FRONTPAGE

«Kunsthaus Zürich: Olafur Eliasson – Symbiose mit der Natur»

Von Ingrid Isermann

 

Der dänisch-isländische Lichtkünstler Olafur Eliasson entwickelte für das Kunsthaus eine neue Ausstellung und verwandelt den Museumsraum in eine Gesamtinstallation, die alle unsere Sinne anspricht. Olafur Eliasson plädiert für Symbiose mit der Natur statt Verdrängungskampf. Gespräch mit der Kuratorin Mirjam Varadinis. 17. Januar – 22. März 2020.

«Ich versuche zu vermeiden, Natur und Technik als Gegensatz zu verstehen – diese Einteilung hat sich überlebt. Meiner Ansicht nach bringt das Anthropozän auch die Notwendigkeit mit sich, die Dinge eher unter dem Netzwerkaspekt zu betrachten. Menschliche und nicht-menschliche Aktivitäten sind eins. Mir ist klar geworden, dass die Vergangenheit uns nicht dabei helfen wird, uns in unserem «Jetzt» zurechtzufinden. Wir müssen von der Zukunft her denken». Olafur Eliasson (*1967) gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Künstlern. Für das Kunsthaus Zürich entwickelte er exklusiv eine neue Installation, die eine Ausstellungsfläche von rund 1000 m2 einnimmt. Dabei geht es um das Verhältnis von uns Menschen zu den anderen Lebewesen und Spezies auf der Erde. Eliasson plädiert für Symbiose statt Verdrängungskampf und verwandelt den Museumsraum in eine immersive Gesamtinstallation, die alle unsere Sinne anspricht. Es gelingt ihm, diese wichtigen Fragen und sozialen Belange in eine Formensprache umzusetzen, die die Menschen nicht nur rational anspricht, sondern sie auch emotional berührt und körperlich bewegt.

 

Olafur Eliasson im Dialog mit Kuratorin Mirjam Varadinis, Kunsthaus Zürich

 

Mirjam Varadinis: Du hast einmal gesagt: «Ich will etwas bewirken.» Das hat mich sehr beeindruckt, da es zeigt, wie wichtig es dir ist, Dinge zu bewegen – in der Realität ebenso wie in den Köpfen der Betrachter. Aber was willst du bewirken? Und wie kann Kunst etwas bewegen?

Olafur Eliasson: Ich fand schon immer, dass Kunst eine eigene Wirksamkeit, eine eigene Hand- lungskompetenz hat. Und auch die Besucher sind bei ihrer Begegnung mit dem Kunstwerk aktiv. Beide sind an einem Ort, in einer Welt situiert – Werk und Betrachter wirken und handeln als Teil grösserer Zusammenhänge. Dann stellt sich die Frage, was bei dieser Begegnung zwischen Werk, Besucher und Welt passiert. Bewegt das Kunstwerk den Betrachter? Versetzen die Betrachter das Kunstwerk in ihre jeweilige Gegenwart – in den Moment und die Welt, wo die Begegnung stattfindet? Ich glaube, alle drei können in Bewegung setzen, aber auch in Bewegung gesetzt werden.
Betrachten wir die Frage nach der Wirkung etwas umfassender, dann befindet sich die Kunst natürlich stets im Austausch mit der Epoche, in der sie entsteht; zwar galten Kunst und Künstler manchmal als Aussenseiter, aber ich habe das Gefühl, dass sich diese Wahrnehmung im vergangenen Jahrzehnt verändert hat. Tatsächlich werde ich sogar – in meiner Eigenschaft als Künstler – zu Diskussionen mit Meinungsbildnern, Politikern, Geschäftsleuten, NGOs und Aktivisten über Lösungsansätze für lokale und globale Herausforderungen eingeladen. Ich glaube, dass meine Kunst robust genug ist, einer möglichen Instrumentalisierung zu widerstehen und sich nicht von den InteressenandererTeilnehmerandiesenDebattenvereinnahmenzulassen.
Einer der Gründe, warum Kunst und Kultur heute ernster genommen werden, liegt wahrscheinlich darin, dass viele Menschen über alternative Zukunftsperspektiven nachdenken. Wir machen diese Perspektiven zu einer körperlichen Erfahrung. Ich glaube, Kunst ist in der Lage, einige der Themen zu formulieren und körperlich erfahrbar zu machen, die zum Beispiel die Vereinten Nationen «nur» in Form von Daten und Diagrammen vermitteln können.

 

 

MV Klimawandel und Migration sind zwei der drängendsten Fragen unserer Zeit. Beide Themen spielen in deinen Werken der letzten Jahre eine bedeutende Rolle. Du betrachtest sie nicht allein unter einem analytischen Gesichtspunkt, sondern erschaffst immersive Installationen, die alle Sinne ansprechen. Welche Rolle spielt der emotionale Aspekt bei der Wahrnehmung?

OE Immersion ist für mich die körperlich-erfahrbare Sprache der Kunst. Wenn es darum geht, die Menschen in Sachen Klimawandel zum Handeln zu bewegen, reicht es nicht, ihnen einfach die relevanten Daten zum Klimawandel zu präsentieren. Es kommt darauf an, mit welcher Sprache dies geschieht; aber auch unsere jeweilige kulturelle Prägung zählt; und auch die Emotionen sind von Bedeutung, wie du schon sagtest. Doch wenn sie überhand- nehmen, wenn es zu einem «Overload» von Ängsten kommt, verfällt man in Apathie. Eine Freundin von mir, die Verhaltensforscherin Elke Weber, hat die Psychologie der Entscheidungsfindung untersucht; sie spricht von einer «begrenzten Kapazität für Ängste» und meint damit, dass wir nur eine bestimmte Menge an beunruhigenden Themen verarbeiten können. Also müssen wir sie sorgfältig auswählen (einigen Themen lässt sich natürlich nicht ausweichen – sie wählen uns, nicht wir sie).
Ich glaube fest an die Bedeutung von physischen, körperlichen Erfahrungen. Wer erlebt, wie in Ice Watch (2014) das Eis schmilzt, bekommt einen ganz anderen Einblick in das Geschehen als jemand, der nur etwas über die Gletscherschmelze gelesen hat. Die Beteiligung unserer Sinne ist entscheidend.
Natürlich versteht sich von selbst, dass wir langfristige Entscheidungen treffen müssen und uns nicht auf kurzfristige Massnahmen beschränken dürfen, die lediglich die Wiederwahl von Politikern sichern. Um dazu in der Lage zu sein, ist, wie ich denke, Hoffnung unverzichtbar. Nur so können wir lernen, mit dem Klimawandel zu leben. Hoffnung schützt uns vor Verzweiflung und Traumatisierung. Wer keine Hoffnung für die Zukunft hat, wird sich kaum aktiv für etwas einsetzen. Indem sie auf die Sinne wirkt, wirkt Kunst der Apathie entgegen.

 

 

MV Wir leben im sogenannten Anthropozän1, einem Erdzeitalter, das durch den Einfluss des Menschen definiert ist – einem Einfluss, der zu dem heute erfahrbaren dramatischen Klimawandel führte. Dieses Bewusstsein für die schädlichen Auswirkungen des Menschen auf die Natur und unseren Planeten stellt traditionelle Wissenssysteme und Hierarchien unter den Spezies infrage. Neue Konzepte des Zusammenlebens auf der Erde sind nötig – zwischen menschlichen und nicht- menschlichen Akteuren. Die Ausstellung Symbiotic seeing im Kunsthaus Zürich thematisiert diese Fragen. Wie gelingt es dir, solche Überlegungen künstlerisch umzusetzen?

OE Wenn es darum geht, den Gedankenraum einer Ausstellung zu gestalten, lasse ich mich beispielsweise von der Philosophie inspirieren; ich lese viel und vertraue auf die Anregungen meines Studioteams und enger Freunde. Tatsächlich hatte sich das Entwicklungsteam in meinem Studio schon vor meiner Arbeit an der Zürcher Ausstellung eingehend mit Mikroorganismen und Planktonformen auseinandergesetzt, weil wir in diesem Forschungszweig Potenzial für neue Kunstwerke vermuteten. Sobald ich etwas gefunden habe, das mich packt, bringe ich es sofort mit meiner Erfahrungswelt in Verbindung. Ich versuche, jeden der neu auftauchenden optischen und räumlichen Bereiche zu registrieren.
Intellektuell hat mich Merleau-Ponty geprägt, die Phänomenologie hat mich stark fasziniert. Früher beschäftigte ich mich eingehend mit Fragen der Subjektivität und des Selbst, aber in den letzten Jahren habe ich erkannt, dass solche Themenstellungen einer vorwiegend westlich geprägten Perspektive entspringen. Jetzt interessiere ich mich mehr für Systeme. Dadurch hat ein durchlässiges Konzept des Selbst für mich zunehmend an Bedeutung gewonnen. Angesichts des Klimanotstands liegt es auf der Hand, dass ein ausschliesslicher Fokus auf den Menschen nicht hilfreich ist, wenn es darum geht, eine umfassendere Empathie für den Planeten und andere Lebewesen zu entwickeln – und genau das brauchen wir für wirklich ambitionierte Klimamassnahmen.

 

 

MV Eine interessante Persönlichkeit, die unser Verständnis der Koexistenz auf diesem Planeten revolutioniert hat, ist die amerikanische Biologin und Evolutionstheoretikerin Lynn Margulis (1938–2011). In ihrem 1998 erschienenen Buch Der symbiotische Planet stellt sie eine Alternative zu Darwin vor: Symbiose sei für die Entstehung des Lebens ebenso wichtig gewesen wie der Konkurrenzkampf. In deinen neuen Werken, die für die Ausstellung im Kunsthaus Zürich ent- standen sind, spielt dieser Gedanke eine wichtige Rolle. Wie bist du auf Lynn Margulis gestossen, und was an ihrer Arbeit hat dich inspiriert?

OE Ich bin Margulis’ Werken ein paar Mal begegnet, in erster Linie durch Caroline Jones, eine brillante Kunsthistorikerin und Denkerin, die ich schon sehr lange kenne. Obwohl Margulis auf dem Gebiet der Mikrobiologie und Evolution forschte, sprechen mich ihre Ideen an, weil auch ich mich seit vielen Jahren mit Formen des Zusammenlebens, mit Zusammengehörigkeit und Kooperation statt Konkurrenz beschäftige. Sie war eine einzigartige Wissenschaftlerin, eine wahre Revolutionärin. Ihre Beharrlichkeit und Radikalität finde ich sehr faszinierend. Ihre Theorien über Symbiose haben für unsere Vorstellungen über das Subjekt und das Selbst enorme Konsequenzen. Denken wir nur daran, wie sehr uns das sogenannte Mikrobiom beeinflusst – Bakterien, Pilze, Archaeen und Viren machen Schätzungen zufolge über die Hälfte unserer Körpermasse aus. Das bedeutet, wir sind in ebenso hohem Masse nicht-menschlicher wie menschlicher Natur.

 

MV Der Diskurs über «Multispecies» und «Interspecies», das heisst aus und zwischen mehreren Arten bestehende biologische Systeme, hat in jüngster Zeit sehr viel Aufmerksamkeit erregt. In diesem Band haben wir eine Reihe von Texten und Auszügen zusammengestellt, die von einigen der bedeutendsten Denkerinnen und Denker auf diesem Gebiet stammen und die auch für deine künstlerische Praxis der letzten Jahre wichtig gewesen sind. Welche Schlussfolgerungen für zwischenmenschliche Beziehungen lassen sich deiner Meinung nach aus diesen Theorien ableiten, und wie könnten sie in unsere Gesetzgebung einfliessen?

OE Wie die Ökofeministin und Posthumanistin Donna Haraway und der Philosoph Timothy Morton fordern viele eine Multispezies-Umweltgerechtigkeit, die die Interessen nicht-menschlicher Wesen berücksichtigt. Das schliesst auf den Menschen gerichtete Lösungsansätze zur Klimagerechtigkeit natürlich nicht aus, weil man das Problem von vielen Seiten angehen muss. Mary Robinson, die ehemalige Staatspräsidentin Irlands, spricht sich in ihrem Buch Climate Justice für aktiven Klimaschutz aus, indem sie anschaulich schildert, wie Menschen mit den Folgen des Klimawandels zurechtkommen – es handelt sich übrigens oft um Frauen, die dabei grosse Resilienz an den Tag legen. Ich halte dies für eine wirkungsvolle Strategie, denn sie appelliert an die Empathie unseren Mitmenschen gegenüber; wir können uns mit ihnen identifizieren, und diese Identifikation ist ein erster Impuls zum Handeln.

Die Idee von Multispezies-Gerechtigkeit ist faszinierend, aber sie verlangt uns auch einiges ab: Wir müssen unsere Identität als Mensch neu überdenken und uns als Teil eines riesigen Zusammenhangs begreifen – ohne Hierarchien, ohne menschliche Vorherrschaft. Haraway spricht von einem neuen Verständnis der Begriffe «Wir» und «Selbst». Es stellt zweifellos eine grosse Herausforderung dar, sich den Multispezies-Ansatz zu eigen zu machen, für Solidarität mit, wie Tim schreibt, «nicht-menschlichen Tieren» einzutreten, aber ich glaube, es ist gut und sinnvoll, unsere Vorstellungen von Identität und Handlungskompetenz zu erweitern. Dies muss dann aber auch ganz konkrete Auswirkungen darauf haben, wie wir leben. Auch die juristischen Schritte hin zu mehr Rechten für die Natur, die zur Zeit unternommen werden, stimmen mich hoffnungsvoll. Bisher haben zwanzig Staaten Gesetze verabschiedet, die der Natur – oder Teilen der Natur – einen rechtlichen Status einräumen, der es erlaubt, dass Menschen in ihrem Namen vor Gericht gehen. Dem Whanganui River in Neuseeland wurden beispielsweise die gleichen Rechte eingeräumt wie einem Menschen.

 

 

MV Du meintest vorhin, dass Bücher, Philosophie und Impulse von Studiokollegen oder Freunden dich zu neuen Arbeiten anregen. Was dient dir sonst noch als Quelle der Inspiration?
OE Fast alles kann zur Inspiration werden. Kürzlich erfuhr ich von ClientEarth, einer in London ansässigen NGO, die von Anwälten betrieben wird und eine wahrhaft inspirierende Arbeit zum Wohle der Erde leistet. Sie verklagte beispielsweise die britische Regierung, weil diese die Luftqualitätsrichtlinie der EU nicht umgesetzt hatte. Aber auch so etwas Simples wie das Online-Video eines Luftwirbels, auf dem eine Pusteblume davonfliegt, kann inspirierend sein – ein wunderbarer Anblick. Ebenso die Literatur; sowohl Gedichte als auch Fachbücher wenden sich vermehrt dem Natur- und Klimaschutz zu. So schreibt, um nur zwei Beispiele zu nennen, die dänische Dichterin Liv Sejrbo Lidegaard wirklich bewegend über die Natur, urbane Räume und darüber, was das «Wir» alles bedeuten kann, während Jonathan Safran Foers aktuelles Buch mit dem programmatischen Titel We Are the Weather: Saving the Planet Begins at Breakfast aufwartet. Und natürlich ist eine gute altmodische Wanderung in Island immer inspirierend. Dabei kann ich die Farben der arktischen Flechten studieren.

 

 

MV Symbiotic seeing (2020), die neue Hauptinstallation der Ausstellung im Kunsthaus Zürich bezieht sich auf Margulis’ Symbiose-Theorie, rekurriert aber auch auf die Vorstellung des sogenannten «Urschleims», also jener uranfänglichen Substanz am Grund der Meere, mit und aus der sich das Leben zu entwickeln begann. Was in deinem Werk jedoch organisch aussieht, wird in Wirklichkeit von Hightech-Geräten produziert. Die Verschmelzung von Natur und Technik oder, anders ausgedrückt, unerklärlichem Wunder und wissenschaftlichem Experiment ist in deiner Arbeit sehr präsent. Was interessiert dich an dieser Kombination?

OE Mich interessiert vor allem die 360°-Perspektive, das Denken in Systemen – beispielsweise, was das Verhältnis zwischen Darmbakterien, Gesundheit und Umwelt betrifft. Das ist mir wichtiger als die Ursuppe, obwohl sich unser Team bei der Vorbereitung der Ausstellung durchaus mit ihr beschäftigt hat.

In Symbiotic seeing projiziere ich Laserstrahlen auf einen ölbasierten Nebelschleier. Die Kombination von Laser und Nebel macht die Mikroturbulenzen in der Luft sichtbar; diese kleinen Wirbel und Strömungen entstehen beispielsweise durch die Körperwärme eines direkt unter dem Nebel stehenden Besuchers. Auf diese Weise im Kunstwerk unterschiedliche Materialien, Klänge, Wärme und Körper zusammenzuführen, heisst für mich zugleich, die strukturellen Gegebenheiten dieses gemeinschaftlich geteilten Raums offenzulegen.
Ich versuche zu vermeiden, Natur und Technik als Gegensatz zu verstehen – diese Einteilung hat sich überlebt. Meiner Ansicht nach bringt das Anthropozän auch die Notwendigkeit mit sich, die Dinge eher unter dem Netzwerkaspekt zu betrachten. Menschliche und nicht-menschliche Aktivitäten sind eins. Mir ist klar geworden, dass die Vergangenheit uns nicht dabei helfen wird, uns in unserem «Jetzt» zurechtzufinden. Wir müssen von der Zukunft her denken.

 

 

MV Wie lassen sich die in deiner Arbeit angesprochenen Umweltaspekte mit deinem Lebensstil als global agierender Künstler und mit der geballten Ladung an Technik vereinbaren, die du für die Herstellung der Werke benötigst?

OE Wie viele andere Menschen will ich meinen ökologischen Fussabdruck verkleinern. Mit meinem Studioteam arbeite ich an Lösungen, unsere Wertvorstellungen in unserer Praxis umzusetzen. Ich halte es für wichtig, dass Künstler und Kulturschaffende in dieser Hinsicht mit gutem Beispiel vorangehen, auch wenn ihr Fussabdruck relativ klein und weniger bedeutsam ist als der, den andere Sektoren, beispielsweise die Lebensmittelindustrie oder das Transportwesen, hinterlassen. Doch der Kulturbetrieb wird an hohen Massstäben gemessen.

 

 

MV Die Besucher spielen bei deinen Arbeiten eine aktive Rolle. Sie tragen durch ihre Anwesenheit im Raum und ihre Art des Erlebens zur Entstehung des Werks bei. Du bezeichnest deine Kunst häufig als inklusiv. Was genau meinst du damit?

OE Ob jemand mit kunsthistorischem Vorwissen die Ausstellung besucht oder jemand, der nichts über meine Arbeit weiss – beide sollen sich gleichermassen angesprochen fühlen. Ich denke also wirklich viel über Inklusion nach, und ich musste auch die Erfahrung machen, dass manche meiner Werke diesem Anspruch nicht genügen. In meiner Ausstellung In real life gab es beispielsweise die Arbeit Your spiral view aus dem Jahr 2002; sie besteht aus einem langen kaleidoskopartigen Tunnel, den man über zwei Stufen betritt. Die fehlende Barrierefreiheit führte zu hitzigen Diskussionen in den sozialen Medien, was übrigens belegt, wie wichtig diese als Plattform für ernsthafte Anliegen sind. In der «guten alten Zeit» hätte der Besucher einfach nur ein höfliches Entschuldigungsschreiben vom Museum erhalten. Aber die öffentliche Diskussion zeigte Wirkung und brachte mich dazu, darüber nachzudenken, wie das Werk zukünftig auf inklusive Weise ausgestellt werden könnte. In diesem Fall waren die sozialen Medien das Instrument für Empowerment und öffentliche Beteiligung.

Inklusion ist nicht nur ein Prinzip, dem ein Kunstwerk oder eine Ausstellung folgt – auch die Umgebung muss darauf abgestimmt sein. Ein Museum kann sich seinem Publikum gegenüber mehr oder weniger inklusiv verhalten. Meiner Meinung nach soll Inklusion den Menschen nicht lediglich das Gefühl vermitteln, beteiligt zu sein – es geht darum, tatsächlich als Ko-Autor, als Ko-Gestalter erwünscht zu sein.
Und um diesen Gedanken global zu erweitern: Inklusives Denken erfordert die Ausdehnung unserer Wahrnehmung auf andere Spezies, Pflanzen, Wettersysteme, Meeresströmungen, Gletscher und so weiter. Dafür müssen wir die Machtstrukturen abbauen, die unsere privilegierte Position als menschliche Wesen stützen.

 

 

 

MV Die Idee des «Sich-bewusst-Seins» bildet den Kernpunkt vieler deiner Arbeiten. Dabei gilt es, sich eines bestimmten Phänomens, sei es natürlichen, sozialen oder politischen Ursprungs, bewusst zu werden. Aber auch sich seiner selbst und seiner Beziehung zu anderen bewusst zu sein, ist entscheidend.
Es handelt sich, mit deinen Worten, darum, «eine Gruppe und ein Individuum zu sein». In Zeiten der Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit und digitaler Vereinsamung bieten deine Werke Raum zur unmittelbaren physischen Begegnung. Zu Beginn deiner künstlerischen Laufbahn gab es weder das Internet noch soziale Medien. Wie hat die Digitalisierung deine Arbeit beeinflusst?

OE Die Landschaft hat sich auf jeden Fall verändert. Mein Studioteam und ich arbeiten aktiv mit sozialen Medien, weil sie uns ermöglichen, mit Leuten in Verbindung zu treten, die vielleicht nicht in der Lage sind, eine Ausstellung zu ich mit meiner künstlerischen Arbeit begann. Aber ich bin ohne Smartphone aufgewachsen, und daher fällt es mir schwer, mich vorbehaltlos dafür zu begeistern, wenn Menschen in der Interaktion mit meiner Kunst das Handy quasi als «Verlängerung» ihres eigenen Körpers benutzen. Es kommt mir vor, als seien sie weniger präsent, fühlten weniger durch ihren Körper, wenn sie Kunst mit einem Telefon in der Hand betrachten. Sicher bin ich mir jedoch nicht. In dieser Welt herrschen andere Erwartungen und Voraussetzungen, wenn es darum geht, Erfahrungen zu machen, und dafür möchte ich weiterhin offen bleiben. Aber ich habe da ohnehin kaum eine Wahl, glaube ich. Sich gegen die Allgegenwart digitaler Medien zu stemmen, ist wie der Versuch, Wasser aufwärts fliessen zu lassen.

Meiner Meinung nach wächst das Bewusstsein für das Potenzial von Langsamkeit und kontemplativen Erlebnissen. Kunst und Kultur erschliessen auf vielerlei Weise solche Orte der Langsamkeit, sofern man bereit ist, sich bei der Begegnung mit dem Kunstwerk vom eigenen Bedürfnis nach ständiger digitaler Präsenz zu lösen. Aber vielleicht erkennt man das auch erst beim dritten Besuch einer Ausstellung, wenn man Fotos, Videos und Online- Sharing hinter sich gebracht hat.

 

 

MV Für dich beruht eine Gemeinschaft auf Unterschieden, und du versuchst, mit deinen Werken ganz verschiedene Leute anzusprechen. Die Politik tendiert weltweit eher in die andere Richtung: Das «Unterschiedliche» und «Andere» wird immer stärker ausgegrenzt. Ist diese Entwicklung ein Ansporn für dich, mit deiner Kunst noch stärker politisch Stellung zu beziehen?
OE Ganz sicher spielen Ausgrenzungsmechanismen dabei eine Rolle, der spalterische Diskurs von rechts ist unglaublich deprimierend. In sozialen Medien kann der Ton ziemlich heftig und aggressiv werden. Wir erlebten das auch 2018 mit Ice Watch in London. Einige Leute hinterfragten berechtigterweise den CO2-Fussabdruck für den Transport der Gletschereisblöcke von Nuuk nach London, aber niemand hörte uns zu oder befasste sich überhaupt mit unserer Erklärung. So sehr mir dies auch zu schaffen macht – ich will immer noch verstehen, warum Menschen sich auf diese Art äussern. Sie müssen wohl das Gefühl haben, dass man ihnen sonst nicht zuhört. Mich interessieren Deeskalationsstrategien, und ich überlege mir, wie man Räume schafft, wo Menschen Gehör finden.

© Courtesy Kunsthaus Zürich

 

An zwei Veranstaltungstagen, am 23. Januar und 6. Februar 2020  können die Besucher die Sammlung im Dunkeln erleben, nur ausgerüstet mit den Solarleuchten Little Sun, die Eliasson für ein Projekt entwickelt hatte, das Licht an Orte ohne Elektrizität bringt. 

 

 

Kunsthaus Zürich
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8001 Zürich
Di, Fr–So 10–18 Uhr
Mi, Do 10–20 Uhr
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www.kunsthaus.ch

 

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