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«Friedrich Dürrenmatt: Das bildnerische und literarische Werk erstmals im Dialog»

Von Ingrid Isermann

 

«Wege und Umwege mit Friedrich Dürrenmatt» erscheint aus Anlass seines 100. Geburtstags. Die Edition setzt erstmals Dürrenmatts Werk in einen spannenden Dialog über seine Kunst und Literatur. Eine veritable Gebrauchsanweisung für das Nachdenken über unsere Welt.

 

«Es gibt Dinge, die kann ich nur zeichnen, und es gibt gewisse Dinge, die kann ich nur schreiben. Aber man zeichnet und schreibt aus dem gleichen Hintergrund. Und der Hintergrund ist das Denken, ist das Denken über die Welt». Die Wege und Umwege, mit denen Friedrich Dürrenmatt über die Welt nachdenkt, ist auch die Frage, wo sich das
Dürrenmattsche «Ich» verorten lässt. 

Wie erlebte dieses «Ich» die Welt und wie nahm sich Dürrenmatt mit seinem immensen dramaturgischen Potential selbst in dieser Welt wahr? Schreiben und Malen waren für Friedrich Dürrenmatt nicht nur komplementäre Tätigkeiten, denn sie gingen hervor aus einer umfassenden und mehrdimensionalen Reflexion über die Welt. Die Aspekte, die den Sozialisierungsprozess des jungen Dürrenmatt begründeten, war die Schweiz, mit der er sich sowohl in der deutschen wie auch der französischsprachigen Schweiz verwurzelte und sein Universalismus, der in seinem Werk von zwei zentralen Wegen geleitet wurde: Freiheit und Gerechtigkeit.

In ihrer Einleitung erörtert Madeleine Betschart (Übersetzung Denise Hofer) «Wenn Dürrenmatt seiner Welt Welten entgegenstellt», wie Dürrenmatt über die Welt nachdenkt.

 

Zwischen Malerei und Literatur

Als angehender Student schrieb Friedrich Dürrenmatt 1941 an seinen Vater: »Es handelt sich nicht darum zu entscheiden, ob ich ein ausübender Künstler werde oder nicht, denn da wird nicht entschieden, sondern das wird man aus Notwendigkeit. […] Das Problem liegt ja bei mir ganz anders. Soll ich malen oder schreiben. Es drängt mich zu beidem.«

Hin- und hergerissen zwischen Malerei und Literatur entschied sich Dürrenmatt für den Beruf des Schriftstellers, doch hat er während seines ganzen Lebens immer gezeichnet und gemalt. Abgesehen von einigen Karikaturen und Buchillustrationen blieb sein Bildwerk jedoch lange unbekannt. Auch, weil er Zeit seines Lebens keine Bilder verkaufte und praktisch nie ausstellte. Dennoch betrachtet er Literatur und bildende Kunst als gleichberechtigte Teile seines Schaffens. Denn die Bilder, so sagte er selbst, waren für ihn die Experimentierfelder seines Schreibens.
Friedrich Dürrenmatt wurde in Konolfingen im Kanton Bern geboren, in einem bürgerlichen und patriarchalem Mileu, geprägt vom Protestantismus. Dürrenmatt sagte diese Welt von klein auf nicht zu und er widersetzte sich seinem Vater und dessen Glauben. Die dörfliche Umgebung stellte für ihn den labyrinthischen Charakter dar und den Eindruck von Einschränkung, Eingrenzung, Ausgrenzung und Anderssein. «Die Welt, in die ich hineingeboren wurde, war mein Labyrinth, der Ausdruck einer rätselhaften mythischen Welt, die ich nicht verstand, die Unschuldige schuldig spricht und deren Recht unbekannt ist».

 

Die Welten von Freiheit und Gerechtigkeit
Die beiden Ideale Freiheit und Gerechtigkeit ziehen sich durch das gesamte Werk Dürrenmatts. Sein Universalismus erlaubte es ihm, sich für andere Welten zu öffnen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um physische Welten. Dürrenmatt ist zwar in Europa und in andere Teile der Welt gereist, um akademischen Einladungen nachzukommen,  Inszenierungen oder Uraufführungen seiner Stücke zu besuchen oder um Auszeichnungen zu erhalten.
Von seinem Rückzugsort in Neuenburg aus wurde er zu einem Schweizer mit Weltgeltung, der es verstand, zur ganzen Welt zu sprechen. Seine Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit wirkten dabei wie ein Sprungbrett, das Dürrenmatt in die weite Welt katapultierte.

Als der Osten unter dem Joch der Sowjetunion ächzte, die 1968 die Tschechoslowakei besetzte und den Prager Frühling beendete, organisierte Dürrenmatt eine grosse Demonstrationsveranstaltung an der Universität Basel. Er nutzte die Gelegenheit, festzuhalten, dass die in der Schweiz vorherrschende Demokratie «in vielem ebenso mythologische Züge (trägt) wie der Sowjetkommunisms». Als die Schweiz 1990 Vaclav Havel, den neuen Präsidenten der Tschechoslowakei empfing, um ihm den Gottlieb-Duttweiler-Preis zu überreichen, zog Dürrenmatt in seiner Rede erneut eine Parallele zwischen den beiden Welten mit ihren jeweiligen Eigenheiten: auf der einen Seite der Osten, der sich aus dem sowjetischen Würgegriff befreit hatte, und auf der anderen Seite der Westen, der nach Dürrenmatts Lesart gleich der Schweiz ein «Gefängnis» war. Nichts hätte mehr Aufsehen erregen können als dieser Ausspruch, der nach seinem plötzlichen Tod 1990 vielfach zitiert blieb während seine Theaterstücke wie «Der Besuch der alten Dame» oder «Die Physiker» sich auch heute steten Zulaufs erfreuen.

 

 

Dürrenmatts Welt leuchtet in allen Facetten

Peter Bühler erläutert in seinem Essay (Übersetzung Laurent Auberson) «Gottes- und Götterbilder. Das Undarstellbare darstellen?», dass sich in Dürrenmatts vielfältigen zeichnerischen und malerischen Motiven Bezüge zur jüdisch-christlichen Tradition wie auch zur griechischen Mythologie finden, in einer komplexen Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, die ihn sein Leben lang beschäftigt hat.  

 

Über «Mammuts – Päpste – Dinosaurier. Evolutionsgeschichtliche Kontexte eines Motivkomplexes» referiert Rudolf Käser (Übersetzung Laurent Auberson) und untersucht Dürrenmatts Jugendliteratur, die sein späteres «Schaffen mehr prägte, als wir ahnen», wie er einmal selbst betonte.

 

«Das grosse Festmahl. Festessen, Abendmahl und Spitzenweine» bildet die Thematik von Duc-Hanh Luong (Übersetzung Denise Hofer). Das Essen und Trinken ist allgegenwärtig in Friedrich Dürrenmatts Werk, in seinen Kriminalromanen, Theaterstücken und autobiografischen Erzählungen wie auch in seinen von Mythologie oder Religion inspirierten Darstellungen, Karikaturen und Porträts.

 

«Labyrinth und Turmbau. Orientierung durch Gleichnisse» von Simon Stammers (Übersetzung Laurent Auberson). Die Gleichnisse Labyrinth und Turmbau sind Versuche von Friedrich Dürrenmatt, die Welt und sich selbst zu bestimmen und dabei unweigerlich mit einer persönlichen Begegnung mit der Welt verknüpft.

 

«Apokalyptische Kunst. Der Versuch, nicht eine, sondern die Katastrophe zu schildern» von Régine Bonnefoit (Übersetzung Laurent Auberson). Das Thema der Apokalypse, des Weltuntergangs und der Katastrophe ist in Friedrich Dürrenmatts literarischem und bildnerischem Werk allgegenwärtig.

 

«Rebellenfiguren. Spielarten des Einzelnen» von Julia Röthinger (Übersetzung Laurent Auberson). Denkt man an Dürrenmatt, denkt man an so schillernde Figuren wie Claire Zachanassian, ehemals Kläri Wäscher, die mit 62 Jahren und einem Körper voller Prothesen in ihren Heimatort Güllen zurückkehrt, rothaarig und mit goldenen Armreifen beschmückt, «aufgedonnert, unmöglich, aber gerade darum wieder eine Dame von Welt, mit einer seltsamen Grazie, trotz allem Grotesken».

 

In seiner Neujahrskarte von 1990 von Friedrich Dürrenmatt und Charlotte Kerr an alle seine Freunde schreibt Dürrenmatt: «Es schubsen sich die Jahre hinauf und hinunter / Wir lassen uns schubsen und bleiben munter». Zu sehen ist ein Berg wie ein Halbmond mit den Jahreszahlen 1988, 1989, 1990 1991, 1992.

 

Es ist das Verdienst dieser umfangreichen Edition, dass Dürrenmatt in all seinen Farben leuchtet und sein Weltverständnis in allen Facetten gespiegelt wird. Eine veritable Gebrauchsanweisung für das Nachdenken über die Welt.

 

 

 
Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 als Pfarrerssohn in Konolfingen im Emmental geboren und starb 1990 in Neuchâtel, wo er 38 Jahre gelebt hatte. Internationale Berühmtheit erlangte er vor allem mit seinen Dramen «Der Besuch der alten Dame» (1956) und «Die Physiker» (1962) und durch die vielfach verfilmten Kriminalromane «Der Richter und sein Henker» (1952) oder «Das Versprechen» (1958). Weniger bekannt sind sein umfangreiches essayistisches und autobiografisches Spätwerk sowie seine Bilder, die er parallel zur Schriftstellerei zeichnete und malte. Der vielfach mit Preisen geehrte Autor war zweimal verheiratet, aus erster Ehe stammen drei Kinder.

 

 

Die Edition erscheint in bilingualer Ausgabe (Deutsch und Französisch) nach und nach in drei Bänden, herausgegeben von Madeleine Betschart und Pierre Bühler in Zusammenarbeit mit Philipp Keel.
Mit Beiträgen von Madeleine Betschart, Pierre Bühler, Rudolf Käser, Duc-Han Luong, Simon Stammers, Régine Bonnefoit, Julia Röthinger.
In Kooperation mit Diogenes – Centre Dürrenmatt Neuchâtel

 

Hrsg. Madeleine Betschart und Pierre Bühler
Wege und Umwege mit
Friedrich Dürrenmatt
Das bildnerische und literarische Werk im Dialog
Steidl Verlag, Göttingen 2021
Halbleinen, 22×27 cm,344 S., 220 Abb.
Deutsch/Französisch
CHF 92. € 65.
ISBN 978-3-95829-777-7
 
 
«Karikaturen», Ausstellung 15.01.-15.05.22 Friedrich Dürrenmatt im Centre Dürrenmatt Neuchâtel, www.dn.ch
Vernissage Samstag, 15.01.2022, 17 Uhr.
Begrüssung Madeleine Betschart, Leiterin CDN. Ansprache von Damian Elsig, Direktor der Schweizerischen Nationalbibliothek und Régine Bonnefoit, Ausstellungskuratorin, Intermezzi mit Véroniqu Müller, Liedermacherin.
Führung Sonntag, 20.02.2022 um 13.30 Uhr, mit Madeleine Betschart und Régine Bonnefoit.
Dürrenmatts Büro – Der Schriftsteller und Maler ganz privat. Jeweils samstags von 11-13.30 und von 14-16.45 Uhr.
 

 

«Gemalte Tiere: Bildband mit spektakulären Meisterwerkenen und literarischen Reflexionen»

 

Der Bildband «Gemalte Tiere» präsentiert Meisterwerke aus fünf Jahrhunderten von Hieronymus Bosch und Albrecht Dürer bis zu Andy Warhol und Joseph Beuys. Kunst- und Kulturgeschichte verbindet sich mit der Geschichte der Natur, wie sie von den Menschen seit Anbeginn der Schöpfung mit den Tieren geteilt wird. Literarische Zitate und Reflexionen begleiten den fantastischen Kunstbildband.

Die Beziehung des Menschen zum Tier ist eine facettenreiche, emotionale und ambivalente. Tiernamen lassen das Paradoxon des Spiegelbildes sogleich aufscheinen, wenn beispielsweise Glück mit Schwein gehabt gleichgesetzt wird. Zu Silvester kommt das Schwein besonders zu Ehren als Glücksschwein oder im Alltag als Sparschwein. Dass mancher einen Vogel hat, ist vielfach bezeugt, wie auch der Spruch ‚überlass das Denken den Pferden, die haben einen grösseren Kopf‘, die vielleicht öfter als gedacht über die Menschen den Kopf schütteln.

Der am ZurichFilmFestival gezeigte irische Film «Lamb» handelt von einem Tier-Mensch-Wesen mit Schafkopf, eine gruselige Vorstellung. Francisco de Zurbaran malte das Schaf Gottes, Agnus Dei, um 1635. In der griechischen und römischen Antike wimmelt es von Mischwesen wie Kentauren, von Leda mit dem Schwan bis zum Gottvater Zeus.

 

Tiere dienen Menschen seit jeher in mannigfaltiger Weise nicht nur als treue Begleiter wie Pferde, Hunde oder Katzen, sondern auch als Nutztiere, wenngleich die vegetarische und vegane Lebensart zunehmend Zuspruch findet. Und sicherlich würden weniger Rinderherden in Südamerika die Regenwälder retten und weniger Methangas in der Atmosphäre bedeuten, was den CO2-Ausstoss reduzieren könnte. Mensch und Tier scheinen speziell in Zeiten des Klimawandels auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen.

 

Als malerisches Sujet waren Tiere schon immer beliebt, was der Schirmer/Mosel-Verlag mit seinem schönen Bildband «Gemalte Tiere» beweist. Die Porträits der Tiere versetzen in Erstaunen und Respekt stellt sich angesichts der vielfältigen Schönheit dieser andersartigen Wesen von selbst ein. Einem Schönheitsdiktat müssen sich Tiere nicht unterwerfen, sie sind von Natur aus attraktiv.

 

 

Einige Beispiele aus dem bemerkenswerten Bildband

Zu Tafel 1, Tintoretto. Die Erschaffung der Tiere
«Was werden wir malen, wenn es all die wilden Geschöpfe nicht mehr gibt, die mehr in dieser Welt zuhause sind als wir? Wird unsere Fantasie mit all denen sterben, die seit Jahrtausenden unsere Märchen und solche leidenschaftlichen Pinsel wie die Tintorettos inspirieren? Wie wird unsere Musik klingen, wenn es den Gesang von Vögeln nicht mehr gibt?»
Cornelia Funke

 

 

Tafel 49, Gilles Aillaud. Käfig mit Löwen
«Das Anderswo, in dem die Tiere wohnen und von wo wir sie auf keinen Fall verjagen können, ist das Paradies, das heisst, unsere ursprüngliche Heimat. Deshalb schliessen wir sie in einem Käfig ein … Und die Käfige, in die sie eingeschlossen sind, sind wir selbst … Deshalb hat der Käfig die Farbe des Himmels, deshalb können wir nicht dorthin gelangen, wo wir schon sind!».
Giorgio Agamben

 

 

Tafel 52, Karin Kneffel. Ein Tableau aus 12 Tierportraits
«Das Leben mit dem Menschen hat Wildtiere in Haustiere verwandelt. Bis jetzt bin ich beim Thema Evolution zwar davon ausgegangen, dass sich eine Spezies durch Umweltdruck verändert. Aber ich hätte nie gedacht, dass wir Menschen dieser Umweltdruck sein könnten».

Isabella Rossellini

 

 

61 Gemälde von Joseph Beuys, Hieronymus Bosch, Gustave Courbet, Albrecht Dürer, Lucian Freud, Paul Klee, Roy Lichtenstein, Franz Marc, Gerhard Richter, Peter Paul Rubens, Giovanni Segantini, Andy Warhol u.v.a. Texte von 51 Autorinnen und Autoren Cornelia Funke, Elke Heidenreich, Florian Illies, Michael Krüger, Cees Nooteboom, Ilma Rakusa, Edgar Reitz, Isabella Rossellini u.a.

 

 

Kirsten Claudia Vogt,
Lothar Schirmer (Hrsg).
Gemalte Tiere
61 Meisterwerke aus sieben Jahrhunderten
Verlag Schirmer/Mosel, München 2021
Grossformat 26,5 x 32 cm, geb. 160 S.,
61 Farbtafeln, 16 Abb.
CHF 71.90. € 49.80.
ISBN 978-3-8296-0921-0

 

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