FRONTPAGE

«Anish Kapoor: Von Grösse und anderen Illusionen»

Von Sacha Verna

Drei Männer sitzen auf einer Bühne im vollbesetzten Auditorium der New York Public Library: Der Musiker und Hitproduzent Brian Eno, der Opern- und Theaterregisseur Peter Sellars und der Künstler Anish Kapoor. Sie sind auf Einladung von Rolex hier – ohne ihre talentierten jungen Schützlinge, die sie mit der finanziellen Unterstützung der Uhrenfirma ein Jahr lang begleitet haben, aber nicht verlegen um Worte, mit denen sie Rolex fürs Sponsoring danken, das auch dieses Podiumsgespräch ermöglicht hat.

Eno, Sellars und Kapoor werden von einem vierten Herrn, einem leicht lispelnden und konstant namhafte Dichter und Denker zitierenden Moderator zum Thema Grösse befragt.
Dabei geht es nicht um ihre eigene Grösse, die in ihrem jeweiligen Betätigungsfeld beträchtlich ist. Die Herren unterhalten sich vielmehr ganz spezifisch über die Rolle der Grösse im Werk von Anish Kapoor.
Auf zwei Leinwände sind Aufnahmen von «Sky Mirror» projiziert, jenem konkaven Rund aus poliertem Edelstahl, das, drei Stockwerke hoch, im Sommer 2006 die Plaza vor dem New Yorker Rockefeller Center zierte.
Kritiker und Publikum waren davon begeistert. Genauso wie sie es überall sonst waren, wo Kapoors Himmelsspiegel bisher gezeigt wurde, sei es in St. Petersburg oder in Londons Kensington Gardens.

 

Viele von Anish Kapoors Skulpturen sprengen die Grenzen des Museums. Der 57-jährige in Mumbai geborene, in London lebende Künstler zählt zu den prominentesten Bildhauern der Gegenwart.  Seit den 1980er Jahren bezirzt er Kunst- und andere Menschen mit Werken, die sich traditionellen Ausstellungen oft verweigern. Anfangs waren es Pigmentskulpturen, dann optisch verwirrende Installationen. Heute sind es monumentale Skulpturen, mit denen Kapoor weltweit bekannt geworden ist.
«Temenos» etwa besteht aus einer über hundert Meter langen Serie aus Stahlreifen und Netzen, die über der Hafenanlage im tristen englischen Industriegebiet von Middleborough schweben.
Für die Piazza del Plebicito in Neapel entwarf Kapoor 1999
«Taratantara», eine rote fünfzehn mal vierzig Meter messende Membran aus PVC, die der Form nach einer nach innen gestülpten Röhre gleicht.

 

«Museen können Kunst-Ghettos sein», sagt Anish Kapoor.
Aber:

«Ich betrachte Kunst im öffentlichen Raum nicht als Alternative zu Kunst in Museen. Im Gegenteil. Ich mag ‘Kunst im öffentlichen Raum’ eigentlich gar nicht. Es gibt viel zu viel davon. Allerdings gehört es zum meiner Aufgabe als Bildhauer, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Eine Kunstwelt ohne Museen ist jedoch undenkbar. Und mir scheint, dass die Museen des 21. Jahrhunderts Künstler mit ihren riesigen Räumlichkeiten immer mehr zu riesigen Werken ermuntern».

 

Als Beispiel dafür nennt er ein eigenes: «Marsyas», jenen roten Trichter aus Stahl und Kunststoff, der sich 2001 von einem Ende der 240 Quadratmeter grossen Turbinenhalle der Londoner Tate Modern zum anderen erstreckte. Grösse sei ein Instrument des Bildhauers, so Kapoor:

«Grösse bildet einen wesentlichen Bestandteil der Skulptur. Aber die meisten Leute haben ein merkwürdiges Verhältnis dazu. Sie sagen zu mir: Ah, Sie machen doch diese riesigen Dinger. Dabei spazieren sie durch die Strassen New Yorks und merken nicht, dass sie von noch viel riesigeren Dingern umgeben sind, neben denen mein Arbeiten winzig wirken. Ich will im Betrachter ein Gefühl von Ehrfurcht auslösen. Ich will, dass er aufschreckt, wenn er eines meiner Werke sieht (lässt den Kiefer fallen und reisst die Augen auf). Das hat mit Erhabenheit zu tun, mit einer Bedeutung, die weit über die blossen Dimensionen einer Skulptur hinausgehen».

 

Das Wort «Erhabenheit» verwendet Anish Kapoor noch oft. Er sei am Ursprung aller Dinge interessiert, sagt er:

«Was ist der Ursprung aller Dinge? Das Bewusstsein. Meine Werke sollen den Betrachter dorthin zurückbringen. Ich manipuliere damit den Raum um ihn herum, die Erfahrung, die er in diesem Raum macht, die emotionale Realität, in der er sich befindet. Das ist ein ziemlich ehrgeiziges Unterfangen für einen Künstler, aber eines, dem sein Leben zu widmen sich lohnt. »

 

Anish Kapoors Karriere ist von Superlativen geprägt. Da sind wie erwähnt die Masse.

2012 wird im Olympischen Park in London Kapoors “Orbit” enthüllt, ein 115 Meter hoher Turm aus verschränkten Metallstreben, der als das höchste öffentliche Kunstwerk in die Geschichte Englands eingehen wird.

Dann sind da die Massen. 275’000 Besucher strömten 2009 in die Royal Academy, um Kapoors Retrospektive zu sehen, mehr als je zuvor einem lebenden Künstler in London die Ehre erwiesen. Und natürlich sind da die Millionen, die Sammler, Museen und Körperschaften für Kapoors Arbeiten hinzublättern bereit sind.
Ganz zu schweigen von den Preiskomitees, zu deren Lieblingen Kapoor spätestens seit 1991 gehört, als er den prestigeträchtigen Turner Prize erhielt.

 

Nun hält der Mann in der Suite eines New Yorker Luxushotels Hof. Er trägt wie üblich schwarz und wedelt gelegentlich mit einer Brille, um seinen Aussagen Nachdruck zu verleihen. Manchmal schliesst er die Augen und stahlt übers ganze Gesicht.
Warum, ist nicht immer ganz klar. Es sei denn, er freut sich darüber, dass er an jenem Punkt angelangt ist, von dem jeder Künstler träumt: Er kann machen, was er will.
Er kann es sich sogar leisten, einen Trupp von Assistenten in seinem Londoner Studio an Modellen zu arbeiten lassen, die viel zu aufwendig sind, um je verwirklicht zu werden. Diese Freiheit sei ihm enorm wichtig:

«Die Kunstwelt ist in der Herstellung verkäuflicher Produkte gefangen. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat sich die Kunst zur Allerweltsware entwickelt, für die Geld als einziger Massstab gilt. Wenn sie sich einen Picasso anschauen, sehen Sie zugleich die 30 Million Dollar, die er gekostet hat. Das Geld trägt zum Mythos dieses Werkes bei, dazu, dass sich die Flecke lächerlicher Ölfarbe auf einem lächerlichen Stück Leinwand in etwas anderes verwandeln. Eine ganze Generation von Künstlern wurde dazu erzogen, diesen Markt zu beliefern. Ich entstamme noch der Generation davor. »

 

Als seine Generation bezeichnet Anish Kapoor die der New British Sculpture, die von Tony Cragg, Richard Deacon und Bill Woodrow. Sie lernte Kapoor kennen, als er 1973 nach London zog, um Kunst zu studieren.

«Da, wo ich aufwuchs, gab es keine Museen. Es gab vereinzelte Galerien und Künstler, aber meine Eltern bewegten sich nicht in diesen Kreisen. Ich war vielleicht zehn oder elf Jahre alt, als mir bewusst wurde, dass so etwas wie Kunst überhaupt existiert. Das hauptsächlich deshalb, weil sich mein Vater sehr für Musik interessierte. Ich begriff, dass es eine Tätigkeit gab, deren Resultate keinen materiellen Nutzen zu haben schienen».

 

Anish Kapoors Vater war Ingenieur bei der indischen Navy und Hindu. Seine Mutter entstammte einer jüdischen Familie aus Irak. Obgleich er in einem weltlichen Haushalt aufwuchs, verbrachte Kapoor die Jahre zwischen 1971 und 1973 in Israel, unter anderem in einem Kibbuz.
Seine Erkenntnisse dort waren eher praktischer als metaphysischer Natur. Jedenfalls merkte Kapoor bald, dass er selber für das Ingenieurstudium nichts taugte und ihn die schönen Künste viel stärker anzogen.
Seinen ethnisch-religiösen Hintergrund hat Kapoor stets heruntergespielt. Selbst der Akzent, mit dem er englisch spricht, ist schwer zu verorten. Es ist weder Bollywood – noch British English. Kapoor wehrt sich vehement gegen das, was er die “Exotifizierung” in der Kunstwelt nennt:

«Wir bewegen uns in einer westlichen Kunstwelt, die nur vortäuscht, global zu sein. Ich habe immer betont, dass ich ein Künstler indischer Herkunft bin, kein indischer Künstler. Das ist ein grosser Unterschied. Denn hat man einmal das Exoten-Etikett am Hals, wird jedes Werk in diesem Licht interpretiert. Der Künstler wird seiner Kreativität beraubt. Das ist eine Sichtweise, die ich entschieden ablehne.»

 

Überhaupt verwahrt sich Anish Kapoor gegen eine leichte Lesbarkeit seiner Skulpturen.
So liess er 2007 «Svayambh» auf einem Gleissystem durch das Haus der Kunst in München gleiten. Der Klotz aus rotem Wachs hinterliess überall Spuren, die angesichts der Nazi-Vergangenheit des Gebäudes sofort als Blutspuren gedeutet wurden. Rot, Blut, Nationalsozialismus, Künstler mit jüdischer Mutter – solche Kurzschlüsse seien viel zu einfach und langweilten ihn:

«Ich schreibe niemandem vor, wie er meine Werke zu interpretieren hat. Ich diktiere niemandem ihre Bedeutung. Mich interessiert der Prozess, den jemand durchläuft, um eine sogenannte Bedeutung zu entdecken. Abstrakte Objekte erlauben es uns, sie auf verschiedenen Ebenen zu erleben – physisch, emotional und intellektuell. Das ist das Grossartige an ihnen. Meine Objekte sind zudem nie, was sie vorgeben zu sein. Mir gefällt das Spiel mit der Illusion, die Vorstellung, dass die Stofflichkeit einer Skulptur auch nicht-stoffliche Eigenschaften hat. »

 

Dass hinter dem blendenen Äusseren ein hohles Inneres steckt etwa. Dass Leere nur empfunden werden kann, wo Substanz vorhanden ist. Solche Dualitäten, ja, das Phänomen der Dualität an sich faszinierten ihn, sagt Anish Kapoor:

 

«Schauen Sie sich die Welt an, in der wir leben. Sie ist voll von Gegensätzen. Tag und Nacht, männlich und weiblich, schön und hässlich – unsere gesamte Psyche basiert auf dem Konzept der Dualität. Sie drängt sich einem als Thema oder, besser gesagt, als Inhalt auf – ich mag ‘Themen’ nicht. Wenn man wie ich den Betrachter meiner Werke in verschiedene Stadien des Bewusstseins versetzen will, stellen sich auch moralische Fragen. Wird etwas positiv oder negativ erlebt? Was ist gut, was ist böse? Solche Fragen sind unausweichlich.»

 

Zeit oder keine Zeit? Oder: Die Zeit ist um. Die Dame, die Anish Kapoors Agenda handhabt, gibt das Zeichen zum Aufbruch. Anish Kapoor habe nun leider weitere Verpflichtungen, vielen Dank und auf Wiedersehen.
Der Meister steckt sein iPhone in die Sakkotasche und macht im Aufzug noch ein bisschen höfliche Konversation: «Ach diese Schweizer mit ihrem Dialekt.»
Dann öffnen sich die Türen, und Anish Kapoor verschwindet mit seinem weiblichen Sekretariat in der Menge.
Grösse ist ein relativer Begriff, auch wenn man Anish Kapoor heisst. Ja, gerade dann.

 

Das Rolex Mentor & Protégé Programm

Die Begegnung mit Anish Kapoor fand während des feierlichen Abschlusses der Rolex Mentor & Protegé Arts Initiative 2010/2011 in New York statt. Seit 2001 paart die Uhrenfirma Grössen aus allen Kunstbereichen mit talentiertem Nachwuchs und ermöglicht es Mentor und Schützling, ein Jahr lang überall auf der Welt zusammenzuarbeiten, zu diskutieren oder Urlaub zu machen.

Anish Kapoor kam auf diese Weise mit dem 1975 geborenen südafrikanischen Künstler Nicholas Hlobo zusammen. Statt eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses entwickelte sich zwischen den beiden ein angeregter Dialog, den Kapoor und Hlobo auch ohne das Sponsoring von Rolex weiterzuführen gedenken.

 

«Ich habe gemerkt, wie schwierig es ist, ein Mentor zu sein», sagt Kapoor. «Ich konnte Nicholas ja keine handwerklichen Tricks beibringen. Deshalb haben wir uns schon sehr früh auf Gepräche über die grossen philosophischen Fragen verlegt, die uns beide beschäftigen.» Was ist Schönheit? Trägt der Künstler der Gesellschaft gegenüber eine bestimmte Veranwortung? Wie verständlich muss Kunst sein?

Nicholas Hlobos Rauminstallation und Skulpturen gleichen jenen Kapoors in keiner Weise. Hlobo fügt unterschiedlichste Materialien – von Netzen und Treibholz bis zu Lederstiefeln – zu Gebilden zusammen, die, manchmal verbunden mit Performances, Hlobo als Erben von Kunst und Sprache der Xhosa zeigen und zugleich als Spieler mit globaler Symbolik.

«Im Lauf meines Jahres mit Anish sind meine Werke viel gegenständlicher geworden», sagt Hlobo – ein Umstand, der seinem Mentor ebenso befreiend wie gefährlich erscheint:
«Dieser Wandel bedeutete einerseits eine Öffnung von Nicholas’ Arbeitsprozess, andererseits werden Werke expliziter, je figurativer sie sind», so Kapoor.

 

Anish Kapoors Kritik an seiner Arbeit sei immer mit Respekt verbunden gewesen, sagt Hlobo: «Er ist kein Besserwisser. Er hat es mir vielmehr ermöglicht, in verschiedene Richtungen zu denken».
Auch über die kapitalistischen Aspekte zeitgenössischer Kunst haben sich Hlobo und Kapoor wiederholt unterhalten. Hlobos Ansicht nach wäre die Kunstwelt ohne Geld eine bessere. Kapoors Meinung darüber fällt differenzierter aus, doch sagt er: «Zum Glück gehört Nicholas schon nicht mehr zu jener Generation von Künstlern, die nur Ware für den Markt produzieren».
Hlobo betont, dass der ganze Kunstbetrieb ihn nicht interessiere. Angesichts der Ausstellungen in namhaften Museen und der Teilnahmen an Biennalen und Messen, die auf seiner Agenda stehen, wird jedoch auch Nicholas Hlobo in naher Zukunft wohl den Marktfahrer in sich entdecken.

Neben Kapoor fungierten 2011 Brian Eno, Peter Sellars, Hans Magnus Enzensberger und Trisha Brown als Mentoren. Der viertägige Rolex-Gipfel wurde von Podiumsdiskussionen und künstlerischen Darbietungen in der New York Public Library begleitet. Das Publikum strömte Massen hinzu, und die internationale Presse schrieb eifrig mit.

 

 

Anish Kapoor wurde 1954 in Mumbai geboren. Er lebt und arbeitet seit den frühen 1970er Jahren als Bildhauer in London, wo er zunächst am Hornsey College of Art und dann an der Chelsea School of Art Kunst studiert hat. 1990 repräsentierte Kapoor Grossbritannien an der Biennale in Venedig und wurde mit dem Premio Duemila ausgezeichet. Zu seinen bekanntesten Skulpturen und Installationen zählen «Marsyas» (Tate Modern, London, 2002), «Cloud Gate» (Millenium Park, Chicago, 2004) und «Leviathan» (Monumenta, Grand Palais, Paris, 2011).

Für die Olympischen Spiele 2012 in London hat Kapoor «Orbit» entworfen, eine monumentale Stahlskulpur, die im Olympischen Park bleiben wird. Neben zahlreichen anderen renommierten Preisen erhielt Kapoor 1990 den Turner Preis und 2011 den Praemium Imperiale.

Courtesy Du-Kultur-Magazin, Erstveröffentlichung Februar 2012.

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