© Kunsthaus Zürich
«Trostloses Wunderkind»
Von Daniele Muscionico
«Eng! Eng! So eng.» Es sind ihre letzten Worte. Und Rudolf, ihr Bruder, versteht sie genau. Er weiss, was seine jüngere Schwester, was Anna Waser ihm sagen will, der Welt sagen will – der Welt, die für sie die Familie ist. Die Familie als Gefängnis, ein Kerker wie Zürich auch. Anna war dazu bestimmt, die Staffeleien von Paris und Florenz zu erobern. Und dann?
Mit einem Mal überkommt den Bruder die Ahnung, dass sie an ihr gefehlt hätten. Der Vater, die Mutter, die Geschwister, sie alle hätten gefehlt, dünkt es ihn jetzt – ohne dass er recht wüsste, wie und warum. Doch nun ist alles zu spät. Anna ist tot.
«So eng!» Sind es nicht dieselben Worte, die sie ihm sagte, als die Familie aus Rüti zurückkehren sollte in die Stadt? «Rudi, da kann ich nicht hinein, so grau alles, so eng!» Und Anneli hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen und geweint. Auf dem Land war seine Schwester glücklich gewesen, ein kleines Dorf, 200 Einwohner, viel Moor und Sumpf und Dotterblumen darin, die die Kinder zu Sträusschen banden für die kranke Mutter. Sechs Jahre lebt die Familie des sittenstrengen protestantischen Zürcher Amtsmannes Johann Rudolf Waser im Amtshaus von Rüti.
Ähnlich froh war das Kind an der Zürcher Münstergasse erst wieder, als sie fortdurfte von hier – und tun, was ihr das Liebste war: malen. Der Vater, angesehen und wohlhabend, fördert die Liebe der Tochter nach Kräften. Soll sie denn Malerin werden, er wird den Leuten das Maul schon stopfen! Die Mutter, ängstlich, kränklich, geschlagen mit einem dunklen Gemüt, verfolgt die Pläne mit Mahnen und Bangen. Doch schliesslich fügt sie sich in das Geschick, in Annas Wunsch und in die Tochterliebe des Vaters. Anna erhält eine breite humanistische Ausbildung, lernt Latein, Französisch, Italienisch, Mathematik – und, sie darf Unterricht nehmen beim Winterthurer Maler Johann Georg Sulzer. In seinem Atelier wird ein Porträt entstehen, das alles verändern sollte.
Werk einer Frühvollendeten.
Sie ist zwölf Jahre, als sie ihr Selbstbildnis «Anno 1691» malt. So steht es in Goldschrift unter dem Wappen. Ihr Gesicht ist viel zu ernst für ihr Alter. Ihr Kinderkörper in ein silberverschnürtes Mieder gesperrt. Die Marmorblässe ihrer Züge verschärft eine enganliegende schwarze Kappe. Doch: Alles ist unheimlich perfekt, jedes Detail virtuos – das Mieder, der Faltenrock, auf den die Palette in der Hand des Kindes einen dunklen Schatten wirft. Gibt es Vergleichbares in der Kunstgeschichte? «Anno 1691» ist das Werk einer Frühvollendeten, eines Wunderkindes.
Und Anna beweist nicht minder Talent, wenn sie – wie es die Mode ist – kopieren soll oder Miniaturen malen, kleine Porträts herstellten nach Bildnissen, die ihr Auftraggeber senden. Nach einem Jahr Wartezeit wird sie die Schülerin des international tätigen und bekannten Miniatur- und Historienmalers Joseph Werner in Bern. Sie ist der einzige weibliche Student, doch wenn auch! Allein der Umstand, dass sie der bedrückten Atmosphäre des Elternhauses entfliehen kann – die Verfassung der Mutter wirft ihre Schatten – , beflügelt ihren Pinsel. Vier Jahre lang dauert ihr Glück.
Die Mutter. Es geht ihr nicht gut, es geht ihr so schlecht, dass Anna, die einzige Tochter, die noch unverheiratet ist, ihr Studium frühzeitig abbrechen und nach Hause zurückkommen muss. Der Vater will es so. Hier, an der Münstergasse, soll sie nun nicht nur die Mutter pflegen, sondern sie mag auch Mutter sein für ihre beiden jüngeren Geschwister. Um den Vater zu unterstützen, nimmt sie Aufträge an als Kalligrafin und stellt ihre Dienste als Miniaturmalerin zur Verfügung. Zunächst erfolgen die Anfragen aus dem Bekanntenkreis, doch bald wird der Ruf der Waserin, sie ist jetzt achtzehn, auch im Ausland vernommen. Für Herrschaften aus allen Ländern soll sie malen: Selbst der Zar von Russland buhlt um die Gunst ihrer Kunst! Peter der Grosse sendet seine Bildnisse nach Zürich, um sie von Anna in eine Miniatur übertragen zu lassen. Und kaum ist dies ausgeführt, erreicht das Waser- Haus ein nächster ruhmreicher Auftrag. Königin Anna von England verlangt ein Porträt aus den Händen der so hinreissend begabten Zürcherin.
1699 darf sie eine Reise tun, Anna ist 21 Jahre alt. Graf Wilhelm Moritz zu Solms lädt sie ein als Hofmalerin auf Schloss Braunfels in Hessen. Und weil bereits ihr Bruder Rudolf dort amtet, als Hauslehrer er, lassen die Eltern sie gehen. Eine fruchtbare Zeit, eine grosse Zeit! Anna lernt eine Welt voller Lebenslust kennen und Unbekümmertheit. Arbeit nicht als gottgefällige Pflicht, sondern als Vergnügen, als Entfaltung jenseits von Vorgaben und Leistung. Anna blüht auf, als Künstlerin und als Mensch. Und wieder dauert das Glück viel zu kurz. Rudolf reist weiter als Feldprediger nach Holland – und Anna muss die Stellung aufgeben, man beordert sie heim nach Zürich. Die Tochterpflicht ruft, und Aufträge warten. Doch Anna, ist sie glücklich dabei? Wenn sie nur einmal Italien gesehen hätte, wie ihr Lehrer, Joseph Werner, wie die meisten Werner- Schüler auch. Was hätte sie an den kunstreichen Orten alles lernen können! Oder Paris, wozu durfte sie die Sprache studieren, wozu hatte sie ihre edle Freundin immer wieder eingeladen in die verheissungsvolle Stadt? Und auch die Miniatur war nie ihre Ambition. Ihr Vater hatte es so gewollt, die Miniatur als Einnahmequelle, und sie versteht ihn ja. Nicht, dass sie – Anna Waser, eine Frau, das war nicht zu vergessen – grosse Gemälde schaffen wollte, nein; aber es nur nicht immer mit dem nadelfeinen Pinsel und den zarten Färblein tun müssen! Den Rötel führen dürfen! Mit der freien luftigen Hand übers Papier fahren, anstatt unter der Lupe zu tüpfeln und zu stricheln. Einen breiten Pinsel halten können, mit freien Augen, freien Händen – und mit freien Gedanken! äumen gegen das Verdämmern.
Doch das Kleine wollte man von ihr, das Gefällige. Aber das Grosse, die grosse Idee, der grosse Schwung, der grosse Strich, worin sie ihre ganze Kraft hätte legen können – wer fragte danach?
In Zürich wird Anna still und stiller. Ähnelt sie mit kaum dreissig bereits der Mutter? Sie ist müde, findet keine Kraft mehr zu malen, an Zeit dafür fehlt es sowieso. Unglückliche Liebschaften, ihr Versprochener stirbt, ein Zweiter zaudert mit dem Heiratsversprechen, auch der Dritte lässt sie warten. Dann fällt Heiri, der Bruder, Sektierern in die Hände. Anna muss ihn freikaufen, seine Ehre retten und die ihres Vaters, sie setzt dafür ihre Aussteuer ein. Jetzt besitzt sie nichts mehr, was sie attraktiv machte für einen Verehrer.
Im Jahr, als sie dreissig wird, ein letztes Aufbäumen gegen das Verdämmern der Hoffnung, dereinst nur Malerin zu sein: Sie sendet ihre Autobiografie und Arbeitsproben für das Künstlerlexikon von Joachim von Sandrart ein. Dann, 1714, eine Erschütterung, ist sie zu gross? Ein Schreiben aus Frankreich trifft an der Münstergasse ein. Anna wird nach Paris eingeladen – gezeichnet: Jean-Antoine Watteau! So viel Glück, so spät, so erwartet. Anna will den Brief ihrem Bruder Rudolf zeigen. Sie eilt, sie hastet – sie stürzt. Auf einer Treppe, auf der sie nach oben stürmen will? Die Folgen sind tödlich. Doch alles Enge wird endlich weit.
© Erstveröffentlichung Weltwoche Nr. 48.10
Anna Waser (16. 10. 1678, Taufdatum, bis 20. 9. 1714, Zürich), Miniaturmalerin, Zeichnerin, Radiererin und Kalligrafin.
Die erste namentlich erwähnte Schweizer Malerin galt in ganz Europa als Wunderkind und erhielt Aufträge von Zar Peter dem Grossen und der englischen Königin. Waser wirkte von 1699 bis 1702 als Hofmalerin auf Schloss Braunfels in Hessen. Als einziges Werk erhalten ist ein Selbstbildnis der Zwölfjährigen vor ihrer Staffelei (Sammlung Kunsthaus Zürich). (dm)