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«Herzog & de Meuron setzten Massstäbe in der Architektur»

Von Ingrid Isermann

Sie haben die Schweizer Architektur weltweit bekannt gemacht und Massstäbe gesetzt: Das epochale Gesamtwerk der Schweizer Pritzker-Preisträger Herzog & de Meuron umfasst heute rund 570 Bauten und Projekte in über 35 Ländern. Zwei umfangreiche einleitende Essays von Stanislaus von Moos und Arthur Rüegg beleuchten die Entwurfsmethode der Architekten.

25 realisierte Bauten aus allen Schaffensperioden werden in dieser vom Verlag Steidl, Göttingen, grossformatigen Publikation «Fünfundzwanzig x Herzog & de Meuron» in sorgfältig orchestrierten Bildstrecken mit herausragenden Fotografien von Balthasar Burkhard, Hannah Villiger, Margherita Spiluttini, Iwan Baan, Thomas Ruff, Wolfgang Tillmans präsentiert.

 
Die persönliche Auswahl der beiden Autoren, zu der das Ricola Lagerhaus in Laufen, Tate Modern in London, Elbphilharmonie Hamburg und die Parking Structure 1111 Lincoln Road in Miami gehören, deckt alle zentralen Aspekte des Gesamtwerks dieser bedeutenden Architekten ab. Die 25 Fallstudien werden durch technische Daten, Pläne und Literaturhinweise ergänzt.
 
Die Londoner Tate Modern gehört zu den Kultbauten der Gegenwart. Herzog & de Meuron verwandelten den unterirdischen Tank des Museums mit über 10 000 Pflanzen in einen «botanischen Wandteppich», wo Gucci mit Kreativchef Sabato de Sarno seine Cruise-Modeschau in brutalistischem Dschungelgrün zeigte.

 

Essays über Entwurfsmethoden und Sicht der Architekten

Zwei umfangreiche einleitende Essays beleuchten die Entwurfsmethode der Architekten. Bei Stanislaus von Moos stehen Konzeptionen von Wahrnehmung in Malerei, Skulptur und Fotografie im Vordergrund sowie deren Auswirkung auf das architektonische Denken von Herzog & de Meuron.
 
Arthur Rüegg untersucht die ambivalente Sicht der Architekten auf die gebaute Welt und zeigt, wie sich diese im Umgang mit den unterschiedlichsten Ausgangslagen von Fall zu Fall neu herausbildet.
 
Zwei Bereiche nehmen unter den in diesem Buch erstmals veröffentlichten Materialien eine besondere Stellung ein: die fotografischen Arbeiten von Pierre de Meuron und die Postkartensammlung von Jacques Herzog.
 
Diese bisher unerschlossenen visuellen Archive stehen in einem direkten Zusammenhang mit der architektonischen Produktion der beiden Architekten und werden in separaten Bildteilen zusammengestellt.

 

Die Kunst der Verflüchtigung

Mit dem Fotografen Thomas Ruff verbindet Jacques Herzog und Pierre de Meuron seit Jahrzehnten eine fast konspirativ zu nennende Form der Zusammenarbeit, schreibt Stanislaus von Moos. An den Wänden ihres Büros in Basel hängen teils wandgrosse Exemplare der Aufnahmen von Ruff nach Bauten der Architekten, die die Bauten häufig in unscharfen Umrissen, wie durch einen Regenvorhang hindurch zeigen. Bald ist es ein feines Nieseln, das über die Landschaft niederzugehen scheint, bald glaubt man selbst mitten in einem tropischen Unwetter zu stehen, wie in Anbetracht des Ricola-Marketinggebäudes in Laufen bei Basel. Auf Bildern der Elbphilharmonie in Hamburg löst sich der Gegenstand in einen Raster farbiger Lichtpixel auf, wie Farbpulver im Reagenzglas oder irgendeine Landschaft im Fernseher bei einer Panne im Stromnetz.
 
Es ist erstaunlich, welche Rolle der Blick in die Ferne und damit zusammenhängend, Nebel, Wolken oder Dämmerlicht in der populären Vorstellung von Romantik spielen, und wie oft einem solche Begriffe begegnen, wenn von Herzog & de Meuron die Rede ist. Architektkollege Rem Koolhaas meint, die Bauten verrieten «wenn man sie als Objekte betrachtet, (…) ein beharrliches Interesse an Auflösung, Abenteuer, Unbestimmtheit».  Fotografien, die Landschaften und Bauten im Zustand der optischen Verflüchtigung wiedergeben: «Das Unbestimmte ist der Weg zum Unendlichen. (…) dieses Tal, diese Mole, wenn man sie in allen Konturen erfasst und in ihrer Zweckmässigkeit beurteilt, werden, halb vom Nebel verschleiert, auf einmal interessant, weil man sich ihrer weniger sicher ist, und merkwürdig, weil sie einem weniger geläufig sind». 

 

Jacques Herzog spricht davon, worauf es in der Architektur ankommt: « … das ist es, was mich an der Architektur am meisten interessiert: diese unglaubliche Präsenz von etwas und natürlich ist das im Bereich der Architektur so extrem, wie in keinem anderen (…). Barthes nennt es das «punctum», dieses Irgendwas-Drin … dieses In-der-Welt-Stehen oder dieses Inhaltslose letztlich».

 

Ein wunderbares Kompendium des reichhaltigen Werks von Herzog & de Meuron über Architektur, Philosophie und Kunst. 

 

Stanislaus von Moos ist Kunsthistoriker und Verfasser von Monografien, u.a. über Le Corbusier, zur Geschichte des Industriedesigns in der Schweiz u.a. Von Moos ist Gründer der Architekturzeitschrift archithese und war von 1983 bis 2005 Professor für moderne und zeitgenössische Kunst an der Universität Zürich.

 

Arthur Rüegg ist ein seit 1971 selbständiger Architekt in Zürich (bis 1998 mit Ueli Marbach), Kurator von Ausstellungen, u.a. 100 Jahre Schweizer Design (2014), Corbusier und die Farbe (2021), Verfasser und Herausgeber zahlreicher Monografien. Von 1991 bis 2007 war er Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich. 

 

 

Stanislaus von Moos
Arthur Rüegg
Fünfundzwanzig x Herzog & de Meuron
Steidl, Göttingen 2024
Hardcover, Leineneinband, 496 S., 870 Abb.
Format 26.5 x 24.5 cm, CHF 95
ISBN 978-3-96999-127-5

 

 

 

 

«Balanced Structures by Schnetzer Puskas»

 

Das renommierte Bauingenieurbüro Schnetzer Puskas mit Sitz in Basel, Zürich, Bern und Berlin feierte 2023 sein 70-jähriges Bestehen. Ein guter Zeitpunkt für einen Rückblick auf das bisherige Schaffen, eine Werkschau auf zukünftige Projekte und für aktuelle Themen des Ingenieurwesens.

 

Das Buch beginnt mit der Geschichte der Bauingenieurskunst und stellt prominente Bauten und Projekte von Schnetzer Puskas aus den letzten Jahren vor, wie beispielsweise die Elbphilharmonie Hamburg von Herzog & de Meuron (Bauzeit 2006-2016)  oder die Monte Rosa Hütte in Zermatt von Bearth & Deplazes Architekten (Bauzeit 2008-2009).
 
In einem zeitgenössischen Diskurs wird das Verhältnis Bauingenieur versus Architekt und Bauherrschaft untersucht mit Texten von u.a. Sarah Springman, Emanuel Christ, Philippe Block, Andreas Ruby, Jacques Herzog und Roger Boltshauser.

Das ansprechende, schön gestaltete Buch, herausgegeben von Dino Simonett und Tivadar Puskas, wird mit einer Portraitarbeit des Kölner Fotografen Albrecht Fuchs sowie mit einem Werkverzeichnis ergänzt.

 

Aus der Zusammenarbeit mit Herzog & de Meuron, Bjarke Ingels, Toyo Ito und weiteren berühmten Architekten hat sich über die Jahre ein beachtliches Portfolio ergeben: Vom Baumeister zum modernen Tragwerksplaner zu den Schnetzer Puskas Ingenieuren im Porträt und den herausragenden Bauten der letzten zehn Jahre mit Ausblick auf die wichtigsten Projekte der kommenden zehn Jahre.
 
Tivadar Puskas: «Balanced Structures als Titel ist bewusst gewählt und hat mehrere Bedeutungen. Es spiegelt unser grundlegendes Bedürfnis, Tragwerke ins Gleichgewicht zu bringen – sowohl in Bezug auf ihr stabiles, indifferentes und labiles Gleichgewicht aus der Lehre der Statik, ihrer Form und ihrer Funktion als auch in Bezug auf sensibilisierte Einbettung in den städtischen oder landwirtschaftlichen Kontext. Ausgewogene Proportionen sind ebenfalls von entscheidender Bedeutung, um die Schönheit, Zeichenhaftigkeit, Faszination und im Idealfall auch Baukunst eines Bauwerkes zu gewährleisten».

 

Vom Baumeister zum modernen Tragwerksplaner
Die Geschichte des Ingenieurwesens ist eng mit der Zivilisationsgeschichte verbunden. In der Antike vereinte der Baumeister die Kenntnisse in Architektur, Ingenieurwesen und Materialkunde. Er verkörperte die drei Schlüsselprinipien der Architektur, einem Ansatz, der im Mittelalter abhanden gekommen war, jedoch in der Renaissance bis zur industriellen Revolution für die Entwicklung des Bauwesens wieder eine führende Rolle spielte. Neue Berechnungsmethoden und die Verwendung neuer Materialien erforderten eine Aufteilung der Bauberufe und führten somit zur Entstehung des Ingenieurwesens.
 

Sarah Springman, ehemalige ETH-Rektorin, studierte Ingenieurwissenschaften an der University of Cambridge, promovierte in Bodenmechanik und schildert ihre Leidenschaft für das Bauingenieurwesen und wie man Bauingenieurin wird: «Ich wollte schon immer bauen. Es fing an mit Ausgrabungen im Alter von etwa drei Jahren, dem Bau von Holzkonstruktionen im Alter von acht Jahren und meinem Interesse für Dämme. (…) 1997 begann ich meine Karriere in der Schweiz, ich wurde die erste Professorin für Bauingenieurwesen (Geotechnik) und war damit erst die neunte Professorin in über 140 Jahren an der ETH Zürich, konnte mein eigenes Labor aufbauen und mein Team in Zürich vergrössern. (..) Wir investierten viel Zeit und Energie in die Entwicklung eines computergestützten Online-Lernsystems und die dazugehörigen Laborexperimente, Animationen, praktischen Aufgaben und Tests für den ersten Kurs in Bodenmechanik. (…) Ich fand es faszinierend, wie die Studierenden lernen und sich weiterentwickeln konnten, indem sie die Verantwortung für die Durchführung und Analyse der von ihnen gepanten Tests übernahmen».

 
Essays zu aktuellen Themen des Ingenieurwesens von Jeannette Kuo, Mike Schlaich, Pierre de Meuron, Emanuel Christ, Elli Mosayebi, Klaus Littmann, Philippe Block, Andreas Ruby, Andrea Frangi, Reiner Müller, Sarah Springman, Roger Boltshauser und Heinrich Schnetzer.

Texte von Schnetzer Puskas Ingenieure von Tivadar Puskas, Kevin Rahner, Stefan Bänziger, Jan Stebler, Salome Hug, Giotto Messi.

 

Ein wichtiges und aufschlussreiches Buch über das Baukunstwerk und die Ingenieurskunst.

 

 

Balanced Structures
by Schnetzer Puskas
Simonett & Baer, 2024
Hardcover, Leineneinband
224 S., Format 17,5 x 25 cm
Deutsche Ausgabe CHF 89.
Limitierte Edition 1.000 nummerierte Ex.
ISBN 978-3-906313-52-8

 

 

 

 

 

 

«Jaretti & Luzi: Monografie Wohnbauten in Turin 1954-1974»

 

Die Turiner Architekten Sergio Jaretti (1928-2017) und Elio Luzi (1927-2006) schufen zwischen 1954 und 1974 ein Werk mit italienischer Grandezza. Diese Monografie stellt zum ersten Mal das Gesamtwerk der zwei bisher kaum publizierten Architekten vor. Anhand von neu gezeichneten Grundrissen, Abbildungen von Originalplänen, einer neu aufgenommenen fotografischen Dokumentation und Texten werden zwölf grosse Wohnbauten und von Jaretti & Luzi entworfene Privathäuser umfassend dokumentiert.

 

In nur zwei Jahrzehnten realisierten die beiden Architekten Jaretti & Luzi abseits des Mainstreams der italienischen Architektur ihrer Zeit zahlreiche Wohngebäude, die mit ihren komplexen formalen Bezügen weit über den Zeitpunkt ihrer Entstehung hinausweisen und damals wie heute überraschen.

 

Es setzt dem Rationalismus der italienischen Moderne und dem Massenwohnungsbau der Nachkriegszeit eine organische Formensprache entgegen, die von heiterer Poesie gekennzeichnet ist.

 

Gab es jemals eine Zeit, in der Architektur und das Bauen von Städten so schwierig waren wie heute? fragt Adam Caruso im Vorwort «Die Unmöglichkeit der Moderne». Da wir die kapitalistische Endphase von Marx’ Vision durchleben, sind wir Zeuge einer unersättlichen Wirtschaft. Der zunehmende Konsum von Bauland, das immer stärker verdichtete Bauen, der beschleunigte Kreislauf von Errichtung und Abriss sind ein Belegt dafür, wie das Bauen ein effizientes und williges Instrument zur Erfüllung von Max’ Alptraum wurde.
Das 20. Jahrhundert erlebte spannungsreiche Zeiten. Am Anfang des Jahrhunderts wurden ausgehend von der ersten Welle der Industrialisierung unzählige bedürftige Arbeiter in die übersättigten Städte wie London, Manchester, Berlin und New York gespült und in Mietskasernen und Back-to-back-Reihenhäuschen untergebracht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es abermals notwendig, aus den Verwüstungen sowohl eine Gesellschaft als auch ihre Häuser aufzubauen. Am Anfang wie in der Mitte des Jahrhunderts wurde der Modernismus zum Retter erkoren.

 

Die soziale Antwort auf den Wohnraumbedarf der Arbeiter in den Städten gaben in den 20er Jahren das Neue Frankfurt und das Rote Wien. Angesichts der Notwendigkeit des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit übertrag Fernand Pouillons Schaffung von Wohnraum in Frankreich bei weitem den Output von Le Corbusier.

Die Gebäude von Jaretti & Luzi existieren weitgehend in ihrem ursprünglichen Zustand, mit vielen der ersten Bewohner und innerhalb eines kaum veränderten städtischen Umfelds. Daher ist der Genius der italienischen modernen Stadt immer noch etwas, was erlebt werden kann, und etwas, das womit auch immer wiederbelebt und weitergeführt werden könnte. 

 

 

Bernd Schmutz & Dominik Fiederling (Hg.)
Jaretti & Luzi
Wohnbauten in Turin 1954-1974
Park Books, 2024
Geb., 301 S., 19 x 29.5 cm. CHF 59.
ISBN 978-3-03860-159-3

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