FRONTPAGE

«Faszination Farbholzschnitte: Als der Niesen zum Fujiyama wurde»

Von Ingrid Schindler

 

Eine sehenswerte Ausstellung im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen vermittelt einen tiefen Einblick in die «Faszination Farbholzschnitt. Japan – Europa – Schweiz». Sie stellt die Werke der St. Galler Künstlerin Martha Cunz in den Mittelpunkt, die als Meisterin des japonisierenden Farbholzschnitts gilt und ihre Kunst in der Blüte des Jugendstils in der Hochburg der «Malerweiber» entwickelte, in München.

Die Renaissance des Farbholzschnitts um 1900 und die Holzschnitte der St. Galler Künstlerin Martha Cunz

 

München ist mit Paris und Wien Ende des 19. Jahrhunderts dank der Kunstpolitik des bayerischen Königshauses eine der führenden Kunstmetropolen Europas. Abgesehen von den vielen königlichen Aufträgen legen Stadt, Malerfürsten und Museen bedeutende Sammlungen an, bieten sich zahlreiche Ausstellungsmöglichkeiten und Plattformen für Künstler, florieren Kunsthandel, private Malschulen und Kunstzeitschriften, von denen viele in München verlegt werden. In Schwabing feiern Avantgarde und Bohème ihre legendären Feste und im Münchner Umland spriessen neue Künstlerkolonien vom Dachauer Moos über Polling und den Pfaffenwinkel, den Walchensee, Murnau und das Blaue Land (Blauer Reiter!) aus dem Boden. Die Ausstrahlung der Bayerischen Akademie der Bildenden Künste tut das Ihre, Künstler weit über die Landesgrenzen hinaus anzuziehen.

 

 

Nur: Frauen ist bis 1926 der Zugang zur Kunstakademie verwehrt, wie sie generell einen schwierigen Stand im männlich getriebenen Kunstbetrieb haben. Die Attraktivität der bayerischen Kunstszene und die sich in der Landeshauptstadt aufstellende Frauenbewegung führen im Münchner Aufbruchsklima zur Gründung von Künstlerinnenvereinigungen und Ausbildungsstätten wie der Münchner Damen-Akademie, die illustre Namen – Gabriele Münter, Marianne von Werefkin, Käthe Kollwitz, Franziska von Reventlow u.v.a. – anziehen. So auch die junge St. Gallerin Martha Cunz.

 

 

Ab nach München
Martha Cunz (1876-1961) wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen in St. Gallen auf. Sie interessiert sich früh fürs Zeichnen und Malen, kopiert im Kunstmuseum St. Gallen alte Meister und geht auf Vermittlung des Malers Emil Rittmeyer 1896 zu Adolf Hölzel in die Malschule und die Künstlerkolonnie Dachau. Dort lernt sie mit anderen «Malerweibern» im Dachauer Moos die besonderen, wechselnden, stimmungsvollen Lichtverhältnisse mit Pinsel und Bleistift umzusetzen. Anschliessend schreibt sie sich in der Künstlerinnenschule in München ein. Den entscheidenden Impuls für ihr bedeutendes Werk als Holzschneiderin bekommt sie 1901 in einem Litho-Kurs von Ernst Neumann, in dessen Folge ihre ersten Holzschnitte entstehen. Cunz findet früh zu ihrem eigenen Stil, wird Gründungsmitglied der deutschen Vereinigung Graphik und des grafischen Vereins Die Walze.
Vor allem dank Ernst Neumann könne München „heute als Vorort des modernen deutschen Holzschnitts betrachtet werden“ – zu diesem Schluss kommt 1905 die Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration in einem reich bebilderten Aufsatz über Holzschnittkünstlerinnen und -künstler und wählt als Frontispiz des Artikels Triftgletscher von Martha Cunz. Weitere ihrer Blätter, Graustock und Titlis, Blick auf den Säntis, Frühlingstag sind im Artikel abgebildet.
Zu dieser Zeit hat sich Martha Cunz in den bayerischen Künstlerkreisen bereits einen Namen gemacht, Kandinsky lässt sich zum Beispiel nachweislich durch ihren Blick auf den Säntis in einem eigenen Werk beeinflussen.
Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bleibt Cunz in München. Für Malaufenthalte reist sie nach Paris, Holland und Italien und kehrt in den Ferien regelmässig in die Schweiz zurück. Bis zu ihrem Tod 1961 lebt sie gemeinsam mit ihrer Schwester Clara in einem Haus mit Atelier in St. Gallen, Clara versorgt den Haushalt, Martha arbeitet weiter als Künstlerin. Bis 1927 fertigt sie insgesamt 71 Holzschnitte an, der letzte hat wie der erste die Stadt St. Gallen zum Thema, danach malt sie hauptsächlich. Sämtliche ihrer Holzschnitte wie auch die dazugehörigen Holzstöcke befinden sich im Besitz des HVM und sind in der Ausstellung zu sehen.

 

 

Immer wieder der Niesen
Cunz läuft im Holzschneiden früh zur Hochform auf und bleibt ihrem Stil bis zum letzten Holzschnitt treu. Insofern ist das Frühwerk von vorrangigem Interesse. „Martha Cunz beherrscht das Spiel zart abgestufter und doch klar gegeneinander abgesetzter Farbflächen, die sich vielfältig überschneiden und durchdringen“, so Daniel Studer, Lexikon der Schweizer Künstler. Sie bleibt bei den dekorativen Ausdrucksmöglichkeiten des Holzschnitts und steht damit dem Jugendstil damit näher als den experimentierfreudigen Expressionisten.
Von den Sujets her widmet sie sich klassischen Themen der Jugendstilgrafik und des japanischen Farbholzschnitts, wie Störchen, Flamingos und Schwänen, dem Wappentiertier des Jugendstils, Stadt- und Jahrmarktszenen, Menschen, und im besonderem Mass der Landschaft, den Bergen. Ihre 1907 entstandenen Philosophen, ein stoisch am Beckenrand im Regen stehendes Storchenpaar mit eingezogenen Hälsen, ist eines ihrer Lieblingsblätter. Wie in der fernöstlichen Kunst setzt sie keine Schatten, die Tiere verharren ruhig in sich gekehrt, Wasser und Boden heben sich kaum voneinander ab. Das Blatt, das an Eckmanns Nachtreiher – Drei Philosophen denken lässt, besitzt eine beinahe meditative Wirkung und Tiefe im linearen Rhythmus des Regens. Wie in einem guten Teil ihrer Werke verankern Umrandungen, Zäune, Gatter, Gitter, Wege, Masten, Bänke oder Bäume den Inhalt und geben dem Bildaufbau Struktur und dem Betrachter Halt. Konkret sind ihre Tiersujets Sujets am Parkweiher im St. Galler Stadtpark verortet.
Ihre Studienreisen schlagen sich mit Windmühlen, holländischen Kähnen, Nordseeküsten oder toskanischen Hügellandschaften ebenfalls in ihrem Werk nieder. Weitaus am prägendsten sind ihre Ferien und Malaufenthalte in den Schweizer Bergen; das Appenzellerland, die Zentralschweiz, das Berner Oberland, der Bodensee, das Bündnerland finden Eingang in ihr Werk. Insbesondere der Niesen, die perfekte Bergpyramide am Thunersee, dem durch die Jahrhunderte hinweg kaum ein Maler widerstehen kann, hat es Martha Cunz angetan. Fünfmal schneidet sie das Dreieck ins Holz: 1911 zähmt sie ihn mit Baum davor, Niesen mit Baum, mit Wasserfontäne, Blattwerk und Hag, Niesen mit Springbrunnen, oder nur mit Geländer am Ufer, Niesen, und entrückt ihn zugleich ins Flächige, Dekorative und Unerreichbare, Abgehobene eines Fujiyama, während der Betrachter an einem gesicherten Ort mit Geländer steht, wie häufig in ihren Blättern der Fall. Bei Niesen im Schnee (1912) und Niesen bei Abend (1917) verzichtet sie auf das schützende Band der Zivilisation. Dazu Cunz-Experte Daniel Studer: „Diesem Holzschnitt haftet etwas Sinnbildliches an. Martha Cunz verarbeitet darin alle ihre Erfahrungen, beschränkt sich auf Wesentliches, überhöht, ohne pathetisch zu werden. Niesen bei Abend ist die am stärksten an Ferdinand Hodler angelehnte Darstellung des mächtigen Berges. Sie stellt gleichsam eine Synopsis der „Niesen“-Holzschnitte von Martha Cunz dar. Man vergleiche dieses Blatt mit Hodlers 1910 gemaltem Thunersee mit Niesen. … Die ausgesprochene Frontalität des pyramidenförmigen Berges und die Bogenlinie am oberen Bildrand sind unmittelbare Entlehnungen und rufen nach dem Vergleich!“ (aus „“Faszination Farbholzschnitt“ S. 174). Wenn Vergleich, liegt der mit dem japanischen „Original“ auf der Hand und auch das löst die hervorragend kurierte Ausstellung im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen (HVM) auch ein. Die Werke grosser japanischer Holzschneider sind dort ebenso zu sehen wie etwa die die Technik erklärenden Blätter Maler – Holzschneider – Drucker (1902) des in Wiener wirkenden Künstlers Emil Orlik, der den Holzschnitt an den Wurzeln des Japonismus, in Japan, gelernt hat.

 

 

Japonismus
Die Faszination Japan der Europäer beginnt 1854 mit der zwangsweisen Öffnung Japans. 1862 werden auf der Weltausstellung in London erstmals japanische Kunstwerke, auch Manga-Bände, in grösserer Zahl gezeigt, auf der Weltausstellung 1867 in Paris ist Japan bereits mit einem eigenen Pavillon vertreten. Der japanische Stil fasziniert Künstler, Kunsthandwerker und Designer in ganz Europa, und die Weltausstellung 1873 in Wien entfacht auch dort eine allgemeine Japanbegeisterung und macht den Farbholzschnitt in der Wiener Secession populär.
Die Kunst des Holzschnitts hatte im 15. Jahrhundert in Europa mit Dürer ihren ersten Höhepunkt erreicht, und ist im Buchdruck durchgehend von Bedeutung, gerät aber als Kunstform in Vergessenheit, bis sie Gauguin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für sich wiederentdeckt. Aber erst im Zuge des Japonismus beginnen sich zahlreiche weitere Künstler wie Henri Rivière, Félix Vallotton, Peter Behrens, Emil Orlik, Bernhard Pankok, Walter Klemm, Ernst Neumann, Siegfried Berndt u.v.a. im grossen Stil mit der fernöstlichen Formensprache, Bild- und Farbkomposition auseinanderzusetzen – allesamt sind im HVM zu sehen.
Besonders Künstlerinnen fasziniert die Herstellung von Mehrplatten-Vielfarben-Holzschnitten nach japanischem Vorbild, so dass manchmal auch von „Frauenkunst“ die Rede war. Von nicht allen Künstlerinnen, wie etwa Lilly Ehrenberg-Teufel, die mit ihrer Komposition Zwiegespräch maximale Reduktion, höchste Spannung und Konzentration von beeindruckender künstlerischer Qualität erreichte, vergleichbar mir Cunz’ Auf der Lauer (1909), weiss man etwas über ihr Leben. Anders im Fall Martha Cunz, die zwischen 1902 und 1927 ein in seiner Geschlossenheit einzigartiges Holzschnittwerk schuf. Obwohl viel über die Künstlerin bekannt ist, gibt es auch in ihrem Werk noch einiges zu erforschen, vor allem was die grossartigen, kontrastarmen, flächigen Ton-in-Ton-Werke angeht wie Am Bergsee (1903/4), Grauer Tag am Melchsee (1904) und auch der Niesen im Schnee, die bislang erstaunlich wenig Beachtung fanden.

 

 

Kunst für alle. Ausstellungstipps
Das Historische und Völkerkundemuseum St. Gallen besitzt eine beachtliche Anzahl japanischer Farbholzschnitte, einige Schlüsselgrafiken des Jugendstils, wie Drei Schwäne auf dunklem Gewässer von Otto Eckmann, Der Kuss von Peter Behrens oder Der Polster von Max Kurzweil sowie das gesamte graphische Werk der St. Galler Holzschneiderin Martha Cunz samt der dazugehörigen Holzstöcke. Daniel Studer, Direktor des HVM, hat seine Dissertation dem Werk von Martha Cunz gewidmet. Diese Voraussetzungen bildet den Grundstock der rund 200 Exponate umfassenden Ausstellung „Faszination Farbholzschnitt. Japan – Europa – Schweiz“, die auch das künstlerische Umfeld der St. Gallerin ausgiebig würdigt, so dass die vielfältigen gegenseitige Einflüsse und Wechselbeziehungen zwischen den Werken verschiedener Künstler der Epoche sichtbar werden. Bis zum 5. März 2017 ist „Faszination Farbholzschnitt“ im HVM St. Gallen zu sehen, später wird sie im Kunsthaus Solothurn und im Kunstmuseum Spendhaus in Reutlingen gezeigt.

 

 

Katalog zur Ausstellung:
Daniel Studer, Faszination Farbholzschnitt.

Der japanisierende Farbholzschnitt als Kunstform des Jugendstils.

Mit einem Katalog der Holzschnitte von Martha Cunz.

276 Seiten. VGS St. Gallen, CHF 48. 48 €.

 

 

Die Albertina in Wien widmet sich noch bis 15. Januar 2017 dem Thema „Kunst für alle. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900“. Wie München ist Wien um 1900 ein Schmelztiegel der Kulturen und Künste. Die Künstlervereinigung Secession beschreitet neue Wege und entwickelt sich rasch zur Keimzelle des Wiener Jugendstils. Deren prominente Vertreter – Carl Moll, Emil Orlik, Koloman Moser, Ludwig Heinrich Jungnickel u.a. – entdecken den Farbholzschnitt als Ausdrucksform der Jugendstilgraphik. Etwa 100 Exponate aus der eigenen Sammlung sind in der Albertina zu sehen. Zuvor wurde die Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt gezeigt. Der grossformatige Katalog ist ein absolutes Bijou der Jugendstilgrafik und erweitert den Blick auf die Kunst des Farbholzschnitts um 1900-1920 aufs Famoseste.

Katalog zur Ausstellung:
Tobias G. Natter, Max Hollein, Klaus Albrecht Schröder, Art for All. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900. Deutsch, englisch, französisch, 416 Seiten. Taschen, 49.99 €. CHF 69.90.

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