FRONTPAGE

«Berliner Frühling – smart, sexy, spektakulär»

Von Rolf Breiner

 

Berlin – eine Reise wert? Zu jeder Jahreszeit…  in der deutschen Hauptstadt werden Trends gesetzt, neue Entdeckungen gemacht – von der Retrospektive der Künstlerin Dorothy Iannone bis zur Operetten-Renaissance mit Schweizer Beteiligung.

 

Holland und die Schweiz sind beides Veloländer. Doch dass sich auch Berlin fast nahtlos einreihen kann, ist eher überraschend. Ganze Velo-Pulks in verschiedenen Formationen radeln vom Reichstag via Unter den Linden zum Brandenburger Tor, zu Fahrradstationen vom Bahnhof Zoo bis Kreuzberg. Ende März wurde «Velo Berlin» gefeiert, eine Zweiradmesse mit 250 Ausstellern, wo unter anderem der «E-Bikes»-Blues angestimmt wurde. Dieser Trend auf zwei Rädern ist längst generationsübergreifend, will heissen, dass nicht nur Senioren elektronisch unterwegs sind, sondern die Zahl jüngerer Nutzer wächst ständig.

 

 

Auf Streifzügen in Berlin

Fürwahr, in Berlin kann man sich auch auf andere Weise abstrampeln. In Museen und Galerien, beispielsweise am Potsdamer Platz. Wenige hundert Meter davon entfernt, duckt sich die Neue Nationalgalerie, ein Werk von Mies van der Rohe, 1968 eröffnet. Das Museum für Kunst des 20. Jahrhunderts, natürlich mit Einbezug des 21. Jahrhunderts, ist in die Jahre gekommen. Der Bau muss dringend saniert werden. Das kann dauern mit oder ohne Erweiterung. Man spricht von Jahren und Sir David Chipperfield, der den Masterplan für die Museumsinsel entwarf und dem Neuen Museum in Berlin neuen Glanz verlieh, soll’s richten, wenn denn die Mittel gefunden und gesprochen werden.

 

Ende 2014 wird die Neue Nationalgalerie geschlossen, die bis dato den dritten Teil eines deutsch-deutschen Kunstrückblicks in globaler Einbettung präsentiert: aktuell «Ausweitung der Kampfzone» (1968-2000). Dieses vielschichtige und vielsichtige Panorama begann mit «Moderne Zeiten» (1900-1945) und setzte sich mit «Der geteilte Himmel» (1945-1968) fort. Ironie oder Finanzwirklichkeit? Den Katalog zur Ausstellungstrilogie, versicherte uns ein Insider, gäbe es erst Ende Jahr, also zur Finissage. Doch ein Besuch lohnt sich jetzt schon – «solang’s hätt’» – dabei kann man auch ein Bild von Franz Gertsch und ein Video (eine Frau prügelt cool und gezielt auf Autoscheiben ein) von Pipilotti Rist entdecken oder wiedersehen.

 

Ein Bummel «Unter den Linden» gehört zu einem Berlinbesuch wie die Bulette oder Currywurst, die in der Kultkneipe Ständige Vertretung (StäV), Nähe Bahnhof Friedrichstrasse und Berliner Ensemble (Brecht-Theater), übrigens Altkanzler-Filet heisst und auf Helmut Schmid zurückgeht. Auf der Höhe Friedrichstrasse etwa setzt sich die Deutsche Bank markant in Szene mit der eigenen Kunst-Halle. Sie präsentiert dort zurzeit als «Artist of the Year 1014» den rumänischen Maler Victor Man. Unter dem Titel «Zephir» werden dort meist kleinformatige vielschichtige Gemälde und eine skulpturale Glasfensterarbeit gezeigt. Seine Menschenbilder verschwinden nicht selten im Dunkeln, als würden sie sich auf sich selbst zurückziehen. Ein interessantes Sponsor-Engagement der Bank. Dass jedoch für die kleine Schau vier Euro Eintritt verlangt wird, scheint doch recht überzeichnet.

 

 

Magisch erotisch
Eine ganz andere Entdeckung kann man in der Berlinerischen Galerie, nicht weit vom Jüdischen Museum, machen. Die Künstlerin heisst Dorothy Iannone, 1933 in Boston geboren. Ihre Mutter Sarah Nicoletti Iannone ist Italienerin. Dorothy war sechs, sieben Jahre mit dem Schweizer Künstler Dieter Roth liiert. Man trennte sich 1974. Dorothy Iannone zog von Südfrankreich 1976 nach Berlin, wo sie heute noch wohnt. Die Malerin, Texterin, Grafikerin, Video- und Installationskünstlerin ist mittlerweile über 80 Jahre alt, vital und lebenssüchtig wie eh. Die Amerikanerin, stark in Europa verwurzelt, ist eine rigorose Sex-Vertreterin, eine Rebellin, die meist männlich gezogene Grenzen und Rahmen sprengt. Eine «Erotomanin, das böse Mädchen der Kunst. Denn auf ihren Bildern sind zu sehen: sexuell aktive Frauen, Geschlechtsakte in allerlei Variationen», schrieb der «Stern». Ihre zügellos freie Körpersprache, geschlechtsorientierte Dualität und sehr persönlich gefärbten und geprägten Bildergeschichten wirken heute wie Sirenenrufe, buddhistisch angelehnte Visionen und Liebeszeugnisse. Die intime Retrospektive «This Sweetness Outside of Time», visuell und akustisch quasi infiltriert durch frühe Videos, hat etwas verloren Magisches und Erotisches. Ihr oft dekorativ anmutender Geschlechterkampf, der in der Vereinigung und Verschmelzung münden sollte, wirkt bisweilen wie Jugendstil aus dem späten 20. Jahrhundert. Doch hinter der sinnlich-visionären Darstellung der Dorothy steckt eine Emanzipation der eigenen Art, weg von Alice Schwarzer, auch wenn dies nicht plakativ proklamiert und programmiert erscheint. Dorothy Iannone sieht den Lebenssinn in Liebe, versteht Liebe und Sex als Triebfeder und Erfüllung.

 

 

Passion im Dom

Ein paar hundert Meter weiter in unmittelbarer Nachbarschaft des Lustgartens und des Stadtschloss-Neubaus thront geradezu der Berliner Dom. Nebenbei, hätten Sie gewusst, dass es in Berlin drei Dome gibt? Den Deutschen, den Französischen und den neobarocken Berliner Dom, der in seiner heutigen Form erst 100 Jahre alt ist, den Hohenzollern als Hofkirche und Mausoleum diente. Besichtigung ist eine Sache, doch eine Aufführung in diesem Dom zu erleben, eine andere. Im Spätherbst/Winter erfährt «Jedermann» hier sein Schicksal. Jetzt in der vorösterlichen Zeit wird Bachs «Johannespassion» aufgeführt. Diese beeindruckende tänzerische Inszenierung Christoph Hagel (künstlerische und musikalische Leitung) und Martin Buczko (Choreographie) schärft die Sinne, auch wenn sich einem nicht alle tänzerischen Beigaben und Einlagen erschliessen. Ein Besuch des Doms und des modern gestalteten Werks mitgrossem Chor und Orchester (Berliner Symphoniker) ist es alleweil wert.

 

 

Schmissig, schmalzig, sensationell
Die Wilden Zwanziger (Roaring Twenties) – das war Berlin vor den braunen Nazihorden. Jetzt, könnte man meinen, feiert die bewegte Revuezeit Auferstehung. Zumindest gilt dies für die Operette, die in der Komischen Oper eine wahre Renaissance erlebt. Zu verdanken ist dies Intendant Barrie Kosky, der die alten Schmachtfetzen entstauben liess und frisches Blut einflösste. Jüngster Hit ist «Clivia», eine Operette von Nico Dostal, die 1933 in Berlin uraufgeführt wurde. Die Story ist banal und gleichwohl witzig. Ein US-Industrieller will in einem südamerikanischen Staat namens Boliguay die Regierung stürzen. Vordergründig möchte der Amerikaner Potterton einen Film drehen, kriegt aber erst eine Einreiseerlaubnis, als er seinen Star Clivia mit einem einheimischen Gaucho vermählt. Bei dieser Scheinehe schiesst Amor seine Pfeile ab und die sexy Blondine Clivia verliebt sich in den Gaucho Juan, der in Wahrheit der Revolutionsführer ist.
Das Publikum begeistert sich an dieser Show mit Orchester, einem strammen Amazonenballett, Schmalz, Schmerz und Spass. Eine grosse Showtreppe wie aus fernen Fernsehtagen mit Kuli oder Frankenfeld, knackigen Aufmärsche einer Amazonentruppe, angeführt von Yola, drall verkörpert von Andreja Schneider (Geschwister Pfister), viel Schmus und Schmiss, zündende Songs und viel Pose – diese Showkiste macht Spass und wird quasi von Schweizern getragen.

 

Stefan Kurt («Akte Grüninger») gibt den smarten Finanzier und Drahtzieher E. W. Potterton. Die Geschwister Pfister trumpfen dreifach auf – als Titelheldin Clivia Gray (Christoph Marti), als Juan mit Staatsabsichten (Tobias Bonn) und als Amazonen-Haudegen mit Herz Yola (Andreja Schneider). Das hat Schmiss und putzt jede TV-Samstagabend-Show weg. Die Vorstellungen sind ausverkauft, die Operette lebt, ist zuckersüss, hat aber auch Biss und Ironie. Wunderbar kitschig, schmalzig, amüsant und lustvoll.

 

 

Berlin-Tipps 
Neue Nationalgalerie am Kulturforum, ca. 1 km vom Potsdamer Platz entfernt. 1968 eröffnet, entworfen von Ludwig Mies van der Rohe. Spezialisiert auf Kunst des 19./20./21. Jahrhunderts. Aktuelle Ausstellung bis Ende 2014: «Ausweitung der Kampfzone» (dritter Teil der Sammlungsausstellung), Titel in Anlehnung an den gleichnamigen Roman Michel Houellebecqs, in dem die heutige liberalisierte Gesellschaft als Kampfzone in allen Bereichen aufgefasst wird.

 

 

Berlinerische Galerie, Museum für moderne und zeitgenössische, in Berlin entstandene Kunst von 1870 bis heute. Gut 1 km vom Jüdischen Museum entfernt. Aktuelle Ausstellung: «Dorothy Iannone – This Sweetness Outside of Time», Retrospektive der Gemälde, Objekte, Bücher und Filme von 1959 bis 2014, bis 2. Juni 2014 www.berlinerischegalerie.de

 

 

Kunst-Halle (Deutsche Bank), Unter den Linden 13/125: Victor Man – Zephir, Artist of the Year 2014, bis 22. Juni 2014 www.deutsche-bank-kunsthalle.de

 

 

Komische Oper: «Clivia», Operette in drei Akten (1933) von Nico Dostal – mit Stefan Kurt, Geschwister Pfister (Christoph Marti, Tobias Bonn, Andreja Schneider). Nächste Aufführungen: 20. und 26. April, 23. Juni und 7. Juli. www.komische-oper-berlin.de

 

 

Berliner Dom: Bachs «Johannespassion» – Inszenierung/Musikalische Leitung Christoph Hagel, Choreographie Martin Buczko. Mitwirkende: Benedikt Kristjansson (Tenor, Evangelist), Christian Oldenburg (Bariton, Jesus), Ulf-Dirk Mädler (Barition, Pilatus/Petrus), Katharina Heiligtag (Meszzosopran, Magd, Johannes), Sarah Behrendt (Sopran, Jünger/Maria), Tänzer, Berliner Symphoniker, Ernst Senf Chor). Aufführungen im Berliner Dom: 3. bis 6. April, 14. und 15. April. Gastspiele am 9. April in Biberach (Stadtpfarrkirche), am 19. April in Taufkirchen (Ritter Hilprand Hof) und am 20. April in Leipzig (Gewandhaus).
www.johannespassion-im-dom.de

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