professor Friedrich Haberlandt von der k.k. Hochschule für Bodenkultur, ein Pionier der Seidenraupenzucht, interessiert sich für die verschiedenen Sojasorten und -produkte, ahnt ihr Potenzial und führt ihren Anbau in den Folgejahren in den Kronländern ein. Der globale Siegeszug der Sojabohne nimmt seinen Lauf. Im Juni 2023 tagt der 11. Weltkongress der Sojabohne in Wien. Dessen Bedeutung als führende Kongressstadt im Life-Science-Bereich geht auf die Weltausstellung zurück, in deren Rahmen 16 Kongresse stattfinden.
Den Gipfel der Exotik bietet 1873 Japan: Nach jahrhundertelanger Abschottung öffnet und präsentiert sich der fernöstliche Inselsstaat erstmalig in Wien der Welt. Japanisches Design und Kunst beeinflussen die Bildende Kunst nachhaltig und fliessen insbesondere in Gustav Klimts Werke ein. Japonismus kommt in Europa gross in Mode. Auch das «Orientalische Viertel» auf der Weltausstellung ist ein Publikumsmagnet, denn es ist das erste Mal, dass Marokko, Ägypten, Tunesien, das Osmanische Reich und Persien mit eigenen Pavillons auf einer Weltausstellung vertreten sind. Und nie zuvor reiste ein persischer Schah nach Europa. Die in Wien verbleibenden Werke bilden den Grundstock des Orientalismus in Europa und orientalische Muster und Motive fliessen ins Wiener Kunsthandwerk ein.
Glanz und Glamour: Königlich-kaiserliche Hoflieferanten
Nicht nur das Ausland, auch Österreich-Ungarn zeigt das Beste, was es zu bieten hat. Von den rund 900 renommierten Produzenten und Dienstleistern, die sich damals mit dem kaiserlich-königlichen Doppeladler und Titel eines k.u.k. Hoflieferanten schmücken dürfen, gibt es heute noch 20. Der elitäre Kreis dünnt sich aus, da der Titel ja seit Abschaffung der Monarchie 1918 nicht mehr verliehen werden kann.
Zu den Hoflieferanten, die 1873 ihre Schätze zur Schau stellten und deren Originalgeschäfte noch immer in der Wiener Altstadt existieren, zählen u.a. der Kristallglas-, Luster- und Spiegelhersteller J. & L. Lobmeyr, die Massschuhmanufaktur Scheer, das Heimtextilien-Haus «Zur schwäbischen Jungfrau», der Hof- und Kammerjuwelier A.E. Köchert, Herrenausstatter Knize oder Hofzuckerbäcker Demel. Es lohnt sich, diese aufzusuchen, denn vornehmer und geschichtsträchtiger shoppen beziehungsweise staunen, geht nicht. Lobmeyr-Glaswaren und -Lüster, die den Kaiserpavillon auf der EXPO bespielten, kann man bis 24. September auch in der Jubiläumsausstellung «Glanz und Glamour. 200 Jahre Lobmeyr» im Museum für Angewandte Kunst (MAK) sehen.
Das Ladenlokal von Schuhmacher Scheer nahe der Hofburg erinnert selbst an ein Museum. Die Leisten des Kaisers stehen dort neben 15’000 anderen musealen Leisten längst verflossener Kunden im Gewölbekeller aus dem 17. Jahrhundert. In siebter Generation fertigen Markus Scheer und seine Mitarbeiter Massschuhe für eine illustre internationale Kundschaft an. Für Gruppen bietet man Führungen durchs Haus und 200 Jahre Familiengeschichte an, auf Wunsch auch Schuhpflegekurse und kulinarische Anlässe.
Beim k.u.k. Hof- und Kammerjuwelier A.E. Köchert füllt ebenfalls Historisches die Vitrinen und Safes. Hier lagern Diademe, die auf Bällen in der Gründerzeit schwer angesagt waren, Preziosen der Kaiserfamilie, rund 15’000 Schmuckzeichnungen und Entwürfe berühmter Wiener Designer sowie in roten Samtetuis mit Doppeladler persönlicher Schmuck des Kaisers. Köchert war für die Betreuung der kaiserlichen Schatzkammer inklusive Pflege und Anpassung der Kronjuwelen zuständig. 1873 gewann der Juwelier mit einem gemeinsam mit Theophil Hansen entworfenen, byzantinischen Diadem den ersten Preis der Weltausstellung. Wie bei Lobmeyr arbeitete man mit den führenden Künstlern und Designern der Stadt zusammen.
Markenzeichen des Juweliers und Goldschmieds sind Sisis Diamantsterne, entworfen für den 1. Hochzeitstag des Kaiserpaars. Die Kaiserin hatte funkelnde Sterne im Haar der Königin der Nacht in der Wiener Oper gesehen und war begeistert. Franz Winterhalters Porträt der Kaiserin mit 27 Diamantsternen im Haar und die Filme mit Romy Schneider machten die Sisi-Sterne auf der ganzen Welt populär. Köchert hat die Sterne-Serie inzwischen neu aufgelegt.
Ringstrasse: Inbegriff der Gründerzeit
Die Weltausstellung markiert die grosse Wende Wiens in Richtung Moderne. Ein gewaltiger wirtschaftlicher Schub setzt in Wien schon in den Jahren der Vorbereitung auf die Mega-Messe ein. Denn es braucht Platz für neue Bahnhöfe und Strassen, repräsentative Paläste, Wohnungen, Gasthäuser usw., um ein Millionenpublikum zu empfangen. Man rechnet mit bis zu 20 Millionen Besuchern und Ausstellern aus aller Welt.
Die Stadtplaner klotzen nicht bloss, sondern verursachen Umwälzungen erdbebenartigen Ausmasses. Sie lassen auf des Kaisers Geheiss die Stadtmauern schleifen und verschaffen der eingezwängten Altstadt Luft, errichten sechs neue Bahnhöfe samt Bahntrassen und machen die Stadt zur Eisenbahndrehscheibe, regulieren die Donau und lassen die Aussenviertel mit dem Zentrum zusammenwachsen.
Die prächtige, 5,3 km lange, baumbestandene Ringstrasse mit der modernsten Trambahn der Welt, wienerisch «Bim», wird unter Hochdruck weiter ausgebaut. Museen, Konzertsäle und Theater von Weltruf werden konzipiert, wie das neue Burgtheater, Museum für Angewandte Kunst (MAK) oder Kunsthistorische Museum.
Luxushotels im Stil des Historismus eröffnen reihenweise an der Ringstrasse, wie das legendäre Imperial, das bis heute gekrönte Häupter, Staatsmänner und Weltstars empfängt, oder das Palais Hansen Kempinksi, entworfen vom führenden Ringstrassen-Architekten Theophil Hansen. (Zuletzt eröffnete in diesem Jahr The Amauris Vienna in einem mit hochwertigen Materialien und viel Marmor ausgestatteten Stadtpalais zwischen Bösendorfer und Staatsoper an der Prachtmeile).
Die Weltausstellung macht Wien zur gigantischen Grossbaustelle. Die touristische und Verkehrsinfrastruktur, Kultur- und Freizeitindustrie, der soziale Wohnungsbau, ja sogar die Wasserversorgung, sehr vieles, was das moderne Wien mit seiner ausgewiesen hohen Lebensqualität ausmacht, wird aus der Taufe gehoben. Wie zum Beispiel der Bau der «I. Wiener Hochquellenleitung» mit Alpenquellwasser aus Niederösterreich und der Steiermark, der in diese Zeit fällt. Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth weihen 1873 das Trinkwassersystem ein, das die Stadt heute noch versorgt, mit Kapazität für mehr.
Apropos Trinken: Es ist auch die Gründungszeit vieler der legendären Kaffeehäuser, die so sehr mit Wien verbunden sind, dass sie inzwischen als immaterielles Kulturerbe Österreichs im UNESCO-Verzeichnis aufgenommen sind.
Finanzielles Fiasko
Trotz all dem steht die am 1. Mai 1873 von Kaiser Franz Joseph – im Regen – eröffnete Weltausstellung unter keinem guten Stern. Die Arbeiten können wegen des Dauerregens nicht bis dahin abgeschlossen werden, das Ausstellungsgelände gleicht schon zu Beginn einer Sumpflandschaft und die Stadt versinkt im Verkehrschaos.
Am 9. Mai kommt es zum ersten schwarzen Freitag auf dem Kontinent: Hemmungslose Spekulationen verursachen Panikverkäufe und einen massiven Kurssturz an der Wiener Börse. Der «Gründerkrach» genannte Börsencrash lässt den Tourismus einbrechen. Kurz darauf bricht eine Cholera-Epidemie aus, der knapp 3’000 Menschen zum Opfer fallen. Die Lust auf Reisen nach Wien kommt gänzlich zum Erliegen.
Entgegen den hohen Erwartungen reisen bis zum 2. November 1873 nur knapp 7,3 Millionen Besucher nach Wien. Das Grossereignis endet mit fast 15 Millionen Gulden Defizit im finanziellen Fiasko. «Gelohnt hat es sich trotzdem in jeder Hinsicht, langfristig», weiss Wien-Guide Ilse Heigerth. «Wirtschaft, Technik, Kunst, Stadtentwicklung, alles erfuhr durch die Weltausstellung einen ungeheuren Schub.» Heigerth bietet Führungen zum Thema an. Wobei von der damaligen Ausstellung eigentlich nichts mehr übrigblieb.
Abgesehen vom Milchhäusl «Holzdorfers Meierei» und zwei Bildhauerateliers im Prater. Die Milchtrinkhalle war zur Zeit der Expo 1873 eine ultracoole American Bar, erzählt Heigerth, in der zum ersten Mal in Europa amerikanische Cocktails angeboten wurden. Sie befindet sich ganz in der Nähe des beliebten Schweizerhauses, Wiens ältestem Biergarten, wo man tschechisches Bier ausschenkt und knusprige Schweinshaxen alias Stelzen serviert.
«Die anderen 192 Pavillons von 1873 verwendete man als Bildhauerateliers und Bauhütten für Fassadenschmuck an Hunderten von Prachtbauten an der Ringstrasse.» Die Rotunde blieb als Ausstellungshalle bestehen, ist aber 1937 abgebrannt. Heigerth zeigt auf im Wurstelprater aufgestellten Schautafeln, wie das Festgelände damals ausgesehen hat. «40 Tagesmärsche hätte es gebraucht, um alle Pavillons zu besichtigen, erzählt man sich», so die Stadtführerin.
Stadtentwicklung auf der grünen Wiese
Auf Teilen des ehemaligen Weltausstellungsgeländes im 2. Gemeindebezirk sind inzwischen neue Stadtteile entstanden: das neue Messegelände, der Campus der Wirtschaftsuniversität und das Grätzl (wienerisch für Stadtviertel) «Viertel Zwei» mit der heute noch genutzten, historischen Trabrennbahn im Zentrum.
Das auf dem Reissbrett konzipierte, energieautarke bzw. «energieintelligente» hochgezogene Wohn- und Arbeitsquartier für 15’000 Bürger gilt als Paradebeispiel für zukunftsweisende Stadtplanung. Darunter fallen Prämissen wie Nachhaltigkeit, Gendergerechtigkeit, Dekarbonisierung, ein hoher Anteil an Grün-, Freizeit- und Wasserflächen, klimaangepasstes Wassermanagement bzw. Schwammstadtprinzip und vieles mehr.
Weitere aus dem Boden gestampfte Quartiere für Zigtausende Bewohner sind die ausserhalb gelegene, gut angebundene Seestadt Aspern oder das weitgehend autofreie, urbane Sonnwendviertel im 10. Bezirk (Favoriten). Dort, im Süden des neuen Hauptbahnhofs, entstanden auf Brachland zwischen ehemaligen Gleisanlagen, Lagerhallen, Lokschuppen und Bahnhofsgebäuden Arbeitsplätze für 20’000 und Wohnungen für 13’000 Menschen inklusive Bildungscampus, Park und lokaler Infrastruktur.
Gender-, frauen- und queerfreundliches Bauen beinhaltet mehr, als Strassen nach vergessenen Pionierinnen, Künstlerinnen oder sozial engagierten Frauen zu benamsen, wie es besonders im «Viertel Zwei» ins Auge sticht. Eva Kail, die das Frauenbüro für strategische Planung Magistratsdirektion für Bauen und Technik der Stadt Wien leitet, erläutert, dass darunter zum Beispiel Aspekte wie die geschlechtersensible Ausrichtung von Parks und Spielplätzen, die Vermeidung gefährlicher, dunkler Gänge und Passagen oder das starke Zurückdrängen des Individualverkehrs fallen, da, wie sie meint, Autofahren immer noch zu 70 Prozent männlich sei und Frauen mehr öffentlicher Raum zustünde.
Wie man Wohnungen, insbesondere Küchen, optimal funktional und frauenfreundlich gestalten kann, zeigen auf eindrückliche Weise Exponate im Museum für Angewandte Kunst. Allen voran die Frankfurter Küche der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky aus den 30er Jahren, die zum Prototyp der modernen Einbauküche im sozialen Wohnungs- und Siedlungsbau im Roten Wien wurde, für den sich die Wiener Architektin engagierte.
Ob das Wien von morgen weiblicher, bunter, diverser werden wird, sei dahingestellt, feststeht, dass sich Investitionen in eine vorausschauende Stadtplanung lohnen. Die Stadt wächst und gedeiht wie zur Boomzeit vor 150 Jahren. Wie damals wird neuer Wohn- und Lebensraum gebraucht, denn die Bedürfnisse und Ansprüche haben sich verändert und sind ebenfalls gewachsen.
Zwischen 1873 und 1900 verdoppelte sich die Einwohnerzahl, Wien entwickelte sich nach London, Paris und New York zur viertgrössten Stadt der Welt. 1916 wurde der Peak mit gut 2,2 Millionen Einwohnern erreicht. Man schätzt, dass 2028 erneut die 2-Millionen-Marke geknackt wird. Dabei wirkt sicher unterstützend, dass Wien seit Jahren den Spitzenplatz unter den lebenswertesten Städten der Welt belegt.
Die nächste Weltausstellung findet 2025 in Osaka, Japan, vom 13. April bis 13. Oktober statt.
Bildlegenden: 1) Hofburg Wien 2) Milchhäusl «Holzdorfers Meierei» 3) Beim Schuhmacher Scheer 4) Neues Stadtviertel Grätzl «Viertel Zwei» 5) Hof- und Kammerjuwelier A.E. Köchert 6) Concierge Hotel Imperial.
150 Jahre Wiener Weltausstellung – Tipps
Übernachten: Hotel Imperial (Marriott Luxury Collection), The Amauris Vienna (Relais & Château).
Essen & Trinken: Meierei im Stadtpark, Café Imperial, &flora im Hotel Gilberts, MQ Libelle (Aussichtsterrasse des Leopold Museums), Salonplafond im MAK, Zum Schwarzen Kameel, Neue Hoheit Bar im Rosewood Vienna, Café Landtmann, Wiener Würstelstand (bio) Pfeil-/ Strozzigasse.
Ausstellungen: Glanz und Glamour, 100 Jahre Lobmeyr im MAK (Museum für Angewandte Kunst) plus Dauerausstellung; Weltmuseum Wien; Hoflieferanten: www.scheer.at; www.lobmeyr.at; www.koechert.com.
Führungen: zu den Themen Weltausstellung, k.u.k. Hoflieferanten, Stadtentwicklung damals und heute etc.: mit Ilse Heigerth, Tel. 0043 676 53 46 972; 150; History Run, Geschichte erlaufen (Fitness), auch Frauenthemen: www.rebeltoursvienna.com. Info: www.wien.info