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Kunsthalle Zürich: Wolfgang Tillmans «Neue Welt»

Von Ingrid Isermann

Zur Eröffnung des Löwenbräuareals zeigt die Kunsthalle Zürich die neuesten Arbeiten des deutschen Fotokünstlers Wolfgang Tillmans. Sein Werk, das Fotografien, Installationen, Videos und Künstlerbücher umfasst, wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Turner Prize. Schon 1995 präsentierte die Kunsthalle seine erste grosse Museumsausstellung. Tillmans,1968 in Remscheid geboren, lebt in Berlin und London.

 

Die erste Ausstellung in den neuen und renovierten Räumlichkeiten der Kunsthalle Zürich im Löwenbräukunst-Areal widmet sich dem Wiedersehen mit einem Künstler, der 1995 in der Kunsthalle Zürich seine erste institutionelle Ausstellung überhaupt präsentierte.

Seit dieser Zeit hat Wolfgang Tillmans mit seinen Fotografien und Videos die Möglichkeiten der Fotografie auf vielfältigste Weise ausgetestet und erweitert. Die Ausstellung «Neue Welt» zeigt Arbeiten aus der neuesten, auf vielen Reisen entstandenen, gleichnamigen Werkgruppe zum ersten Mal in einer umfassenden Schau zusammen mit abstrakten Arbeiten.

 

Die Welt zum Bild machen
«Was sind die Fragestellungen der Gegenwart», so Beatrix Ruf, das ist die Ausgangslage für die Ausstellung. «Neue Welt» sei auch etwas polemisch gemeint, zu überdenken, ob es denn einen Unterschied gibt zwischen der alten und der neuen Welt.

 

Wolfgang Tillmans erläutert, dass seine Projekte nicht von heute auf morgen entstehen, sondern sich langsam entwickeln, so hätte er sich gefragt, wo hört meine Welt auf? Was sich verändert hat in den letzten Jahrzehnten, ist vor allem die Technologie, auch die der Kameras. Beatrix Ruf ergänzt, dass der Kompositionsprozess bei einigen Bildern auch an die ‚Maschine‘ übergeben wird, obwohl Wolfang Tillmans seine Fotos nicht bearbeitet oder retouchiert: «Die Welt ist bereits absurd und surreal, es ist albern, sie noch zu verändern… was sollte ich da noch verbessern», meint Tillmans. In den Silber-Arbeiten finden jedoch chemische Prozesse statt, eine Art organische Chemie, die Materie auf dem Bild hinterlässt, sodass sich das Bild sozusagen selbst macht.

 

Und so leuchten die Farben, türkis-grün, blau, ein Ozean, in den man eintauchen möchte…  Wie in die Sternennacht, die so fern scheint und zugleich so nah… Alles scheint zum Anfassen nah, das ist eine Qualität seiner Bilder, die so authentisch scheinen, und plötzlich da sind, als gehörten sie wie selbstverständlich dazu, zu unserem Leben. Ganz so selbstverständlich wie Wolfgang Tillmans dasteht und seine Bilder erklärt, en passant, wie man zu Freunden spricht, so dass auch die Bilder zu Freunden werden. Und das ist etwas sehr Besonderes, wie Freundschaft überhaupt.

 

Visueller Diskurs über welthaltige Anliegen

Die Auseinandersetzung mit dem Bild, die Frage, wie Bedeutung auf einem Stück Papier entsteht und damit, wann ein Bild überhaupt zu einem Bild wird, steht für Wolfgang Tillmans im Zentrum seines Schaffens.

Seine Fotografien, alles Unikate, reichen von Porträts, Stillleben, Landschaften, Himmelsaufnahmen, über subkulturelle Szenerien und solche der Warenzirkulation, Räumlichkeiten des Wohnens und des Transits bis hin zu abstrakten, mediumreflexiven Bildern und eröffnen einen vielstimmigen visuellen Diskurs über Anliegen, welche die heutige Welt im Ganzen betreffen. Schaut man sich die Fotos an, ist es zugleich auch ein Hinweis auf Synchronitäten, die zu gleicher Zeit in der Welt stattfinden und von der er einen Bruchteil zeigen könne, so Tillmans.

 

Bereits mit seinen frühen Arbeiten hat Tillmans Anfang der 1990er Jahre die Möglichkeiten der Fotografie mit berühmt gewordenen Aufnahmen seiner Freunde und Einblicken in die Londoner und internationale Club- und Musikszene erweitert. Sein engagierter und persönlicher Blick auf das soziale wie politische Weltgeschehen ist gleichzeitig auch ein intimer, tiefgründiger Blick auf das menschliche Leben und die Schönheit des Alltäglichen. «An Kunst zu glauben, bedeutet, man muss etwas Positives sehen, aber das negiert nicht die Tragik, denn hinter jedem Bild steckt auch eine Geschichte», so Wolfgang Tillmans im persönlichen Gespräch in der Kunsthalle Zürich.

 

Grund- und Produktionsbedingungen des Mediums Fotografie

Seit Beginn seines künstlerischen Schaffens befasst sich Wolfgang Tillmans auch mit den Grund- und Produktionsbedingungen des Mediums Fotografie. Vor allem in den letzten zehn Jahren entstanden abstrakte Arbeiten, deren Herstellung nicht mehr an die Kamera gebunden war.

Sie zeigen Lichtspuren auf dem Fotopapier (vor allem in den Freischwimmer- und Blushes-Serien) oder sind chemische und mechanische Bearbeitungen des lichtempfindlichen Materials wie in den Bildern der Silver-Serie. Die seit 1998 entstehenden Silver-Arbeiten reflektieren die Reaktion des Fotopapiers auf Licht sowie mechanische und chemische Prozesse.

 

Der Name Silver rührt von Schmutzspuren und Flecken von Silbersalzen her, die auf dem Papier zurückbleiben, nachdem der Künstler das Papier in einer mit Wasser gefüllten, nur bis zu einem bestimmten Grad gereinigten Maschine entwickelt hat.

Die visuelle Erscheinung der Ablagerungen auf dem Fotopapier werden dabei durch einen durch die Fototechnik produzierten Zufallseffekt bestimmt, der den Entstehungsprozess und die Materialität von Fotografie offenlegt. Ebenfalls zu den abstrakten Arbeiten zählt die Lighter-Serie. In den durch Knickungen oder exakten Faltungen manipulierten Fotoprints wechseln sich makellose, glatte mit fehlerhaften Oberflächen ab, so dass das Fotopapier zu einem faszinierenden dreidimensionalen Objekt wird.

 

Mediale Bilderflut neu gesehen

Auf den Blick nach innen und die Möglichkeiten einer reinen Studiopraxis folgt nun erneut der Blick nach aussen. Zwanzig Jahre nachdem Wolfgang Tillmans angefangen hat, sich ein Bild von der Welt zu machen, fragt er sich, ob die Welt in einer Zeit der medialen Bilderflut „neu“ gesehen werden und sich ein Sinn des Ganzen ergeben kann. Das „Neue“ sucht Tillmans aber nicht nur im Hinblick auf die politischen und ökonomischen Veränderungen, sondern auch in Hinblick auf die digitale Weiterentwicklung der Fotografie, deren Auflösungspotential mittlerweile Details in einer Schärfe darzustellen vermag, die dem menschlichen Auge und dem menschlichen Sehen eigentlich nicht mehr entspricht. Da das Auge aber mittlerweile an HD-Standards gewöhnt ist, kommt die hohe Auflösung einer neuen gefühlten Wahrnehmung gleich.

 

 

Mit einer Digitalkamera ausgerüstet reiste Tillmans von London über Nottingham bis Tasmanien, über Äthiopien, Saudi-Arabien, Indien, China, Papua-Neuguinea, Australien, Argentinien bis nach Chile, wo er sich jeweils nur kurze Zeit aufhielt – gerade so lange, um sich intensiv auf die sichtbare Oberfläche der jeweiligen Situation einzulassen: „Die Oberfläche, auch die Oberflächlichkeit hat mich schon immer interessiert, weil wir die Wahrheit der Dinge im Grunde anhand der Oberfläche der Welt ablesen müssen“.

So sind es auch immer wieder Verkleidungen, Verschalungen oder Fassaden, die in seinen Fotografien neben Themenkomplexen aus Technologie oder Wissenschaft wie Pflanzen, Tiere, Materialablagerungen, Transportmittel, Flughäfen oder Einkaufszentren zu sehen sind.

 
In einer Tiefgarage in Hobart, Tasmanien, ist eine Serie von Fotografien von Autoscheinwerfern entstanden, deren Entwicklung Tillmans in den vergangenen Jahren aufgefallen ist. In den Scheinwerfern, in diesen komplexen, hochtechnisierten Lichtskulpturen sieht der Künstler ein Sinnbild globaler Technologiefantasien. Das Auto als Vehikel individuellen Besitztums des Er-fahrens.
Diesen Bildern vom weltweiten Voranschreiten von Wissenschaft, Technologie und Warenverkehr und ihren die verschiedensten Gesellschaften auf ähnliche Weise prägenden Einflüssen stellt der Künstler in der Kunsthalle Zürich seine jüngsten  Silver-Arbeiten gegenüber. So formuliert er eine visuelle Begegnung von Aussenaufnahmen des gegenwärtigen Weltgeschehens und den auf rein mechanisch-chemischen Prozessen beruhenden Werken.

 

Mit der neuen Werkgruppe Neue Welt führt Wolfgang Tillmans seine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Erfassung der Welt fort. Bilder sind für Wolfgang Tillmans eine Übersetzung der Welt, in denen eine Erfahrung umgesetzt wird, denn „ein gegenständliches Bild formiert die Wirklichkeit vor unseren Augen, nicht mehr und nicht weniger“.

 

Im Juli 2013 wandert die Ausstellung «Neue Welt», wiederum kuratiert von Beatrix Ruf, in einer Kollaboration zwischen der LUMA Foundation und den Les Rencontres d’Arles an das gleichnamige Fotofestival in Arles.
www.kunsthallezurich.ch
Ausstellung 1. September – 4. November 2012

 

Katalog
Zeitgleich zur Ausstellung erscheint im Taschen-Verlag die Publikation Wolfgang Tilllmans. Neue Welt mit zahlreichen Abbildungen und einem Gespräch zwischen dem Künstler und Beatrix Ruf. 216 Seiten, Texte in deutsch, englisch und
französisch.
ISBN 978-3-8365-3974-6, CHF 39.90, EUR 29.99

 

Öffentliche Führungen:
Sonntags, 14 Uhr: 9.9. (Niels Olsen) / 23.9. (Rahel Blättler) / 7.10. (Niels Olsen) / 21.10. (Niels Olsen)
Lunchführungen, 12.30 Uhr: 26.9. (Rahel Blättler) / 10.10. (Rahel Blättler)
Abendführungen, 18.30 Uhr: 13.9. (Rahel Blättler) / 4.10. (Niels Olsen) / 25.10. (Niels Olsen)

Neue Öffnungszeiten ab 1. September:
Di/Mi/Fr 11 – 18 Uhr, Do 11 – 20 Uhr, Sa/So 10 – 17 Uhr. Mo geschlossen.

 

 

Zur Wiedereröffnung im Löwenbräuareal zeigt die Kunsthalle Zürich als zweite Einzelausstellung die erste institutionelle Präsentation der britischen Künstlerin Helen Marten, geboren 1985 in Macclesfield, die in London lebt und arbeitet. Für „Almost the exact shape of Florida“ schuf Marten eine neue Gruppe von Arbeiten, die die mediale Breite ihres Schaffens von Skulpturen über Wand- und Bodenarbeiten in eine umfassende Installation verweben. (Bis 4. November 2012)

 

 

Ausstellungs-Tipps:

 


 
09.09. – 03.02.2013 Kunstmusem Basel
Arte Povera.
Der grosse Aufbruch.


In den 60er Jahren formiert sich in Italien mit den heute berühmten Künstlern Giovanni Anselmo, Alighiero Boetti, Pier Paolo Calzolari, Luciano Fabro, Jannis Kounellis, Mario Merz, Giulio Paolini, Pino Pascali, Giuseppe Penone, Michelangelo Pistoletto, Emilio Prini und Gilberto Zorio eine neue künstlerische Bewegung. Charakteristisch ist der Einsatz einfacher Mittel und ärmlicher Materialien wie Erde, Glas, Äste, Wachs, der im kritischen Gegensatz steht zur immer technologischer werdenden Umwelt.

 
In stilistischer Anarchie streben Bilder, Objekte, Rauminstallationen und Performances danach, zu natürlichen Prozessen und Gesetzmässigkeiten zurückzufinden. Aber auch das kulturelle Erbe der Antike wird in diesen visualisierten Wahrnehmungsprozessen auf sinnliche und poetische Weise thematisiert. Die Sammlung Goetz ist eine der umfassendsten Sammlungen dieser innovativen Kunstbewegung.
Die Sonderausstellung im Kunstmuseum Basel ermöglicht mit rund 100 Werken, die grosse Aktualität der Arte Povera auch für die jüngere Künstlergeneration zu veranschaulichen. Zahlreiche Schlüsselwerke von 1959 bis in die frühen 90er Jahre sind versammelt, die Ingvild Goetz über viele Jahre gesammelt hat und die seit langem nicht mehr öffentlich zu sehen waren. Ausserdem zeigen Fotografien und Dokumente die weitverzweigte Dimension dieses künstlerischen Aufbruchs.
Kurator: Bernhard Mendes Bürgi

www.kunstmuseumbasel.ch
 
 

 

06.07. – 28.10.2012 Landesmuseum Zürich
«Postmodernism. Style and Subversion 1970–1990»

 

Jede Stilbezeichnung hat einen Anfang und ein Ende; die Ausstellung gibt für „Postmodernis. Style und Subversion“ den Zeitraum 1970-1990 an. Allen Stilrichtungen jedoch geht, bevor sie auf einen Begriff gebracht werden, eine Inkubationszeit voraus. Und wenn diese Strömung zur Epochenbezeichnung mutiert, dann prägt sie den Zeitgeist. (Alois Martin Müller).

 

„Als Kurator einer Ausstellung über die Postmoderne habe ich mich in den letzten Jahren oft wie ein Kartograf gefühlt – wie jemand, der versucht, eine völlig reflektierende Landschaft zu kartieren, obwohl sich deren Oberfläche allen Versuchen widersetzt, ihre Konturen überprüfen zu lassen. Die Postmoderne bietet dem Betrachter ein irrwitziges, eigensinniges Schauspiel. Wie das Wort schon sagt, beruht sie auf Ungewissheit – der Ungewissheit einer Phase in der Geschichte, die (so heisst es) vorzeitig beendet wurde, ohne dass wir unbedingt wissen, wann dies geschah oder welche neue Phase begonnen hat.

 
Als wir in den 1990er-Jahren Kuratoren wurden, war die Postmoderne schon ihrer eigenen Logik des zynischen Eklektizismus zum Opfer gefallen. Ihre stilistischen und konzeptuellen Manöver, die einst so lebhaft gegensätzlich gewesen waren, schienen letztlich nur wie eine weitere Option in der Palette von Künstlern, Designern, Architekten, Werbern und Managern.
Und dennoch: Während die Postmoderne – verstanden als Stil, Bewegung oder Trend – sich 1990 sicherlich erschöpft hatte, bricht die grössere conditio der Postmoderne oder „postmodernity“, wie sie von Theoretikern wie David Harvey oder Fredric Jameson beschrieben wird, gerade erst an. Städte wie Lagos, Dubai und Singapur sind heute in gewisser Weise postmoderner als London, Mailand, Tokio oder New York es je gewesen sind: Sie sind schneller, medienüberfluteter, stärker ausgerichtet an der Logik der Ware. So gesehen sollte die Postmoderne als Vorgriff verstanden werden, als Frühwarnsystem für eine Reihe von Umgestaltungen, die uns noch bevorstehen“.
Glenn Adamson
www.nationalmuseum.ch

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