Georg Seesslen: Heimaten – Gefährliche Sehnsucht»
Von Georg Seesslen.
Zwischen Dirndl, Designer-Lederhose und Leberkäs Hawaii: Gedanken zum Mythos der Heimat anlässlich einer Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg.
Das Erste, was man an dem Wort «Heimat» bemerkt, abgesehen davon, dass es gern in ziemlich üble Gesellschaft gerät, ist der Umstand, dass man es auf direkte Weise kaum in eine andere Sprache übersetzen kann. Alles, woraus der Begriff, das Empfinden, die Tradition zusammengesetzt sind, gibt es auch anderswo, aber diese Zusammenfassung eigentlich disparater Elemente – irgendetwas zwischen Herkunft, Zuhausesein, Landschaft, Sprache, sozialer Ordnung, Geborgenheit, Enge, Idyll, Kitsch und Kindheitstraum – ist ein deutscher Mythos. Genauer gesagt: Heimat ist ein Mythos des deutschen Kleinbürgertums.
Diesen Mythos gibt es in einer rechten und einer linken Version. Die rechte Version nennt sich „konservativ“ und achtet auf das Fortbestehen von Formen und Sitten, nötigenfalls gegen Einmischungen von außen. Die linke Version sieht in Heimat ein Projekt der Mitmenschlichkeit und gegebenenfalls basisdemokratischer Umwelt-Gestaltung. Es gibt auch eine sehr rechte Version, die sich mit völkischen und rassistischen Elementen vermischt. Und es gibt eine utopische Version, die von Ernst Blochs Hoffnung auf etwas kommt, das uns in die Kindheit scheint und worin noch niemand war. Heimat also. Und dass Bloch schreibt, „worin“ und nicht „wo“ wir noch nicht waren, aber wohin wir durch Arbeit und Freundlichkeit einst gelangen könnten, das weist schon darauf hin: Heimat ist weniger ein Ort, an den man gelangen könnte (wie an ein Ziel, das möglicherweise mit dem Ausgangspunkt übereinstimmt), als ein System, ein Körper gar, ein Kunstwerk, in dem das Subjekt und seine Umwelt vollkommen miteinander versöhnt sind.
So weit ist es noch lange nicht. Weshalb wir uns derzeit mit einem Mythos begnügen müssen. Der Mythos ist weder Wirklichkeit noch Fiktion, sondern eine spezielle Form der Fiktion, ohne die die Wirklichkeit nicht wäre, was sie ist. Unerträglich zum Beispiel. Der Mythos wird zum Teil der Wirklichkeit, in der wir leben. Ohne ihn kann man nicht begehren, handeln, kommunizieren. Aber natürlich, potz Medea und Ödipus, lauern das Grauen und die Gewalt darin. Auch im Mythos Heimat, der nie anders als mit Raub und Vertreibung beginnen kann, und sei’s, dass man sie der Natur „abgetrotzt“ hat. Zum Universalmythos wird Heimat überall dort, wo die Begegnung von Mensch und Wildnis sichtbar wird, an Bergen und Meeren, an Wäldern und Flüssen, vielleicht sogar an den Rändern der zurückgekehrten Wildnis in den urbanen Ghettos.
Zum Wesen des Mythos gehört es, dass man ihn zwar unendlich variieren, aber nie vollständig erklären kann. Und so fängt das an: Niemand kann erklären, was Heimat ist. Was man dagegen erklären kann, sind die Spuren, die sie hinterlassen hat, in den Kulturen, den Regionen, den Gesellschaften und den Biografien. Man kann erklären, welche Bilder und Erzählungen, welche Riten und Reenactments aus dem Mythos gewonnen wurden. Man kann erklären, was im Mythos Heimat spukte und raubte, besetzte und fälschte: Ideologie und Interesse. Und sogar ins bekanntlich geheimnisvolle Seelenleben kann man gelegentlich vordringen am Leitfaden von Heimat.
Dies alles kann man, modisch genug, aber doch auch methodisch akkurat, eine „Dekonstruktion“ des Mythos nennen. Ein Re-Arrangement der erklärbaren Elemente, aus denen ein nicht erklärbares Ganzes besteht. Dies scheint ein Ziel der für den Juni geplanten Ausstellung Heimaten im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MK&G), zu sein, der es allerdings nicht allein um Bestandsaufnahme und Rückblick geht, sondern um eine tätige Auseinandersetzung mit dem Begriff. Eine Umfrage wird die Ausstellung begleiten: Der Mythos ruft in die sozialen Echokammern hinein. Denn auch dies gehört zum Wesen des Mythos: dass er sich anzupassen versteht, dass er sich erneuert und ergänzt.
Das erste Statement der Unternehmung besteht darin, dass sie den Begriff in den Plural setzt. Damit ist wohl nicht nur gemeint, dass verschiedene Menschen verschiedene Heimaten haben, damit, wie nach den Vorstellungen von „Identitären“, ein ordentliches Netz von deutlich voneinander geschiedenen Heimaten über die Welt gelegt werden kann, sondern auch der Umstand, dass ein einzelner Mensch an verschiedenen Orten, in verschiedenen Sprachen und in verschiedenen Kulturen Heimat finden kann und dass, umgekehrt, ein Ort, eine Sprache, eine Kultur sehr verschiedenen Menschen Heimat sein kann. Schon hier freilich stellt sich die Frage, ob damit der Mythos Heimat modernisiert werden kann oder aber der Begriff Heimat entmythisiert werden soll. Dass eine entsprechende Nachjustierung dringend notwendig ist, zeigt der Blick auf die metapolitischen Hegemonialstrategien der extremen Rechten. Wem es gelingt, den Mythos Heimat politisch zu besetzen, der hat eine mächtige Waffe gegen die demokratische Zivilgesellschaft in der Hand – den anderen Raum der Identifizierung. Zur selben Zeit gibt es eine andere Form der Besetzung, die touristische, kommerzielle und mediale. Schauen wir uns Fernsehen und Werbung an: So viel „Heimat“ war nie, seit in den Nachkriegsjahren „Heimat“ zum Rückzugsraum der Nation bestimmt war.
Um zu begreifen, wie gefährlich der Mythos Heimat in den falschen Händen ist, muss er in der Tat mithilfe der Exponate, der Reaktionen darauf und des Umfrageprojekts „dekonstruiert“ werden. Verwendet man den Mythos-Begriff in der Art, wie ihn Roland Barthes in den Mythen des Alltags entwickelte, dann hat man eine Reihe von Bedingungen und Wirkungen vor Augen: Es mag beginnen mit dem, was Barthes den Wirklichkeitsrest in der Mythologie nennt. Das heißt, die Heimat in einer entsprechenden Mythologie setzt sich aus Elementen zusammen, von denen einige an der Wirklichkeit zu messen sind (die Alpen gibt es ja wirklich, und sie sind wirklich ziemlich groß, und auch der Rhein ist wirklich ein mächtiger Fluss), andere eine Ableitung darstellen (die Fantasie-Trachten zwischen Woolworth-Dirndl und Designer-Lederhose) und wieder andere Transzendierungen (die Heimatschilderungen von Ganghofer oder Defregger, die den Mythos in die Bürgerstube bringen).
Zum Mythos wird das Vorhandene durch die Montage, die Verdichtung und vor allem die „Erklärung“. Auf die Frage „Warum ist das so?“ antwortet der Mythos: weil das schon immer so war. Der Mythos hat eine Beziehung zur Ewigkeit oder zur Dynamik der ewigen Wiederkehr. In der Heimat – oder eben im Mythos Heimat – erklären sich die Dinge durch ihre Dauer. Man nimmt dann, ganz direkt, im Drama Zuflucht zu den Elementen, den Werten, den Begriffen, den Bildern, die von sich behaupten, sie seien schon immer da. Dies ist vor allem die Funktion der Natur im Genre, aber auch die von bestimmten archaischen Typen am Rand.
Die Widersprüche im Mythos Heimat
Im Zentrum des Mythos liegt, wieder nach Roland Barthes, ein unlösbarer Widerspruch – oder mehrere davon. Als übergeordneten Widerspruch im Mythos Heimat können wir den zwischen der Notwendigkeit der Erneuerung und dem Wunsch nach Konservation ausmachen. Wenn wir einigen soziologischen Bedingungen dabei folgen, erkennen wir diesen Widerspruch zwischen Fortschritt und Beharrung – oder den zwischen Befreiung und Sicherung – als wesentlich für den Kleinbürger und die Kleinbürgerin und ihre ökonomische, politische und kulturelle Situation, und dieser Widerspruch spitzt sich in jeder Krise, in jeder Veränderung der Gesellschaft dramatisch zu. Die These also, die sich übrigens durch die quantitative Analyse bestätigen lässt, die Willy Höfig in seiner Studie zum Heimatfilm in den Siebzigerjahren anstellte, lautet: Heimat ist ein Mythos, der vor allem von einem nationalen Kleinbürgertum in einer Krisensituation sehr heftig nachgefragt wird.
Zwischen dem nationalen Kleinbürgertum und dem Heimatmythos gibt es nicht nur heftige Anziehung, sondern auch deutliche Abgrenzungen, die übrigens beständig neu bestimmt werden, manchmal nicht ohne Kontroversen, auf jeden Fall über kräftige Ausschläge auf den Bildermärkten und in literarischen Diskursen. Für das mehr oder weniger demokratische Bürgertum in der Nachkriegszeit war es notwendig, sich von allem zu distanzieren, was nach der Blut-und-Boden-Ästhetik der Nazis roch. Das brünstige Heroisieren und Arisieren der landwirtschaftlichen Tätigkeiten etwa musste deutlich vergemütlicht werden. Im Allgemeinen aber wird die Grenze zwischen Heimatmythos und Bürgerverlangen entlang eines glücklicherweise etwas aus der Mode gekommenen Begriffs gezogen: Kitsch. Mit dem Kitsch-Bann wird der ideologische Zwiespalt zu einem geschmacklichen Urteil verklärt. Das Bürgertum, das sich den Mythos Heimat gefallen lässt, muss sich zugleich vor einem regressiven und retromanen Sog schützen, und das in „Heimat“ gesuchte „Authentische“ darf nicht zur Gefahr für das gleichzeitig erstrebte „Fortschrittliche“ werden (genauer gesagt: zur Gefahr für wirtschaftlichen Aufstieg und technische Innovation).
Die im Heimatmythos aufgelösten Widersprüche werden gerade an solchen Debatten um ästhetische und ideologische Auswüchse deutlich. Auf den ursprünglichen Widerspruch zwischen Natur und Zivilisation folgen der Widerspruch zwischen Stadt und Provinz, der Widerspruch zwischen Freiheit und Sicherheit, der Widerspruch zwischen Dynamik und Verlässlichkeit, der Widerspruch zwischen Individuum und Gemeinschaft, der Widerspruch zwischen Wissen und Glauben und vieles mehr. Was man sieht: So ein Mythos wie der von der Heimat muss eine Menge Unauflösbares auflösen. Kein Wunder, dass er zu gewissen Zeiten zu einer geradezu manischen Produktion von Fantasiewaren anregt und gleich auch wieder zu heftigen Kontroversen anregen muss.
In aller Regel wird Heimat in drei Formen bewahrt: als Reenactment von Sitten und Gebräuchen (als Abfolge von Opfern und Festen), als Definition eines sozialen Raums und schließlich als Sammlung von Objekten, Bildern und Zeichen. Dafür ist unter anderem ein Heimatmuseum zuständig, das Heimat zugleich bewahren und historisieren muss. Wenn es also im Heimatmuseum (und im Heimatmuseum im Kopf) darum geht, aus disparaten Elementen einen kompakten „bewohnbaren Mythos“ zu erschaffen, dann geht es in dieser Ausstellung um das Gegenteil, nämlich um die Auffächerung der disparaten Elemente.
Man greift also tiefer als die zwei Konzepte der Heimatpflege: Da wäre das liberale Konzept, das mit dem Begriff Heimat eine dynamische und flexible Erscheinung verbindet, die durchaus auch kreativ oder frivol gefüllt werden kann, mit kubanisch-bayerischer Crossover-Musik (gut!) oder Leberkäs Hawaii (komisch!). Das zweite, das konservative Konzept, richtet sich auf ein vermeintlich echtes und authentisches, zum Beispiel in der Sprache, auf ein unverwechselbares und schließlich gar Identität stiftendes Kommunizieren. In der Praxis sind die beiden Konzepte übrigens nie so scharf zu unterscheiden wie im Modell.
Und ebendas gilt auch für die drei Heimaten, die um einen sind (mit oder ohne den mythischen Begriff davon), jene Heimat, die man hat, weil sie einem in die Kindheit schien (und da mag zum Heimatlichen auch eine Fernsehserie oder eine Spielzeugserie gehören), jene, in die man hineinkonstruiert wird und die man um sich herum konstruiert (eben die kollektive Arbeit am Mythos, die man durch Ausstellungen, Umfragen und kritische Texte „dekonstruieren“ kann), und schließlich jene, die man ersehnt (und die man häufig in der fernsten Ferne erspürt). Das also entspricht ziemlich genau den Grundfragen jeder Selbsterkenntnis oder auch, wie man es nimmt, Selbsterfindung oder Selbstverleugnung: Woher komme ich? Aus der Heimat. Wer bin ich? Die Person, die Heimat erzeugt oder verliert oder von Heimat erzeugt wird oder an ihr verloren geht. Wohin gehe ich? Vorwärts und zurück in die verlorene Heimat. Der Mythos ordnet diese Elemente kreisförmig an, immer wieder frühes Glück, Vertreibung und Rückkehr/Versöhnung. Eine Stufe tiefer in der Seelenarchitektur ist Heimat der Ort der Wiedervereinigung mit dem Mutterkörper. Heimat ist der Teil der Welt, der diese symbiotische Beziehung noch enthält. Irgendwie. Draußen ist Kälte und Einsamkeit.
Freilich: In dieser Tiefe von Mythos und Psyche liegt auch die Grenze der Dekonstruktion. Was man ausstellen, das heißt auch infrage stellen kann, was man aus einer sozialen Echokammer an Äußerungen erhalten kann, um es zu einer vielfältigen kollektiven Erzählung zu montieren, und was an aufklärerischer Arbeit sonst zu leisten ist, das hat nach Ideologie und Ästhetik noch eine weitere Grenze der Belastung. Am Ende ist Heimat (oder was in anderen Sprachen zu ähnlichen Wurzeln führt) immer auch ein Teil der Person. Wenn man von Heimat spricht, ist mit Verletzungen zu rechnen.
Heimaten, Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz, Hamburg, www.mkg-Hamburg, Ausstellung bis 9. Januar 2022.